24.04.2023 Wir zitieren aus den News von Pro Asyl
Frauen auf der Flucht: »Niemand hat mich gefragt, wie es mir geht«
Derya* ist eine junge Frau aus dem Nordirak. Als sie mit ihrem Mann im Oktober 2021 Deutschland erreicht, ist sie schwanger, geschwächt und traumatisiert. Sieben Wochen nach ihrer Ankunft verliert sie ihr Kind. Deryas Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die mangelnde Identifizierung und Versorgung vulnerabler Menschen im deutschen Aufnahmesystem.
Die 22-jährige Derya* kommt im Herbst 2021 zusammen mit ihrem Mann Rojhan* in Nordrhein-Westfalen an. Von ihren Erlebnissen haben die beiden PRO ASYL im Interview** berichtet. Sie sind vor persönlichen Attacken aus dem Nordirak geflüchtet. In NRW lebt Deryas Tante mit ihrer Familie. Seit Jahren pflegen die Frauen ein intensives Verhältnis per Handy, und Derya sucht nun, in Deutschland, die Nähe der vertrauten Verwandten. Die Flucht gelang ihnen über das belarussisch-polnische Grenzgebiet. Bis sie es nach Deutschland schafften, mussten sie prügelnde, korrupte Soldaten erleben und einen anstrengenden Fußmarsch durch den nächtlichen Wald ohne Essen und Trinken durchstehen, anschließend eine rund 13-stündige Fahrt in einem überfüllten, dunklen Transporter, in dem sie Angst hatten, zu ersticken. Als sie ankommen, ist die schwangere Derya am Ende ihrer Kräfte und in großer Sorge um ihr Kind. Die Ankunft in Deutschland ist hingegen nicht das gute Ende einer Flucht, sondern eine Fortsetzung der Zumutungen.
Ankunft im System
»Wir waren zuerst drei, vier Stunden bei der Asylstelle, wegen der Daten und Fingerabdrücke. Mein Mann hat gleich gesagt: Meiner Frau geht’s nicht gut, sie fühlt sich sehr schwach und elend, sie muss behandelt werden. Sie ist schwanger und verliert ein bisschen Blut. Da kam jemand zu uns. Ob das eine Ärztin war, weiß ich nicht. Wir sprachen in einer Ecke des Warteraums. Ich konnte mich nicht gut ausdrücken, weil der Dolmetscher ein Mann war und weil er zwar Kurdisch sprach, aber nicht unseren Dialekt. Er hat irgendwann gesagt, ihr werdet weitergeleitet nach Bielefeld, dort wirst du behandelt.«
So schildert Derya den ersten Behördenkontakt. Derya und Rojhan werden vorläufig in der Erstaufnahme in Nordrhein-Westfalen untergebracht. Für eine Woche, heißt es, am Ende sind es neun Tage. Zwischendurch führt ein – irrtümlich als positiv erkannter – Coronatest zu einer dreitägigen Zimmer-Isolation. Derya, die unter starker Übelkeit leidet, erbricht das Fertigessen, das ihr in Styropor-Verpackung gebracht wird, isst und trinkt danach kaum. Eine ärztliche Untersuchung bleibt in diesen ersten Tagen aus. »In Bielefeld habe ich keinen Arzt gesehen. Niemand hat gefragt, wie es mir geht.«
Derya ist zu diesem Zeitpunkt einem Bundesland noch nicht verbindlich »zugewiesen« – mit der Folge, dass sich offenbar niemand dafür verantwortlich fühlt, festzustellen, ob sie akut Unterstützung braucht. Dabei sind die Bundesländer verpflichtet, bei der Aufnahme von Geflüchteten »besondere Bedürfnisse« zu erkennen und zu berücksichtigen. Dies gibt EU-Aufnahmerichtlinie (2013/33/EU) in Artikel 22ff. vor. Schwangere Frauen gelten nach Artikel 21 der Richtlinie ebenso als »Personen mit besonderen Bedürfnissen« wie traumatisierte oder von Gewalt betroffene Menschen und andere. Doch in der Praxis findet häufig keine systematische Erfassung der besonderen Bedürfnisse Geflüchteter statt.
