06.11.2021 Ein Radio- und ein Fernsehbeitrag wiesen in den vergangenen Tagen darauf hin, wie aussichtslos die Suche nach Therapiemöglichkeiten traumatisierte geflüchtete Menschen ist. Viele der hier Angekommenen haben Furchtbares im Herkunftsland und / oder auf der Flucht erlebt und bräuchten dringend fachliche Begleitung. "Mehr als 7.000 Flüchtlinge auf der Warteliste" - "BafF: 30 Prozent der Geflüchteten brauchen psychosoziale Versorgung." Die Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, kurz BAfF hatte Alarm geschlagen und Forderungen an die Ampel-Verhandler*innen gestellt.
Es wurde vor Augen geführt, dass sich ohne Therapie der Gesundheitszustand verschlechtert, infolgedessen sind viele nicht in der Lage, Kurse zu absolvieren oder gar einen Arbeitsplatz einzunehmen. Die sie begleitenden Sozialarbeiter*innen und Ehrenamtlichen können nicht helfen.
Kurz nachdem ich diese Beiträge gelesen bzw. gesehen habe, höre ich die Nachricht von einem Gewaltausbruch, einem Messerangriff im ICE. Es folgte kurze Zeit später die Mitteilung, der "ICE-Attentäter", der mehrere Personen schwer verletzt hat, sei ein aus Syrien geflüchteterMann, der in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde und vermutlich nicht schuldfähig ist. Mir scheint, ich habe ähnliche Erklärungen bereits bei anderen Nachrichten von Gewalttaten gehört. Ist nicht offensichtlich, wieviel Not herrscht und dass dringend Hilfe ermöglicht werden muss? Und nicht nur bei Menschen mit Fluchtgeschichte, auch viele andere Kinder, Jugendliche und Erwachsene leiden nicht nur unter psychischen Erkrankungen, sondern auch unter Mangel an Therapie und Theraput*innen.
Beitrag Deutschlandfunk vom 5. November 2021:
Flucht und Trauma - Warum in Deutschland Therapieplätze für Migranten fehlen
Viele der Menschen, die in den vergangenen Jahren in Deutschland Zuflucht gefunden haben, leiden unter ihren Erinnerungen an Gewalt, Krieg und Folter. Doch mit ihrer seelischen Not bleiben sie oft allein: Es gibt zu wenige Therapie-Angebote, ein großer Streitpunkt ist auch die Finanzierung.
Von Timo Stukenberg
Als die radikal-islamischen Taliban im August dieses Jahres Kabul einnehmen, da erfasst die Angst vor den neuen Herrschern auch viele Afghaninnen und Afghanen, die längst in Deutschland leben.
Eine von ihnen ist Aziza, sie ist 20 Jahre alt und wohnt in Berlin. Ihr richtiger Name soll hier nicht genannt werden, um ihre Familie in Afghanistan zu schützen: „Meine Familie, sie haben sich versteckt, weil mein Vater war in der Armee und die Taliban hatten meinen Vater schon einmal entführt. Sie waren schon in meinem Haus. Sie haben meinen Bruder geschlagen. Sie wollten wissen, wo mein Vater und meine Schwester sind. Und was sie mit diesen Personen machen, wissen wir schon: umbringen.“
Erinnerungen an Krieg, Zerstörung und Gewalt
Die Bilder aus Afghanistan – sie wühlen Aziza auf. Vor fünf Jahren habe sie Kabul verlassen und sich gemeinsam mit ihrem älteren Cousin auf den Weg Richtung Europa gemacht, erzählt sie. Damals war sie 15 Jahre alt. Und die Taliban hätten ihre Familie bereits bedroht.
