15.01.2024 Wieder ist ein Schutzsuchender in einer Unterkunft in NRW während eines Polizeieinsatzes ums Leben gekommen. Wie zuvor hatten die herbeigerufenen Polizeikräfte den Taser gegen den aus Guinea stammenden Mann eingesetzt, der offenkundig behandlungsbedürftig war. Ein rassistischer Charakter solcher Einsätze wird vom Innenminister regelmäig zurückgewiesen, ebenso die Frage nach Verhältnismäßigkeit.
Das WDR-Politmagazin westpol berichtete am 14.01.2024 und stellte Fragen: Tödlicher Polizei-Einsatz: Was bringt der Taser?
Ein junger Flüchtling aus Guinea ist vor knapp einer Woche ums Leben gekommen, nach einem Polizeieinsatz, bei dem der Mann zwei Mal mit einer Elektro-Pistole beschossen worden war. Er soll vorher randaliert haben und Polizisten gebissen haben. Der Mann war als gewalttätig und drogensüchtig bekannt und war ausreisepflichtig. Hätte die Polizei mit dem Mann anders umgehen müssen? Welchen Nutzen hat der Taser in solchen Einsätzen? Westpol hakt nach. Video
Am 07.01.2024 hatte u. a. die Tagesschau/Aktuelle Stunde berichtet unter dem Titel Taser: Wann sie zum Einsatz kommen und was sie bewirken sollen:
... in der Nacht zu Sonntag war ein 26-jähriger Guineer nach einem Polizeieinsatz in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Mülheim an der Ruhr gestorben. Der Mann soll randaliert und dabei Bewohner und Mitarbeiter attackiert haben. Die Polizei setzte zweimal einen Taser gegen den 26-Jährigen ein. Während seiner Behandlung im Rettungswagen verlor er das Bewusstsein und starb später im Krankenhaus.
Im August 2022 war der aus dem Senegal stammende 16-jährige Flüchtling Mouhamed Dramé von der Polizei bei einem Einsatz zunächst mit Taser-Stromstößen beschossen worden, bevor keine Sekunde später fünf Schüsse aus einer Maschinenpistole fielen. Der Jugendliche starb. Dafür müssen sich seit Mitte Dezember fünf Polizisten vor dem Landgericht Dortmund verantworten. Laut Anklage sei Dramé "zu keinem Moment aufgefordert worden, das Messer abzulegen".
In Köln hatte die Polizei im vergangenen November einen Mann mit einem Taser überwältigt - einige Stunden später starb er.
Am 08.01.2024 folgte u a in der Zeit Online ein Bericht: Mülheim an der Ruhr: Wie starb Ibrahim B.?
In Mülheim an der Ruhr starb ein Geflüchteter aus Guinea nach einem Polizeieinsatz. Die Beamten hatten einen Taser benutzt. Die Familie fordert Aufklärung.
Am Sonntagnachmittag greift Aissatu Baldé zum Telefon, um eine traurige Nachricht zu überbringen. Von ihrem Wohnort in Norddeutschland aus ruft sie eine Frau im fernen Guinea in Westafrika an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Sohn nach einem Polizeieinsatz in einer Geflüchtetenunterkunft in Mülheim an der Ruhr gestorben ist. Sie erzählt ihr, dass es wohl Ärger gegeben habe. Dass die Polizei einen Taser eingesetzt habe, ihr Sohn dann im Rettungswagen kollabiert und schließlich gestorben sei. Die Mutter weint, das Telefonat muss sie abbrechen. Einen Tag später sagt sie: "Seine Seele soll Frieden finden. Bitte sorgen Sie dafür, dass mein Sohn zu Hause beerdigt wird."
Baldé ist Chefin der Guinée-Solidaire-Organisation mit Sitz in Hamburg. Wann auch immer Menschen aus Guinea in Deutschland Probleme haben, landen sie irgendwann bei ihr. Seit Sonntag, seit dem Tod von Ibrahim B., 26 Jahre alt, steht ihr Telefon nicht mehr still. Baldé hat mit seinen Freunden telefoniert, den Onkel in Belgien informiert und mit dem Botschafter gesprochen. "Sie alle sind erschüttert und wollen wissen, was wirklich passiert ist", sagt Baldé im Gespräch mit ZEIT ONLINE. Christina Kampmann, Innenexpertin der SPD in Nordrhein-Westfalen, sagte am Sonntag: "Der Vorfall ist dramatisch und muss selbstverständlich minutiös aufgeklärt werden. Noch wissen wir viel zu wenig, was Ursache war und zu diesem schrecklichen Ausgang geführt hat."
