04.04.2022 Einen scharfen Kontrast bei der Aufnahme und in der Behandlung Schutzsuchender prangert Pro Asyl an.
"Freie Wahl des Schutzlandes für Geflüchtete aus der Ukraine" stehen dem "Zwangssystem der Dublin-Verordnung" gegenüber, das für alle anderen Geflüchteten gilt. Die Forderung Freie Wahl des Schutzlandes wird von Menschenrechtsorganisationen schon lange erhoben, sie muss nun konsequent für alle gelten.
Das Resumee: Während die ganze Welt auf die Ukraine schaut, wird in Brüssel weiter über den »New Pact on Migration and Asylum« verhandelt, der das bestehende europäische Asylrecht reformieren soll. Doch bislang sehen die diskutierten Vorschläge zu einer Asyl-und Migrationsmanagement-Verordnung keine grundsätzliche Abkehr vom Dublin-System oder schnellere Freizügigkeit vor. Dass dies notwendig wäre macht die aktuelle Situation mehr als deutlich – und auch, dass es tatsächlich möglich ist!"
Freie Wahl für die einen, Dublin-Zwang für die anderen?
Im Zuge der Flucht aus der Ukraine geht die EU in der europäischen Flüchtlingspolitik aktuell neue Wege, die vor wenigen Wochen noch für viele Politiker*innen undenkbar waren. Die freie Wahl des Schutzlandes wird von Menschenrechtsorganisationen schon lange gefordert, sie muss nun konsequent für alle gelten.
Seit mehr als vier Wochen herrscht Krieg in der Ukraine – und die europäische Flüchtlingspolitik steht Kopf. Während größere Entscheidungen im Bereich Asyl und Migration nach 2015 in der Europäischen Union jahrelang nicht möglich waren, einigten sich die zuständigen Innenminister*innen am 3. März 2022 einstimmig (!) auf die erstmalige Anwendung der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, auch bekannt als Massenzustromsrichtlinie (mehr dazu hier).
Freie Wahl des Schutzlandes für Geflüchtete aus der Ukraine
Die Anwendung der Richtlinie führt zu schnellem Schutz für Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind (zur genauen Anwendung und Praxishinweisen siehe hier). Der Ratsbeschluss regelt darüber hinaus aber auch eine neue Praxis, nämlich dass Ukrainer*innen sich das Land, in dem sie vorübergehenden Schutz erhalten, selbst aussuchen können.
Im Erwägungsgrund 16 des Ratsbeschlusses steht hierzu:
»Darüber hinaus haben ukrainische Staatsangehörige als von der Visumpflicht befreite Reisende das Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen, nachdem ihnen die Einreise in deren Gebiet für einen Zeitraum von 90 Tagen gestattet wurde. Auf dieser Grundlage können sie den Mitgliedstaat wählen, in dem sie die mit dem vorübergehenden Schutz verbundenen Rechte in Anspruch nehmen wollen, und ihrer Familie und ihren Freunden in den derzeit in der Union bestehenden beachtlichen Diaspora-Netzwerken nachziehen. Dies wird in der Praxis eine ausgewogene Verteilung der Belastungen zwischen den Mitgliedstaaten erleichtern und so den Druck auf die nationalen Aufnahmesysteme verringern.«
Beim Sondertreffen der europäischen Innenminister*innen am 28. März präsentierte die Kommission gemeinsam mit der französischen Ratspräsidentschaft einen 10-Punkte-Plan für eine stärkere Koordinierung, um vor dem Krieg in der Ukraine fliehende Menschen willkommen zu heißen. Um die aktuell besonders betroffenen Mitgliedstaaten mit Grenze zur Ukraine zu unterstützen, wird über eine sogenannte Solidaritätsplattform der Bedarf an Unterbringungsplätzen kommuniziert. Weniger betroffenen Mitgliedstaaten melden ihre Angebote. Letztlich beruht das System aber weiter auf der Grundannahme, dass die fliehenden Menschen sich ihren Schutzort selbst aussuchen können – sie nur über Informationen über Unterbringungsmöglichkeiten oder Transportwege hierbei unterstützt werden.