„Dann bin ich bis in die Türkei gekommen und von der Türkei haben wir dreimal versucht, weiterzukommen, über das Meer ein- oder zweimal, das weiß ich jetzt nicht mehr. Und einmal zu Fuß. Aber es hat nicht geklappt. Dann hat mein Cousin mit meinem Bruder gesprochen. Und mein Bruder hat gesagt: Komm wieder zurück!“
Monate später unternimmt sie einen neuen Anlauf. Dieses Mal schafft sie es mit dem Flugzeug nach Deutschland. In den vier Jahren seit ihrer Ankunft hat Aziza Deutsch gelernt, zwei Gerichtsverfahren gegen deutsche Behörden geführt und in diesem Jahr ihr Abitur bestanden. Sie hat das alles wohl auch deshalb geschafft, weil sie die Unterstützung der Kinder- und Jugendtherapeutin Janina Meyeringh hatte. Meyeringh leitet den Kinder- und Jugendbereich bei Xenion, einem Psychosozialen Zentrum in Berlin-Kreuzberg.
Flüchtlinge bleiben allein mit seelischer Not
In der Arbeit mit ihren Klientinnen und Klienten geht es immer wieder um Flucht und Folter, Trauma und, wie aktuell im Fall von Afghanistan, um Re-Traumatisierung.
„Wir erleben gerade bei der Gruppe der Afghanen auch schwerste Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht. Und wenn man sich dann vorstellt, sie haben endlich das Gefühl, vielleicht in Sicherheit zu sein. Und dann bricht plötzlich der Kontakt zur Familie komplett ab. Das ist natürlich eine maßlose Überforderung und es waren viele auch, die hier in den Gesprächen sagten, wofür denn eigentlich noch?“
Vielen ihrer Klientinnen und Klienten drängten sich die Erinnerungen an Krieg, Zerstörung und Gewalt immer wieder auf, berichtet die Therapeutin. Frauen und Mädchen hätten auf der Flucht oft sexualisierte Gewalt erlebt. Viele litten unter schweren Depressionen, Schlaf- und Angststörungen, Panikattacken bis hin zu Suizidgedanken.
Mehr als 7.000 Flüchtlinge auf der Warteliste
Xenion ist eines von 44 psychosozialen Zentren in Deutschland. Diese bieten asylrechtliche Beratung, Hilfe bei der Wohnungssuche und eben auch Psychotherapie für Geflüchtete an. Doch die therapeutischen Möglichkeiten reichen aus Sicht vieler Experten bei weitem nicht. Viele Migranten, die in den vergangenen Jahren in Deutschland Zuflucht gefunden haben, stünden mit ihren seelischen Nöten allein da und würden hierzulande therapeutisch nicht versorgt. Das liege vor allem daran, dass ihnen der Zugang zu solcher Unterstützung verwehrt bleibe, sagt Lukas Welz, Geschäftsführer der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer, kurz BAfF.
„Wir haben Wartelisten von 7.000 bis 8.000 Menschen pro Jahr. In der Regel wird irgendwann auch gesagt: Wir können ihnen an der Stelle nicht weiterhelfen, weil die Kapazitäten begrenzt sind, die wir haben. Und man muss dann eben durchaus auch priorisieren. Wer hat jetzt akuten Bedarf? Und wer kann vielleicht an anderer Stelle noch unterstützt werden.“
Therapieplätze sind ohnehin knapp in Deutschland: Auch gesetzlich Krankenversicherte müssen teilweise monatelang auf eine Psychotherapie warten. Bei Asylbewerbern kann das noch deutlich länger dauern. In Sachsen-Anhalt beispielsweise müssen Geflüchtete bis zu 14 Monate auf eine Therapie warten, so steht es in der Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei.
Flüchtlingshelfer Welz: „Gesundheit ist ein Menschenrecht“
Auch lehnen die zuständigen Sozialbehörden Anträge von Asylbewerbern auf eine Psychotherapie laut BAfF rund siebenmal häufiger ab als die Krankenkassen dies bei gesetzlich Versicherten tun.