Dagegen kümmert sich Deryas Tante rund um die Uhr. Sie reist an und holt ihre Verwandten stundenweise in ihre kleine Wohnung, spricht immer wieder mit den Behörden. Sie bittet darum, man möge ihre Nichte und deren Mann in der Nähe unterbringen. Die Tante zeigt ihren deutschen Pass vor, sagt, sie könne übersetzen und sich um die Nichte kümmern, die schwanger, krank und nervlich am Ende sei. Aber so funktioniert die »Verteilung« von Asylsuchenden auf die Bundesländer nicht. Ein Landesbediensteter gibt die Daten ins Computerprogramm »EASY« ein. Dort sind das Herkunftsland und die aktuellen Aufnahmequoten der Länder wichtig. Die Wünsche der Betroffenen dagegen, der aktuelle Aufenthaltsort, Versorgung oder verwandtschaftliche Bezüge spielen keine Rolle. Per Computerklick werden Derya und ihr Mann dem Land Hessen zugewiesen. Die beiden sollen in einen Bus nach Gießen steigen.
Aber so funktioniert die »Verteilung« von Asylsuchenden auf die Bundesländer nicht. […] Die Wünsche der Betroffenen dagegen, der aktuelle Aufenthaltsort, Versorgung oder verwandtschaftliche Bezüge spielen keine Rolle.
Die Aufnahmeeinrichtung ist ein Schock
Die hessische Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen ist im Herbst 2021 völlig überfüllt. Derya und Rojhan sind schockiert: »In unserem Schlafsaal waren noch zwei Familien mit Kindern. Das Licht funktionierte nicht, es gab keine Stühle, es stank wegen der vielen Leute in dem Raum, wir bekamen anfangs nicht einmal ein Kopfkissen. »Das kommt noch«, sagte man uns. Da haben wir unsere Jacken zusammengerollt und darauf geschlafen.«
Auch in Gießen bitten Derya und Rojhan umgehend um Hilfe: »… Wir [haben] der Sozialberaterin gleich gesagt, dass ich schwanger bin und es mir gar nicht gut geht. Sie sagte, erst einmal nehmen wir alle Daten auf, Sie bekommen einen Ausweis, es dauert, bitte warten Sie. Es gebe einen medizinischen Dienst auf dem Gelände, irgendwann würde dort mein Name und ein Termin ausgehängt.«
Das Asylgesetz sieht eine Gesundheitsuntersuchung von Asylsuchenden vor – Zielrichtung dabei ist aber weniger die Fürsorge für die geflüchteten Menschen als vielmehr die öffentliche Infektionskontrolle. In § 62 Abs. 1 AsylG heißt es:
»Ausländer, die in einer Aufnahmeeinrichtung oder Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen haben, sind verpflichtet, eine ärztliche Untersuchung auf übertragbare Krankheiten einschließlich einer Röntgenaufnahme der Atmungsorgane zu dulden.«
Ein Anspruch auf Krankenbehandlung besteht nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, insbesondere auch auf Vorsorgeuntersuchungen für Schwangere. Das Schutzkonzept der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen legt ausdrücklich fest: »Frauen, insbesondere Schwangere und Alleinreisende, mit und ohne Kinder, werden in der Erstaufnahmeeinrichtung besonders geschützt« und zählt diverse Maßnahmen von separierter Unterbringung, sensibilisierten Ansprechpartnerinnen und andere Angebote auf (S.6). Für die Identifizierung komme der »medizinischen Untersuchungs- und Versorgungspassage« besondere Bedeutung zu: »Im Rahmen der Erstuntersuchung identifiziert das medizinische Personal schutzbedürftige Personen, erkennt notwendige individuelle Bedarfe und stellt eine bedarfsgerechte Unterstützung sicher.« (S.12) Der deutliche Hinweis von Derya nach ihrer Ankunft reichte allerdings nicht aus, um schnelle medizinische Hilfe zu erhalten.
Am Mittag des zweiten Tages in Gießen bricht Derya zusammen. Sie wird mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Es ist der 12. Tag ihres Aufenthalts in Deutschland. Bis zu diesem Zeitpunkt hat keine medizinische Erstuntersuchung, geschweige denn eine besondere Erkennung und Behandlung ihrer Vulnerabilität stattgefunden.
»Nur hinter dem Zaun behandeln sie uns schlecht«
Rojhan beschreibt, wie sie sich in der Erstaufnahmeeinrichtung fühlen: »Außerhalb der Camps sind die Menschen anders. Nur hinter dem Zaun behandeln sie uns schlecht.« Das Krankenhaus ist im Vergleich zur Aufnahmeeinrichtung eine Wohltat für Derya:
»Im Krankenhaus fühlte ich mich fast wie eine VIP. Ich lag in einem richtigen Bett, ich wurde dort auch sehr gut behandelt. Da hab ich gedacht, okay, hier bin ich endlich in Deutschland.«
Die Uniklinik diagnostiziert unter anderem eine bakterielle Infektion und eine Posttraumatische Belastungsstörung. Fünf Tage bleibt sie im Krankenhaus, dann wird Derya entlassen und muss zurück in die Aufnahmeeinrichtung. Mit Mühe gelingt es Rojhan, aus dem katastrophalen Schlafsaal heraus »verlegt« zu werden: Das kleine Zimmer für Rojhan und Derya ist nicht abschließbar. Es liegt im vierten Stock, einen Aufzug gibt es nicht.