Auf diese Fragen gibt es auch zwei Tage nach dem Polizeieinsatz keine befriedigenden Antworten. Nach Darstellung der Ermittler hatte Ibrahim B. am Samstagabend in seinem Zimmer in der Geflüchtetenunterkunft randaliert. Der Sicherheitsdienst alarmierte die Polizei. Auch den Beamten gegenüber soll B. aggressiv geworden sein, zwei Polizisten seien durch Bisse, eine Kollegin durch einen Tritt gegen den Kopf verletzt worden. Die Beamten hätten deshalb zum Taser gegriffen und ihn zweimal auf B. abgefeuert, ohne erkennbare Wirkung, wie es heißt. Schließlich sei es ihnen gelungen, den sich "erheblich wehrenden Mann" zu überwältigen und vorläufig festzunehmen. Im Rettungswagen hat B. laut Polizei das Bewusstsein verloren, sei reanimiert worden und kurze Zeit später im Krankenhaus verstorben.
Die Obduktion am Montag ergab, dass B. eine offenbar nicht unerhebliche Menge an Kokain konsumiert hatte. Es habe sich zudem herausgestellt, dass "der Verstorbene erheblich vorerkrankt war". Genaue Hinweise auf die Todesursache aber hätten sich noch nicht ergeben. Also auch nicht darauf, ob womöglich der Taser-Einsatz für den Tod des Mannes mitverantwortlich sein könnte. Die zuständige Staatsanwaltschaft in Duisburg hat weitere medizinische Untersuchungen und eine Auswertung der Bodycams angeordnet.
Der Fall des Ibrahim B. wird für die NRW-Landesregierung politisch nachwirken. Die SPD will ihn für die kommende Sitzung des Innenausschusses am 18. Januar auf die Tagesordnung bringen. Wieder einmal wird sich Innenminister Herbert Reul unbequemen Fragen stellen müssen. Dabei könnte es auch um Sinn und Unsinn von Tasern gehen, über deren Gebrauch in der schwarz-grünen Koalition ohnehin keine Einigkeit herrscht. Die CDU ist dafür, die Grünen dagegen. Sie nennen ihn nur "eine weitere potenziell tödliche Waffe". Im Koalitionsvertrag hat man sich auf eine Testphase bis 2024 geeinigt.
Ibrahim B. sei aufgewachsen als zweitältester Sohn seiner Eltern in Linsan bei Kindia im westafrikanischen Guinea, erzählt Baldé, sie hat B.s Geschichte in vielen unterschiedlichen Telefonaten mit seinen Angehörigen erfahren. Einem Land, das sich seit vielen Jahren politisch in kritischem Zustand befindet. Gerade junge Menschen hätten kaum Perspektive, sagt Baldé. Im Jahr 2018 habe B. beschlossen, nach Europa zu fliehen. In einem Flüchtlingsboot habe er das Mittelmeer überquert, sich nach Deutschland durchgeschlagen, zunächst nach Bottrop, von wo aus er dann von den Behörden in eine Unterkunft in Mülheim an der Ruhr verteilt worden sei. Sein Asylantrag sei abgelehnt worden, er lebte mit einer Duldung, einen richtigen Job hatte er nicht, stattdessen große Schwierigkeiten, sich in Deutschland zurechtzufinden. Das Geld vom Amt, sagt Baldé, teilte er mit seiner Familie in der Heimat. "Das machen die meisten so."
