aktualisiert 19.08.2021 Die Debatte um eine Flüchtlingswelle aus Afghanistan nach Europa ist nach Ansicht des Flüchtlingsexperten Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) eine „Gespensterdebatte“. Knaus sagte der Berliner Zeitung: „Eine Wiederholung von 2015 kann gar nicht stattfinden". (Beitrag s. unten)
"Es gibt keine millionenfache Geister-Armee, die sich auf Europa zubewegt.“ (Gerald Knaus)
18.08.2021 In diesen Tagen bangen viele um die Menschen in Afghanistan. Die Furcht vor Übergriffen der Taliban ist groß und vermutlich berechtigt. Viele fragen sich, warum zum Beispiel so lange (zu lange!) gezögert wurde, die Ortskräfte des deutschen Einsatzes und ihre Familien in Sicherheit nach Deutschland zu bringen. Spät gab es dafür die Zustimmung, zu spät die Visa. Mitarbeiter:innen von Medien und Hilfsorganisationen z. B. sehen sich ebenfalls besonders gefährdet. Aber auch viele "normale" Menschen wollen nur fliehen. Ihr Weg wird meist in Verstecke innerhalb des Landes führen, oft aber auch nach Pakistan oder Iran, wo seit vielen Jahren schon Generationen von afghanischen Flüchtlingen ausharren, bis sie sich auf den Weg nach Europa machen.
Größer als die Sorge um die Menschen ist dieser Tage aber offenbar die Furcht vieler Politiker:innen vor einer neuen "Flüchtlingskrise". War das auch ein Grund für das lange Zögern?
Das ZDF-Polit-Magazin frontal zitierte in der Sendung am 17. August 2021 Stimmen, die den afghanischen Menschen wenig Hoffnung auf eine Zukunft in Europa, in Deutschland machen:
Bundeskanzlerin Merkel am 16. 8. 2021
„Dann müssen wir schauen, dass sie eine sichere ... ähm ... Bleibe in der Umgebung von Afghanistan haben, und hier nicht den Fehler wiederholen, den wir früher gemacht haben … und dass Menschen sich dann auf den Weg gemacht haben, aus Jordanien, aus Libanon, aus Syrien direkt nach Europa zu kommen, sondern dass wir hier heute schneller sind und auch schnell den Nachbarstaaten Hilfe anbieten.“
Kanzlerkandidat Laschet am 16. 8. 2021
„Die europäische Union muss sich darauf vorbereiten, dass es Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa geben könnte. Wir müssen diesmal rechtzeitig in der Region, in den Herkunftsländern humanitäre Hilfe leisten, 2015 darf sich nicht wiederholen...“
Das war auch Kern des EU-Türkei-Abkommens von 2016: Um Fluchtrouten abzuriegeln, galt nicht länger das eigentliche Herkunftsland, z. B. Syrien, für die Schutzsuchenden, nun wurde die Türkei zum "sicheren Herkunftsland". Sollen jetzt Pakistan und der Iran zu "sicheren Herkunftsländern" für die Afghanistan-Flüchtlinge erklärt werden, wo sie eine "Bleibe" finden? Möglichst fern von Europa?
Und die EU? Seit 5 Jahren geistert der Wunsch nach solidarischer Asylpolitik den Staatenbund. Mit Blick auf die litauische Grenze wurde aber gerade zum wiederholten Mal festgestellt: Statt solidarischer Verteilung gibt es Abschottung. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson:
„Wir als europäische Gemeinschaft stehen an der Seite von Litauen, um unsere gemeinsame Außengrenze zu beschützen."
„Natürlich müssen wir solidarisch sein mit Menschen, die angewiesen sind auf internationalen Schutz. Wir haben mit 140000 Menschen aber viel weniger Ankünfte und die Mehrheit von ihnen sind keine Flüchtlinge. Es sind Menschen, die eine bessere Zukunft wollen und dafür ihr Leben riskieren. Dafür brauchen wir wirklich einen anderen Ansatz."
Bei der Innenmininisterkonferenz in Slowenien im Juli holte sie wieder heraus, was während der portugiesischen Präsidentschaft in der Schublade gelegen hatte, was sie für eine solidarische Flüchtlingspolitik hält: Der andere Ansatz? "Für abgelehnte Migranten schlägt sie sogenannte Abschiebepatenschaften vor..."
Deutschlands Nachbarn setzen auf eine Politik der Abschottung, heißt es bei frontal. Dänemarks Migrationsminister erklärt:
"Wir versuchen ein neues Asylsystem zu etablieren, wo die Menschen nicht erst nach Dänemark kommen müssen, sondern ihre Asylanträge außerhalb der EU stellen. Wenn sie Schutz brauchen, bekommen sie ihn außerhalb von Europa. In Ländern wie Tunesien oder Ägypten sollen Asylzentren unter europäischer Kontrolle entstehen. Dort soll entschieden werden, wer Asyl in Europa bekommt und wer nicht."
Auch das ist nicht neu, so frontal, dafür umstritten, ob das mit europäischen Werten vereinbar ist.
