25.01.2023 Pro Asyl blickt zurück auf das Regierungshandeln im Jahr 2022 und formuliert die Erwartungen für das begonnene Jahr. Wir zitieren
2023: Regierung muss flüchtlingspolitische Verbesserungen aus Koalitionsvertrag umsetzen
Vor mehr als einem Jahr schloss die Ampel ihren Koalitionsvertrag. Nachdem PRO ASYL den Vertrag zunächst als ermutigendes Zeichen begrüßt hatte, wächst nun die Besorgnis, dass die Bundesregierung die Rechte schutzsuchender Menschen bei Bedarf relativieren könnte. Ein kurzer flüchtlingspolitischer Rückblick auf 2022 und Ausblick auf 2023.
Das neue Jahr ist mit einer wichtigen neuen Regelung gestartet: Dem Chancen-Aufenthaltsrecht für in Deutschland langjährig geduldete Menschen (hier geht es zu den Beratungshinweisen von PRO ASYL). PRO ASYL hatte sich für eine stichtagsunabhängige und verstetigte Regelung eingesetzt, das war jedoch nicht zu erreichen. Erreicht wurde jedoch, dass der zunächst geplante Stichtag verschoben wurde, wodurch nun mehr Menschen Zugang zum Chancen-Aufenthaltsrecht haben. Auch eine Verlängerung wurde im Bundestag beschlossen: Die Betroffenen haben jetzt 18 statt zwölf Monate Zeit, um die Voraussetzungen für das daran anschließende Bleiberecht zu erfüllen.
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Gleichzeitig wurde im parlamentarischen Verfahren jedoch leider eine wichtige Bleiberechtsbestimmung deutlich verschärft. Gut integrierte Jugendliche und junge Erwachsene müssen nun ein Jahr lang in der prekären Duldung ausharren, bevor sie ein Bleiberecht bekommen können. Damit wurde den Ausländerbehörden ein Jahr Zeit verschafft, diese jungen Menschen abzuschieben. Das bedeutet: ein Jahr Angst vor der Abschiebung anstelle der Chance, sich weiter zu integrieren.
Migrationspaket II: Verbesserungen beim Familiennachzug müssen kommen
Zudem kritisiert PRO ASYL an dem Gesetz zum Chancen-Aufenthaltsrecht, dass geplante Verbesserungen wie die Abschaffung von Arbeitsverboten und der »Duldung Light« sowie eine Identitätsklärung per Versicherung an Eides statt nicht in den neuen Regelungen verankert wurden.
Diese sollen nun im angekündigten Migrationspaket II kommen, das im ersten Quartal 2023 erwartet wird. In diesem sollen auch die dringend notwendigen Verbesserungen beim Familiennachzug enthalten sein, für die sich PRO ASYL seit Jahren einsetzt. Es geht um die im Koalitionsvertrag versprochene Wiederherstellung des Anspruchs auf Familiennachzug für Menschen mit subsidiärem Schutz (dazu gehören viele vor dem Bürgerkrieg geflohene Syrer*innen oder Menschen aus Eritrea) und den Geschwisternachzug. Hier wird PRO ASYL in den kommenden Wochen und Monaten Druck machen, dass der Koalitionsvertrag positiv und praxisgerecht umgesetzt wird!
Sie gehen weiter: Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen
Auch im Jahr 2023 erreichen immer wieder Berichte über heftige Menschenrechtsverletzungen die Öffentlichkeit, Mitte Januar zum Beispiel Berichte über die Inhaftierung von Geflüchteten in Unterdecks und Verschlägen auf Fähren, mit denen sie illegal von Italien nach Griechenland zurück gebracht werden.
2022 hatte es eine Reihe von ähnlich erschreckenden Berichten gegeben. In Bulgarien zum Beispiel wurde laut Medienberichten im Oktober auf einen jungen syrischen Flüchtling geschossen. Der Innenminister des Landes dementierte. Forensische Untersuchungen belegen jedoch, dass die Gewehrschüsse wahrscheinlich aus Richtung des bulgarischen Grenzzauns kamen.
Auf der Flucht gestorben
PRO ASYL arbeitet seit Jahren mit europäischen Partnern zusammen gegen Pushbacks und unterstützt dabei auch Überlebende, zu ihrem Recht zu kommen. Dies gilt zum Beispiel für diesen Fall: In Griechenland starb der schwer erkrankte Akram Abdulkadir im Juli 2022 qualvoll. Sicherheitskräfte verweigerten ihm nicht nur jegliche medizinische Hilfe, sondern misshandelten ihn sogar in einem Haftlager. Er starb in den Armen seines Bruders Hassan in einem Transporter auf dem Weg zum Grenzfluss Evros. Hassan wurde gewaltsam in die Türkei zurückgewiesen, Akrams Leiche in den Fluss geworfen. Mit Unterstützung von PRO ASYL hat Hassan Anzeige in Griechenland erstattet.
Diese Gewalttaten durch EU-Mitgliedstaaten gegen Flüchtlinge müssen gestoppt werden. »Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.« Dieses Versprechen aus dem Koalitionsvertrag wurde bislang nicht ansatzweise umgesetzt. Die von PRO ASYL seit Jahren kritisierte Tatenlosigkeit dauert an. Ein deutliches »Nein« der Bundesregierung wäre dringend erforderlich, um das tödliche »Weiter so« an den Außengrenzen zu stoppen.