Kontrast: Zwangssystem der Dublin-Verordnung
Dies steht im scharfen Kontrast zu den sonstigen Regelungen der europäischen Flüchtlingspolitik. Denn laut der sogenannten Dublin-III-Verordnung sind Personen, die einen Asylantrag stellen, verpflichtet, dies in dem Mitgliedstaat zu tun, in den sie als erstes einreisen. Die allermeisten Menschen auf der Flucht können sich also nicht aussuchen, ob sie in Frankreich, Schweden oder Deutschland einen Asylantrag stellen und später leben möchten.
Sie müssen den Antrag stattdessen direkt nach Einreise stellen – und da es kaum legale Einreisemöglichkeiten und Visa für Fliehende gibt, müssen sie dies meist in einem Mitgliedstaat an einer EU-Außengrenze wie Griechenland oder Italien tun, den sie zum Beispiel per Boot erreichen können.
Das führt nicht nur zu einem unfairen Ungleichgewicht an Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zu viel Leid und Frustration bei den Menschen. Denn zum einen sind die Bedingungen gerade in den Mitgliedstaaten mit Außengrenze sehr schlecht für Asylsuchende und Flüchtlinge (siehe zu den Bedingungen in Griechenland hier), zum anderen drohen bei entsprechender Weiterflucht innerhalb Europas Rückführungen in den zuständigen Mitgliedstaat.
Deutschland hat 2021 zum Beispiel 2.656 Menschen entsprechend der Dublin-III-Verordnung in andere EU-Mitgliedstaaten gebracht. Das ist sogar nur ein Bruchteil der eigentlich zugestimmten Überstellungen, denn im letzten Jahr stimmten die anderen Mitgliedstaaten insgesamt 18.429 Überstellungen aus Deutschland zu. Nach Deutschland wurden 2021 4.274 Menschen überstellt.
Mit Ausnahme von Familienzusammenführungen mit Ehepartner*innen oder Kindern werden andere familiäre Verbindungen, Freundschaften, Kontakte oder andere Anknüpfungspunkte – wie zum Beispiel Sprachkenntnisse, Ausbildungs- und Arbeitschancen – überhaupt nicht berücksichtigt.
Zivilgesellschaftliche Forderung seit 2013: Free Choice!
Das Dublin-System steht aufgrund dieser Probleme schon lange in der Kritik. Anstatt schutzbedürftigen Menschen schnell in Europa Schutz zu bieten, verzögert es bei Weiterreise den Zugang zu Schutz oft über Monate.
Schon im März 2013 hat PRO ASYL deswegen gemeinsam mit AWO – Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V., Der Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V., Deutscher Anwaltverein, Diakonie Deutschland, Jesuiten-Flüchtlingsdienst und Neue Richtervereinigung e.V. in einem Memorandum zur Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union folgendes gefordert:
»Um ein gerechtes und solidarisches System der Aufteilung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in der Europäischen Union zu etablieren, das gleichzeitig die Anliegen der Flüchtlinge berücksichtigt, ist ein Systemwechsel erforderlich. Das Prinzip der »freien Wahl des Mitgliedstaates« für Asylsuchende verbunden mit einem europäischen Ausgleichfonds, der auf solidarischen und gerechten Grundsätzen beruht, bietet eine Lösung, mit der die aufgezeigten Strukturfehler abgebaut werden können.« (S. 7 des Memorandums)
Diese Forderungen wurden auch in die verschiedenen Versuche von Reformprozessen des »Gemeinsamen Europäischen Asylsystems« eingebracht. Doch bislang beharrten die Europäische Kommission und die meisten Mitgliedstaaten darauf, dass entweder an dem Ersteinreisekriterium festgehalten werden soll oder dass es feste Verteilungsquoten geben sollte.
So manche bisherigen Glaubensgrundsätze vieler europäischer Regierungen in der Flüchtlingspolitik scheinen mit Blick auf die Flucht aus der Ukraine über Bord geworfen zu sein.