B. war polizeibekannt
Der Polizei war B. laut Staatsanwalt schon länger bekannt, insbesondere wegen Gewaltdelikten. Nach Informationen von ZEIT ONLINE hat er bereits eine Gefängnisstrafe verbüßt. Bestätigen will das die Ermittlungsbehörde nicht. Dass er beim Anblick der Polizei die Nerven verliert, sei nicht verwunderlich, sagt Aissatu Baldé. "Gerade junge Menschen reagieren oft über, weil sie von der Armee und der Polizei in ihrer Heimat oft nur Gewalt kennen." Sie fragt: "Musste die Polizei wirklich so hart gegen ihn vorgehen?"
Der Einsatz von Tasern ist umstritten. Gerade bei Älteren, Schwangeren und Menschen mit Herzproblemen kann er mitunter tödliche Folgen haben. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen hat für den Gebrauch der Taser, sogenannter Distanzelektroimpulsgeräte (DEIG), Dienstanweisungen erlassen. Darin heißt es etwa, dass der Einsatz von Tasern zur Bewältigung dynamischer Lagen ungeeignet sei. Soll heißen: Wenn eine Person Polizisten bedroht oder angreift, ist der Taser das falsche Mittel.
In Nordrhein-Westfalen gab es bereits andere Todesfälle. Erst im November starb in Köln ein Mann nach einem Polizeieinsatz, bei dem auch ein Taser verwendet worden war. Er hatte in einer Wohnung gebrüllt und gewütet. Wie im Fall von Ibrahim B. hatte auch bei ihm der Elektroschock zunächst keine Wirkung gezeigt. Im Rettungswagen wurde ihm laut Polizei ein Medikament verabreicht, kurz darauf starb er. Woran genau, ist auch hier noch nicht bekannt. Das chemisch-toxikologische Gutachten liege noch nicht vor, teilte die Kölner Staatsanwaltschaft am Montag auf Anfrage von ZEIT ONLINE mit. "Eine sichere Aussage über die Kausalität zwischen Taser-Einsatz und Tod des Mannes kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht getroffen werden."
Auch beim Einsatz gegen den 16 Jahre alten Mouhamed Dramé im August 2022 in Dortmund hatten Beamten einen Taser verwendet, kurz darauf allerdings auch zusätzlich mehrere Schüsse auf ihn abgefeuert. Der Geflüchtete aus dem Senegal starb. Nur drei Monate später starb ebenfalls in Dortmund ein Mann, gegen den die Polizei einen Taser eingesetzt hatte. Wie Ibrahim B. kollabierte er zunächst im Rettungswagen. Versuche, den 44-Jährigen zu reanimieren, scheiterten. Laut Obduktion war der Mann schwer herzkrank.
1.245 Taser-Einsätzen in NRW
Viele Bundesländer lehnen einen flächendeckenden Gebrauch von Tasern ab. In Baden-Württemberg etwa dürfen nur Spezialkräfte das Gerät tragen. Entsprechend niedrig sind die Zahlen. Im Jahr 2023 wurde der Taser dort kein einziges Mal eingesetzt, im Jahr davor nur viermal, berichtete der SWR im Dezember unter Berufung auf das Innenministerium in Stuttgart. In Nordrhein-Westfalen dagegen, wo der Elektroschocker zur Grundausstattung vieler Polizeipräsidien gehört, ist man mit dem Taser schneller bei der Hand. Hier kam es nach Auskunft des Innenministeriums allein von Januar bis einschließlich November 2023 zu insgesamt 1.245 Taser-Einsätzen. In 1.003 Fällen blieb es jedoch bei der Androhung, ihn abzufeuern, teilte das Innenministerium auf Anfrage mit. Von den 237 Personen, auf die mit dem Taser geschossen wurde, mussten 81 ambulant und 18 stationär medizinisch versorgt werden. Allerdings seien nicht alle Behandlungen auf den Einsatz des Tasers zurückzuführen, betont die Behörde.
Geht es nach dem Bundesjustizminister, könnte Nordrhein-Westfalen bundesweites Vorbild sein. Kurz vor Weihnachten hatte Marco Buschmann (FDP) sich mit Blick auf Gewalt gegen Einsatzkräfte für einen Einsatz von Tasern in allen Bundesländern ausgesprochen. Buschmann schrieb: Die Datenerhebungen deuteten darauf hin, dass von Tasern "eine Präventivwirkung ausgeht".