Damit verstoße Deutschland gegen seine internationalen Verpflichtungen, sagt Lukas Welz: „Aus unserer Sicht ist Gesundheit ein Menschenrecht und müsste eben jedem und jeder Person, die in Deutschland lebt, gleichberechtigt zur Verfügung gestellt werden. Das liegt eben an der doch eher restriktiven Asylpolitik in Deutschland, die nicht in dem Maße unterstützt, wie die eigenen Verpflichtungen, die Deutschland eingegangen ist, dass Deutschland diesen Verpflichtungen in der Umsetzung dann nicht ausreichend nachkommt und damit Menschen, die in Deutschland leben, das Recht verwehrt, in der Form gleichberechtigt die Regel-Gesundheitsversorgung wahrnehmen zu können.“
Psychische Erkrankungen werden nicht erkannt
Obendrein wird häufig gar nicht untersucht und erkannt, wer psychotherapeutische Hilfe nötig hat. Minderjährige Migranten wie Aziza, die ohne ihre Eltern nach Deutschland aufgebrochen ist, bekommen Unterstützung durch einen Vormund und finden so bei Bedarf auch leichter in eines der Psychosozialen Zentren, sagt Therapeutin Meyeringh. Das sei aber nicht bei allen Flüchtlingen so:
„Die Kinder, die begleitet kommen, die irgendwo in Unterkünften sitzen mit ihren Eltern, die selber ihre eigenen Probleme haben, die fallen wirklich durchs Raster. Da guckt keiner genau hin, da wissen auch die Eltern oft nicht: Was gibt es für Möglichkeiten? Die sind viel zu sehr auch oft mit sich beschäftigt. Das ist auch verständlich. Da kann man keinen Vorwurf machen.“
Um das zu verhindern, hatte die Europäische Union ihre Mitgliedsstaaten dazu verpflichtet, ein einheitliches Konzept zur Identifizierung von besonders schutzbedürftigen Geflüchteten zu entwickeln. Dazu zählen unter anderem Alte und Kinder, aber auch Menschen mit besonderen psychischen Belastungen oder Vorerkrankungen.
BafF: 30 Prozent der Geflüchteten brauchen psychosoziale Versorgung
2018 hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Mindeststandards zum Schutz von Menschen in Flüchtlingsunterkünften erarbeitet. Darin heißt es:
„Um der Verpflichtung nachzugehen, menschenwürdige Standards für den Aufenthalt zu schaffen, sollte eine Hinweisaufnahme und Einschätzung der besonderen Bedarfe in den ersten Tagen nach der Aufnahme bis maximal 14 Tage nach der Aufnahme erfolgen, beispielsweise im Rahmen eines persönlichen Gesprächs oder gegebenenfalls einer psychosozialen Sprechstunde.“
Ob diese Mindeststandards in den Unterkünften eingehalten werden, kann das Ministerium jedoch nicht sagen. Stattdessen verweist die Pressestelle auf die Zuständigkeit der Länder. Doch wie viele Geflüchtete überhaupt psychotherapeutisch versorgt werden, dazu liegen auch bei den zuständigen Landesministerien keine Zahlen vor.
Zentrale Aufnahmestelle für Migranten – Mindeststandards auch für psychosoziale Versorgung
In seinem Versorgungsbericht geht der Verband der psychosozialen Zentren, BAfF, davon aus, dass von den rund 1,4 Millionen Menschen mit Fluchterfahrung in Deutschland etwa 30 Prozent psychosozial versorgt werden müssten. Nicht alle brauchten eine langjährige Psychotherapie, sagt BAfF-Geschäftsführer Welz, aber es seien schätzungsweise 420.000 Menschen mit einer potenziell behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Depression.
„Die Zentren, die jetzt sich unter dem Dach der BAfF organisieren, schaffen etwa 22.000 Klientinnen pro Jahr zu begleiten, zu betreuen. Das heißt, die Diskrepanz zwischen dem Bedarf und der Kapazität der Zentren wird ersichtlich und ist eklatant, was eben vor allem an einer fehlenden Finanzierung liegt.“
Weil die Verantwortung für die Versorgung von Geflüchteten bei den Bundesländern und Kommunen liegt, fördert der Bund bislang lediglich Modellprojekte zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen.