Zum Schluss erhält der Grüne Europaabgeordnete Erik Marquart das Wort, während er sich auf Lesbos einen Eindruck von Kara Tepe macht, wo 4300 Menschen auf einer Dauerbaustelle leben, die bald zum Vorzeigeobjekt europäischer Asylpolitik werden soll:
"Ich glaube, es ist einfach eine Illusion, dass wir sagen, europäische Asylpolitik kann man auslagern an andere Staaten, dass wir eigentlich keine Solidarität mehr brauchen.. Wir mich ist es ein Symbol des Scheiterns, dass man die ganze Zeit versucht, Verantwortung wegzuschieben."
frontal stellt fest: Im Sommer 2021 haben Europas Politker Angst vor der nächsten Flüchtlingskrise und keine Antwort auf die Frage „Was tun, wenn wieder Zigtausende in Boote steigen?“
Quelle: https://www.zdf.de/politik/frontal/flucht-aus-afghanistan-europas-fluechtlingspolitik-100.html
19.08.2021 Berliner Zeitung: „Es gibt keine millionenfache Geister-Armee, die nach Europa kommt“
Die Debatte um eine Flüchtlingswelle aus Afghanistan nach Europa ist nach Ansicht des Flüchtlingsexperten Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) eine „Gespensterdebatte“. Knaus sagte der Berliner Zeitung: „Eine Wiederholung von 2015 kann gar nicht stattfinden".
Damals war die türkisch-syrische Grenze offen, und wer es über die Ägäis schaffte, war in der EU. Heute sind faktisch alle Grenzen zwischen Afghanistan und Europa geschlossen.“ Knaus sagte, dass auch die Ausgangslage in Afghanistan eine andere sei: „Die Taliban kontrollieren die Grenzen. Es gibt Checkpoints. Die große Frage ist, ob selbst Leute ausreisen können, die westliche Länder sofort aufnehmen würden.“
Auch wenn Leute das Land verlassen könnten, würden sie wohl schon an der türkisch-iranischen Grenze feststecken. Dazu kommen Europas Grenzen. Knaus: „Die Türkei hat mit der Befestigung ihrer Grenzen begonnen, es wurden Stacheldraht-Absperrungen und Wachtürme errichtet und Drohnen eingesetzt. Nach Griechenland kamen in den ersten sechs Monaten 2021 nur 600 Afghanen.“ ...
Im Zuge der Verschärfung des innenpolitischen Klimas [in der Türkei] kam es in den vergangenen Monaten bereits zu Ausschreitungen gegen syrische Flüchtlinge. Knaus: „Es gab in Ankara ein regelrechtes Pogrom gegen Syrer. Dazu kommen Falschmeldungen über Millionen Afghanen in den sozialen Medien, verdächtige Videos, die afghanische Flüchtlinge beim Verbrennen von türkischen Flaggen gezeigt haben. Hier entsteht eine gefährliche Stimmung.“
Die EU müsse nun alles daransetzen, dass die Stimmung in der Türkei nicht kippt. Knaus: „Hier könnten wir ein sehr reales Problem bekommen. Um so wichtiger, dass Minister der Bundesregierung keine verantwortungslose Angstmacherei betreiben. Es gibt keine millionenfache Geister-Armee, die sich auf Europa zubewegt.“
USA könnten einige Hunderttausend Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen
Nach Einschätzung des Migrationsexperten sei die Frage, wie die westlichen Staaten jetzt möglichst schnell Menschen aus Afghanistan herausbringen könnten: „Die Amerikaner haben 7000 zusätzliche Soldaten nach Kabul geschickt, um eine Luftbrücke aufrechtzuerhalten.“ Der Zeitfaktor sei kritisch: „Wir wissen nicht, wie lange sich die US-Soldaten im Land werden halten können. Es kann auch nicht gesagt werden, wie lange die Taliban die Evakuierungen zulassen werden.“
Knaus sagt, dass sich nach militärischen Interventionen immer die Frage stelle, was mit den lokalen Mitarbeitern geschehen solle: „Ich glaube, dass die Amerikaner sich um ihre Leute kümmern wollen – anders als etwa Frankreich 1962, das, als es Algerien verließ, seine lokalen Verbündeten im Stich ließ und an die 30.000 Zurückgelassenen ermordet wurden. Man sieht das an der aktuellen US-Gesetzgebung und auch an der Tatsache, dass auch die einwanderungskritischen Republikaner für die Aufnahme von Afghanen eintreten.“
Knaus schätzt, dass, wenn alles gut geht, auf legalem Weg aus Afghanistan in den kommenden zwei Jahren bis zu 500.000 Menschen aufgenommen werden könnten, die meisten von den USA. Es handelt sich dabei um Personen, die mit den Westmächten während des Krieges zusammengearbeitet oder in westlichen Projekten und Organisationen gearbeitet haben. Knaus sagt, die USA würden einige Hunderttausend aufnehmen. Kanada und Großbritannien hätten kurzfristig schon eine besondere Visa-Vergabe für mindestens jeweils 20.000 Personen angekündigt.
Knaus, dessen Rat von Politikern aus allen Fraktionen in Deutschland gesucht wird, geht jedoch insgesamt davon aus, dass die Lage für die Bevölkerung in Afghanistan schwierig wird: „Viele Menschen, die eine Zusage für ein Visum haben, werden es nur schwer schaffen, aus dem Land auszureisen.“ Man müsse auch damit rechnen, dass sich wegen der Machtübernahme durch die Taliban „die Lage für viele Menschen verschlechtern wird“. Dies betreffe vor allem Frauen, deren Rechte durch die wieder eingeführte Scharia eingeschränkt würden. Knaus: „Es sind nicht wir in Europa, die sich vor Migration fürchten müssen. Es sind die Afghaninnen und Afghanen, die nicht die Weltsicht der Taliban teilen und für die Flucht nicht möglich ist.“