Die Fehlgeburt
Wenige Wochen nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenhaus erleidet Derya in der Erstaufnahmeeinrichtung unter dramatischen Umständen eine Fehlgeburt.
»… dann [ist] die Fruchtblase geplatzt. Das war furchtbar. Ich hatte meine Tante am Telefon, sie schrie, ich solle mich hinlegen, nicht aufstehen, auf den Krankenwagen warten. Mein Mann ist runter aus unserem Zimmer aus dem vierten Stock, um Hilfe zu holen. Aber der Security-Mann sagte erst, er dürfe keinen Notarztwagen rufen. Er hat dann erst seinen Chef gefragt und dann den medizinischen Dienst gerufen. Sie kamen zu zweit. Ich lag auf dem Bett und hatte starke Schmerzen, Blut und Wasser lief an mir herunter. Sie haben zu mir gesagt: Gehen Sie die Treppen runter, sie müssen erst zur Untersuchung zu uns. Meine Tante sagte immerzu, bleib liegen. Ich schrie die Leute an: Ich kann nicht gehen, ich kann nicht, ich spüre das Baby schon.«
Deryas Tante weiß, dass Schwangeren bei vorzeitigem Blasensprung dringend zu einem Transport im Liegen geraten wird, doch ihre verzweifelten Versuche, über das Telefon Einfluss zu nehmen, scheitern. Auch die Bitte Rojhans um eine Trage ist vergeblich.
»Mein Mann hat mich dann gestützt und wir sind vier Stockwerke runter, ich habe geblutet und konnte kaum laufen, das halbe Haus hat zugesehen. Unten sollte ich in ein Auto einsteigen, obwohl ich die Beine vor Schmerzen nicht schließen konnte, so wurde ich dann zum medizinischen Dienst gefahren. Erst dort haben sie mich untersucht und dann den Notarztwagen gerufen.
Im Krankenhaus kam ich sofort in den OP. Danach haben sie mir das tote Baby auf den Bauch gelegt. Es war ein großer Schock. Mein Mann hat geweint am Telefon. Erst nach vier Stunden durfte er zu mir kommen. Es war ein Junge. Er hat schon alles gehabt, Kopf, Hände, Füße, Ohren.«
Nach der Fehlgeburt: Zurück ins Lager
Derya und Rojhan dürfen nach dem Tod ihres Kindes die Tante in NRW besuchen und entfliehen so für einige Tage der Aufnahmeeinrichtung. Dann müssen sie zurück. Bei PRO ASYL meldet sich eine lokale Unterstützerin von Derya. Eine Rechtsanwältin wird beauftragt. Sie stellt wegen der Vorkommnisse bei der Fehlgeburt eine Strafanzeige, das Ermittlungsverfahren ist derzeit noch anhängig. Der Institution ein konkretes medizinisches Fehlverhalten nachzuweisen, ist schwierig. Die Rechtsanwältin übernimmt auch die Betreuung im Asylverfahren.
»Ich war mehrmals beim medizinischen Dienst, die Ärztin habe ich kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.« Derya*
Ein paar Mal geht Derya dann noch zum medizinischen Dienst, um dort die vom Krankenhaus verschriebenen Medikamente zu erhalten. Dort herrscht Corona-Vorsorge.