Sprache als weitere Barriere für Therapie
Bundesmittel fließen vom Bundesfamilienministerium auch an die Wohlfahrtsverbände, die darüber unter anderem psychosoziale Zentren finanzieren. Größtenteils lebten die Einrichtungen jedoch von Projektgeldern und Spenden, mit denen sich schwer planen lasse, sagt Welz.
„Und es gibt vor allem keine flächendeckende Versorgung. Also, dass es ein Zentrum in einer Stadt oder an einem Ort gibt, liegt vor allem an privaten Initiativen von Menschen, die sagen oder auch zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sagen: Wir wollen hier eine Struktur schaffen, die diesen Menschen hilft und sie unterstützt.“
Hinzu kommt, dass Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, bei den Ämtern oft nicht nur um die Bewilligung einer Therapie kämpfen müssten, sondern auch um Sprachmittler. Voraussetzung für eine erfolgreiche Gesprächstherapie sei nämlich oftmals eine qualifizierte Dolmetscherin oder ein Dolmetscher, so Therapeutin Meyeringh.
„Und wir haben das Problem mit der Sprachmittlung, die immer noch nicht gesetzlich verankert ist, sodass sie jedem zusteht. Das heißt, jeder Therapeut muss immer noch darum kämpfen, dass die Sprachmittlerkosten übernommen werden. Und auch das erschwert natürlich die Situation sehr massiv.“
Qualifizierte Dolmetscher fehlen
Dolmetscher würden für diese Dienste zu schlecht bezahlt, sagt die Therapeutin. Viele könnten von den Honoraren nicht leben. Aber auch die Beantragung selbst sei kompliziert und aufwändig. Deshalb blieben die Einrichtungen teilweise auf den Kosten fürs Dolmetschen sitzen, sagt Meyeringh. Auch aus diesem Grund zögerten viele niedergelassene Therapeuten, Asylbewerber ohne Deutschkenntnisse zu versorgen.
„Dass wir auch hier im Team schon diskutieren müssen, können wir Menschen nur danach behandeln, welche Sprache sie sprechen. Und das ist fatal. Das kann nicht sein!“
In der Folge muss Therapeutin Meyeringh viele Menschen ablehnen, die aber eine Therapie oder eine psychosoziale Beratung dringend nötig hätten.
„Es droht, dass sich die Symptomatik weiter verstärkt, Chronifizierung der Symptomatik. Es drohen natürlich, ungünstige Coping-Strategien, also das ist nur ein Beispiel, dass man zum Beispiel, um Druck abzubauen, zu selbstverletzendem Verhaltensweisen greift oder dass man auch zu Substanzen greift. Oder es ist ganz unterschiedlich. Es ist einfach das Dilemma, dass es sich immer weiter verfestigt und man gerade bei Kindern und Jugendlichen so früh die Chance hatte, reinzugehen.“
Abschiebung aus der Therapie?
Wohlfahrtsverbände und die Psychosozialen Zentren beklagen, dass die Große Koalition mit den Asylrechtsreformen der vergangenen Jahre den Zugang zu gesundheitlicher Versorgung für Geflüchtete weiter eingeschränkt statt ausgebaut habe. Ein Beispiel: Das Asylpaket II aus dem Jahr 2016 legt fest, dass psychologische Psychotherapeuten nicht mehr begutachten dürfen, ob ein Abschiebungshindernis vorliegt, ob ein Mensch für eine Abschiebung zum Beispiel zu krank ist. Stattdessen sind nun allein Mediziner für die Begutachtung zuständig.
In der Praxis führe das dazu, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen abgeschoben würden, heißt es aus den Psychosozialen Zentren – weil diese Erkrankungen auch wegen der Sprachbarriere gar nicht festgestellt werden. Manche würden sogar abgeschoben, obwohl sie sich bereits in einer Therapie befinden. Ob und auf wie viele Menschen das zutrifft, konnten die zuständigen Landesministerien auf Anfrage des Deutschlandfunks nicht sagen.