Pläne der EU zur weiteren Entrechtung zunächst verhindert.
Das Jahr 2023 könnte ein entscheidendes Jahr für den Reformprozess des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems werden. Denn in einer gemeinsamen Roadmap haben sich das Europäische Parlament und die abwechselnden Präsidentschaften des Rats der EU, also die Vertretung der Mitgliedstaaten, darauf geeinigt, bis zu den nächsten EU-Parlamentswahlen (Frühjahr 2024) die Reform durchzubringen. Das Problem: Die Vorschläge des »New Pact on Migration and Asylum« untergraben das Recht auf Asyl und setzen mit Asylverfahren unter Haftbedingungen an den Außengrenzen auf ein Rezept, dass zum Scheitern verurteilt ist. Die absehbaren Konsequenz wäre, dass es den Schutzsuchenden in Europa kaum noch möglich wäre, Schutz zu erreichen – und wenn, dann unter unwürdigen und unfairen Bedingungen.
Auch wenn noch vieles offen scheint bei den Verhandlungen um den Pakt, etwas Bewegung hat es im vergangenen Jahr leider schon gegeben: Am 22. Juni 2022 stimmte die Bundesregierung im Rat bereits der Brüsseler »Screening-Verordnung« zu. Diese erlaubt, Schutzsuchende für fünf bis zehn Tage an der Grenze festzusetzen, in denen sie als »nicht eingereist« gelten. Nun wird mit dem Europäischen Parlament dazu verhandelt werden.
Erfolg gegen katastrophalen Vorschlag
Am 8. Dezember 2022 sollte mit der Verabschiedung der sogenannten »Instrumentalisierungsverordnung« durch den Rat für Justiz und Inneres der EU eine weitere Verschärfung durchgesetzt werden. PRO ASYL hat in Bündnissen mit europäischen und deutschen zivilgesellschaftlichen Organisationen massiv gegen diese Unterwanderung der Menschenrechte und des Flüchtlingsschutzes interveniert. »Europäisches Recht muss wieder angewendet werden – die vorgelegte Verordnung verbiegt aber das Recht und gibt so denen, die es derzeit an den Außengrenzen brechen, recht«, heißt es in dem Statement von 35 zivilgesellschaftlichen Organisationen zur Instrumentalisierungsverordnung vom 6. Dezember 2022.
Mit Erfolg: Die Abstimmung wurde in letzter Minute verhindert. Doch die Gefahr ist damit nicht gebannt, ähnliche Vorschläge werden weiter diskutiert. PRO ASYL appelliert nach wie vor eindringlich an die Bundesregierung, sich gegen jeden Schritt zur Abschaffung der Menschen- und Flüchtlingsrechte auf EU-Ebene zu stellen.
Aufnahmeprogramm für Menschen aus Afghanistan hat Mängel
Der Start des im Koalitionsvertrag angekündigten Bundesaufnahmeprogramms für Schutzsuchende aus Afghanistan macht Hoffnung. Nicht nachvollziehbar sind jedoch die extrem geringe Zahl von nur 1.000 Menschen im Monat sowie ein Auswahlverfahren, das auf einem Algorithmus basiert und individuelle Fallkonstellationen nicht ausreichend berücksichtigt. Hinzu kommen Restriktionen gegenüber Menschen, die aufgrund ihrer akuten Gefährdung bereits seit August 2021 in Nachbarländer Afghanistans geflohen sind, um ihr Leben zu retten. Sie werden im Bundesaufnahmeprogramm von den deutschen Behörden bei der Vergabe von Einreise-Erlaubnissen ausgeschlossen.
Und so harren entgegen den Zusicherungen der deutschen Bundesregierung weiterhin Zehntausende Menschen in Afghanistan unter Lebensgefahr aus, die wegen ihres Engagements für Demokratie und Freiheit stark gefährdet sind. Auch beim Familiennachzug und der Reform des Ortskräfteverfahrens gibt es keine wesentlichen Fortschritte.
Gleiche Menschen – Gleiche Rechte
Mit der Botschaft »Gleiche Menschen – Gleiche Rechte« hat PRO ASYL im Jahr 2022 auf die ungleiche Situation Geflüchteter aufmerksam gemacht. PRO ASYL ist dankbar, dass den Menschen aus der Ukraine unbürokratisch Schutz gewährt wurde. Aber nach wie vor gilt: Wir dürfen diejenigen nicht vergessen, die ebenso vor Gewalt und Entrechtung fliehen, zum Beispiel aus Syrien, Irak, Afghanistan, Türkei, Eritrea oder Iran. Auch sie haben unveräußerliche Rechte. Auch sie dürfen an der EU-Grenze nicht gewaltsam zurückgedrängt werden. Auch sie haben Anspruch darauf, ihr Recht auf Schutz und Asyl wahrnehmen zu können!
Kampf gegen Rassismus muss weitergehen
Hinter der Ungleichbehandlung Schutzsuchender verbergen sich immer wieder auch rassistische Motive. Dies macht PRO ASYL große Sorgen, auch im Zusammenhang mit Gewalterfahrungen, die Asylsuchende in Deutschland machen. Erhebungen des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) zeigen: Die Zahl rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalttaten bleibt hoch.
»Gleiche Menschen – Gleiche Rechte« ist eine Botschaft, die ein deutliches Zeichen setzt. PRO ASYL wird sich auch 2023 für die Rechte von allen Schutzsuchenden in Europa einsetzen!
(kb, wj)