»Das Gebäude des medizinischen Dienstes war abgezäunt. Wenn ich einen Termin hatte, musste ich immer lange warten und frieren, es war ja Dezember. Es gab keine Stühle, nichts zu sitzen. Auch nach der Fehlgeburt gab es keine Ausnahme. Einmal stand ich früh von sechs bis neun, zehn Uhr morgens draußen am Zaun in der Kälte (…) dann hab ich mich auf den Bordstein gehockt. Wenn wir dann drinnen waren, saß vorne eine Übersetzerin (…) Sie hörte sich an, was wir zu sagen hatten, dann ging sie zur Ärztin und hat die Sachen besprochen. Sie kam wieder und sagte immer, wir können dich hier nicht behandeln. Dann hat sie die Papiere für das Krankenhaus fertiggemacht. Ich war mehrmals beim medizinischen Dienst, die Ärztin habe ich kein einziges Mal zu Gesicht bekommen.«
Nichts wünschen sich Derya und Rojhan mehr als den Umzug in eine geschützte, private Wohnung in der Nähe ihrer Tante. Aber ein länderübergreifender Umzugsantrag ist nach der erfolgten EASY-Verteilung kaum aussichtsreich. Wenig später wird das Paar innerhalb des Bundeslandes »weiterverteilt«: Die Behörde weist ihnen eine Sammelunterkunft in einem kleinen Industriegebiet in Hessen zu. Außer den anderen Geflüchteten im Haus gibt es dort nichts. Das Ortszentrum ist eine kostenpflichtige Busreise entfernt.
Die Depression
Seit dem Verlust ihres Kindes leidet Derya unter körperlichen und psychischen Problemen bis hin zu Suizidgedanken. Sie verlässt praktisch den ganzen Tag ihr Zimmer nicht. Rojhan erledigt Einkäufe und Haushalt, kümmert sich im Alltag aufopferungsvoll um seine Frau, trägt aber selbst einige körperliche und seelische Belastungen. Zentraler Halt ist einmal mehr die 130 km entfernt lebende Tante. Sie dolmetscht am Telefon, übersetzt Dokumente, spricht mit Behörden und organisiert, wo möglich, Unterstützung. Versuche, in der neuen Umgebung Ärzte und psychotherapeutische Hilfe zu finden, scheitern, weil die örtlichen Praxen keine Neuaufnahmen tätigen wollen. Die Tante organisiert daraufhin eine fachärztliche und psychiatrische Behandlung an ihrem eigenen Wohnort. Sie holt die beiden immer wieder in ihre kleine Wohnung, um in wenigen Stunden oder Tagen alles Nötige zu organisieren. Langsam gehen für dieses Arrangement aber das Geld und die Kraft aus.
Deryas Psychiaterin sieht einen Umzug als dringend indiziert an und befürchtet sogar, dass sich ihr Zustand anderenfalls verschlechtert. Das Gutachten, das die Ärztin schreibt, ist schließlich die Grundlage für einen Umverteilungsantrag, den PRO ASYL mit einer Stellungnahme und in Kooperation mit einer diakonischen Beratungsstelle in NRW unterstützt – mit Erfolg: Die Behörden stimmen dem Umzug von Derya und Rojhan von Hessen nach NRW zu.
Seit dem Verlust ihres Kindes leidet Derya unter körperlichen und psychischen Problemen bis hin zu Suizidgedanken.
Seit die beiden in Deutschland ankamen, sind eineinhalb Jahre vergangen. Nun wollen sie endlich zur Ruhe kommen, um ihre traumatischen Erlebnisse von der Flucht und ihrer Erlebnisse in Deutschland, zusätzlich zu denen im Irak, zu verarbeiten. Inzwischen haben sie einen Deutschkurs begonnen. Derya befindet sich weiterhin in psychiatrischer Behandlung.
Recht auf Gesundheit. Schutz vor Gewalt.
Die Geschichte von Derya zeigt, dass auch offenkundig schutzbedürftige Menschen durch die Raster der Aufnahmeprozedur im Asylverfahren fallen. Die Aufnahmebedingungen, die sie vorfand, sind weder mit der Aufnahmerichtlinie noch dem Menschenrecht auf Gesundheit und auch nicht mit dem in der Istanbul Konvention verbürgten Schutz von gewaltbetroffenen Frauen in Einklang zu bringen. Aus Sicht von PRO ASYL sind gesetzliche und praktische Änderungen notwendig.
Am Ende sind die dramatischen Erfahrungen von Derya, die ihr Kind in der Aufnahmeeinrichtung verlor, nicht, oder jedenfalls nicht nur, eine Folge individuellen Fehlverhaltens, sondern einer Aufnahmestruktur, die sich aus den politischen Debatten über Kosten, Lastenverteilung und Abschreckung speist und nicht aus dem Bemühen um das Wohlergehen schutzsuchender Menschen. PRO ASYL fordert ein grundlegendes Umdenken bei der Aufnahmepolitik.
ak
*Name bzw. Datum zum Schutz der Betroffenen geändert
** Wir haben im Zuge der Recherche zur Fluchtsituation entlang der belarussischen EU-Außengrenze mit Derya und Rojhan gesprochen. Die Zitate in diesem Text stammen aus dem Bericht der Betroffenen.