Kirsten Kappert-Gonther ist Bundestagsabgeordnete für Bündnis 90/ Die Grünen. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und hat ihre Doktorarbeit über Traumafolgestörungen geschrieben. Sie sagt, eine solche Regelung torpediere die psychotherapeutische Versorgung.
„Aus einer laufenden Psychotherapie heraus darf natürlich nicht abgeschoben werden, weil auch überhaupt der ständige Gedanke daran: jetzt muss ich womöglich wieder zurück in eine Situation, die mich ja veranlasst hat, fliehen zu müssen, weil ich eben nicht mehr sicher war an Leib und Leben. Wenn ich diese Bedrohung in mir trage, dann kann ich natürlich über psychosoziale Hilfen und psychotherapeutische Hilfen gar nicht meine Krise überwinden, weil die Bedrohung ja so groß ist.“
Grünen-Abgeordnete Kirsten Kappert-Gonther: „Aus laufender Therapie darf nicht abgeschoben werden“ (dpa)
Der Bundestagsabgeordnete Helge Lindh saß in der vergangenen Legislaturperiode für die SPD im Innenausschuss. Er gibt sich mit Blick auf die aktuelle Regelung selbstkritisch.
„Also es gibt eine Reihe von Beispielen, nicht nur dieses, wo wir tatsächlich auch national nicht auf der Höhe des internationalen Rechts sind. Das, glaube ich, auch schonungslos so anzuerkennen, wäre auch eine der Aufgaben im Bereich Migration und Integration für die wahrscheinliche neue Koalition.“
Eine Stellungnahme von CDU/CSU war nicht zu bekommen. Ein lange im Voraus vereinbartes Interview mit einem CDU-Abgeordneten zu diesem Thema wurde kurzfristig abgesagt. Die Pressestelle der Unionsfraktion im Bundestag konnte keinen anderen Interviewpartner vermitteln und ließ auch schriftliche Fragen zum Thema bis zum Redaktionsschluss unbeantwortet.
Asylbewerberleistungsgesetz soll auf den Prüfstand
Der Verband der Psychosozialen Zentren, BAfF, und auch Wohlfahrtsverbände fordern von der künftigen Bundesregierung, nicht nur die Asylrechtsverschärfungen zurückzunehmen. Sie wollen auch erreichen, dass nicht mehr das Asylbewerberleistungsgesetz die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten regelt, sondern das Sozialgesetzbuch, das für gesetzlich Krankenversicherte gilt.
Bei den Grünen stoßen die Verbände damit auf große Zustimmung, dazu Kirsten Kappert-Gonther: „Genau das ist die Forderung, dass Geflüchtete wie alle anderen Menschen, die in Deutschland leben, auch Zugang zu der Regel-Gesundheitsversorgung haben in Form einer Gesundheitskarte und ihnen somit alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung auch selbstverständlich zur Verfügung stehen.“
Das hieße, dass sich Geflüchtete nicht erst an das für sie zuständige Amt wenden müssten, sondern wie alle anderen gesetzlich Versicherten direkt eine Therapeutin oder einen Therapeuten aufsuchen könnten. SPD-Politiker Lindh zeigt sich durchaus offen dafür, das Asylbewerberleistungsgesetz in dieser Richtung zu überdenken – auch aus praktischen Gründen. Eine Versorgung nach den Richtlinien der Krankenkassen sei nämlich weitgehend einheitlich, während im Moment jede Kommune nach eigenem Ermessen entscheide. Die Linie seiner Partei spiegele das jedoch nicht wieder, so Lindh:
„Und da sehe ich tatsächlich Handlungsbedarf. Also halte es zumindest für diskussionswürdig, dass man perspektivisch gucken muss, ob man da nicht tatsächlich auch nochmal in ein anderes System kommt. Und zum Beispiel, das wäre ein erster Schritt, dass man überall entsprechend Krankenversicherungskarten hat, weil das ja auch im Moment etwas von einer Zwei-Klassen-Behandlung und Stigmatisierung hat für die Betroffenen und eben für einen Flickenteppich unterschiedlicher Praktiken wird. Und wenn man eine Einheitlichkeit des Rechts und der Versorgung haben will, wäre das eine Verbesserung.“
Mögliche Koalitionspartner streiten über Finanzierung
Die FDP als mögliche zukünftige Regierungspartnerin von SPD und Grünen will sich im Deutschlandfunk mit Verweis auf die laufenden Koalitionsverhandlungen nicht zu dem Thema äußern. Kurz vor der Wahl im September hat die Partei jedoch zu den Forderungen der BAfF Stellung bezogen. Man sehe beim Anspruch von Geflüchteten auf Zugang zur Gesundheitsversorgung keinen grundsätzlichen Änderungsbedarf, schreibt Generalsekretär Volker Wissing in der Stellungnahme. Er verweist jedoch auf einen Antrag der Bundestagsfraktion vom Mai 2019. Darin fordern die liberalen Abgeordneten, die Zuständigkeit für die medizinische Versorgung von Geflüchteten an den Bund zu übertragen.