Ebenso wichtig: Freizügigkeit nach Schutzstatus
Doch die freie Wahl des Mitgliedstaats, in dem Geflüchtete Schutz bekommen wollen, ist nur der erste wichtige Schritt. Die nächste entscheidende Frage ist, inwieweit Freizügigkeit nach der Anerkennung gewährleistet ist.
Unionsbürger*innen können in jedem Land der Europäischen Union wohnen und arbeiten so lange sie wollen. Das ist durch die Niederlassungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die zu den Grundfreiheiten der Europäischen Union zählen, sichergestellt. Doch für Menschen, die im Asylverfahren einen Schutzstatus zugesprochen bekommen, gilt dies nicht. Mit dem Aufenthaltstitel, den sie bekommen, können sie zwar für drei Monate innerhalb von sechs Monaten im Schengen-Raum reisen, sie können sich aber nicht darüber hinaus niederlassen und arbeiten.
Erst nach fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt in einem EU-Mitgliedstaat und wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt in der EU erteilt werden, über den man auch eine Aufenthaltserlaubnis in einem anderen Mitgliedstaat bekommen kann (siehe hierzu die Broschüre vom Paritätischen Gesamtverband). Wenn eine Person entgegen dieser Regelungen doch versucht, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, kann es zu innereuropäischen Abschiebungen kommen. Damit ist es für das spätere Leben in der Europäischen Union entscheidend, in welchem Mitgliedstaat man seinen Asylantrag stellen muss.
Vorübergehender Schutz: Keine innereuropäischen Abschiebungen
Für aus der Ukraine geflohene Menschen, die den vorübergehenden Schutz bekommen, gelten zunächst einmal ähnliche Regeln. Der Ratsbeschluss hält hierzu fest:
»Sobald ein Mitgliedstaat einen Aufenthaltstitel nach der Richtlinie 2001/ 55/EG erteilt hat, hat die Person, die vorübergehenden Schutz genießt, zwar das Recht, 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen in der Union zu reisen, sollte aber die Rechte, die sich aus dem vorübergehenden Schutz ergeben, nur in dem Mitgliedstaat geltend machen können, der den Aufenthaltstitel erteilt hat. Dies sollte einem Mitgliedstaat nicht die Möglichkeit nehmen zu beschließen, Personen, die nach diesem Beschluss vorübergehenden Schutz genießen, jederzeit einen Aufenthaltstitel zu erteilen.« (Erwägungsgrund 16)
Allerdings soll es laut dem Ratsbeschluss nicht zu innereuropäischen Abschiebungen kommen, denn die Mitgliedstaaten haben sich darauf geeignet, Artikel 11 der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, der Abschiebungen ermöglicht, nicht anzuwenden (Erwägungsgrund 15 des Ratsbeschlusses). Also weniger Zwang, aber weiterhin bei Weiterreise keine Rechte? Wie sich dies genau gestalten wird, bleibt wohl abzuwarten, da auch die politischen Entscheidungen weiterhin dynamisch sind.
Aus der aktuellen Situation lernen: Das Zwangssystem Dublin endlich abschaffen!
So manche bisherigen Glaubensgrundsätze vieler europäischer Regierungen in der Flüchtlingspolitik scheinen mit Blick auf die Flucht aus der Ukraine – die besonders offensichtlich macht, dass starre Systeme wie das Dublin-System nicht funktionieren – über Bord geworfen zu sein.
Die Erkenntnis, dass es viele Vorteile bringen kann, wenn schutzsuchende Menschen sich ihren Schutzort selbst aussuchen können, muss nun aber insgesamt in der europäischen Asylpolitik adaptiert werden. Während die ganze Welt auf die Ukraine schaut, wird in Brüssel weiter über den »New Pact on Migration and Asylum« verhandelt, der das bestehende europäische Asylrecht reformieren soll. Doch bislang sehen die diskutierten Vorschläge zu einer Asyl-und Migrationsmanagement-Verordnung keine grundsätzliche Abkehr vom Dublin-System oder schnellere Freizügigkeit vor. Dass dies notwendig wäre macht die aktuelle Situation mehr als deutlich – und auch, dass es tatsächlich möglich ist!
(wj)