Auch bei der Sprachmittlung liegen die drei möglichen Koalitionsparteien auseinander. Die Grünen unterstützen die Forderung, einen gesetzlichen Anspruch im Sozialgesetzbuch V festzuschreiben. Wer zur Therapeutin oder zum Arzt geht, hätte so einen Anspruch auf einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin.
Die FDP hält das für rechtlich nicht machbar. Bei der SPD überlegt man, den Anspruch eher an anderer Stelle im Gesetz zu verankern. Am Ende geht es bei den Verhandlungen um Geld, auch für die Psychosozialen Zentren. Deren Finanzierung solle laut FDP lediglich überprüft werden. SPD und Grüne hingegen wollen die Zentren besser ausstatten, dazu Kirsten Kappert-Gonther:
„Man kann sich verschiedene Modelle da vorstellen. Wir haben ja im Moment etwa 44 psychosoziale Zentren. Das wird nicht reichen. Wir werden auch noch mehr brauchen. Und die Finanzierung, die Dauerfinanzierung kann ich mir vorstellen, auch als eine Mischfinanzierung, aus Steuermittel seitens des Bundes, der Länder und der gesetzlichen Krankenversicherung.“
Psychotherapeutische Versorgung gegen Radikalisierung
SPD-Politiker Lindh hält eine nachhaltigere Finanzierung der Zentren auch deswegen für notwendig, weil die Gesellschaft sonst an anderer Stelle draufzahle: „Eine mangelnde psychotherapeutische Versorgung und diese Hintergründe und die Lebensgeschichten sind auch ein Momentum für mögliche Radikalisierung und auch ein Bedingungsfaktor. Also ist es auch sicherheitspolitisch sinnvoll, da Verstetigung, Erhöhung von Mittel und bessere Strukturen zu schaffen. Und wir sehen und sagen immer, was Dinge kosten. Aber wir vergessen oft auch, uns die Folgekosten anzusehen. Aber alles, was unterbleibt, an frühzeitigen Behandlungsmaßnahmen, hat womöglich hohe, auch finanzielle Kosten in der Folge.“
Aziza aus Kabul kommt mittlerweile nur noch bei Bedarf in das Psychosoziale Zentrum in Berlin-Kreuzberg. Wenn sie zurückblickt auf die Zeit seit ihrer Ankunft, wünscht sie sich, dass mehr Menschen in ihrer Situation eine Therapie angeboten bekommen. Nicht nur, um ihre Fluchterfahrungen zu verarbeiten, sondern auch mit den Herausforderungen umzugehen, die in Deutschland auf sie warten.
„Du musst immer darüber nachdenken: „Was würde passieren?“ Es war nicht meine Wille, dass ich hierher komme, sondern meine Familie hat mich geschickt, aber trotzdem musst du gegen diese Sachen kämpfen. Ich bin auch sehr mutig geworden über diese Zeit, aber es hat mich auch psychisch krank gemacht.“
Außerdem ein Beitrag im ZDF-Länderspiegel, ebenfalls am 6. November: