Geschafft! Aus Polen und Belarus in Deutschland angekommen

29.10.2021 Im Interview mit einer Seelsorgerin, die in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt tätig ist, erfahren wir von dem harten Weg Schutzsuchender, die auf der Nord-Ost-Route nach Deutschland gelangen.

»Fast alle haben Blutergüsse am Körper«

Schläge, Kälte, Angst um ihre Kinder - und Freude darüber, es geschafft zu haben. Die Schutzsuchenden, die über Belarus und Polen nach Deutschland kommen, haben viel durchgemacht. Einige sprechen darüber mit Josephine Furian, seit zweieinhalb Jahren Seelsorgerin in der Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt. Im Interview berichtet sie.

Seit einigen Wochen kommen viele Schutzsuchende zu Ihnen und Ihren Kollegen in den Seelsorgeraum der Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt, die über Belarus und Polen nach Deutschland geflohen sind. Was bewegt diese Schutzsuchenden am meisten?

 

Ein großes Thema ist der Fluchtweg mit allem, was auf dem Weg passiert ist. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Erlebnisse und Gefühle: Freude, Stolz, Dankbarkeit, Scham, Angst, Wut. Viele sind froh, dass sie die Flucht überstanden haben und zunächst dankbar, dass sie eine Unterkunft haben. Und manchmal auch stolz, so wie ein Mann, der es trotz seiner  Beinprothese durch den Wald über die Grenzen geschafft hat.

Warum schämen sich manche?

Zum Beispiel der Vater, der mir erzählt hat, dass er sich schämt, weil er vor den Augen seiner Kinder von polnischen Uniformierten zusammengeschlagen wurde und sich nun schwach fühlt  gegenüber seinen Kindern. Dazu muss ich sagen: Fast alle männlichen Geflüchteten, mit denen ich rede und die über Polen kamen, haben Hämatome am Körper. Und teilweise haben die Menschen auch Erfrierungen, zum Beispiel  an den Füßen, weil sie in der Kälte durch sumpfiges Gebiet gelaufen sind oder in der Kälte campieren mussten.

Das alles löst Ängste und Wut aus?

Ja. Zum Beispiel erzählten Eltern mir, dass ihre Kinder beim Durchqueren des Flusses von der Strömung weggerissen wurden. Sie haben sich erst einige Tage später wiedergefunden, ein Bekannter hatte die Kinder entdeckt und zu ihnen gebracht. Wütend berichten viele Geflüchtete mir, dass ihnen nach dem Überqueren der polnisch-deutschen Grenze in Deutschland die Handys weggenommen worden seien. Das ist wirklich schlimm, denn die Handys sind wie Lebensadern für sie. Fotos, Videos, Ermutigungen,  Kontakte sind darin. Verbindungen zu Menschen in der Heimat, aber auch zu Menschen, die sie auf der Flucht getroffen haben. Und sie brauchen auch diese neuen Bekannten, um sich in der Fremde neue Netzwerke aufbauen zu können, denn ihre Familie haben sie zurückgelassen.

Sie sind seit zweieinhalb Jahren als Seelsorgerin in der Erstaufnahme Eisenhüttenstadt. Was ist anders bei denen, die jetzt ankommen und seelsorgerlichen Rat bei Ihnen suchen?

Alle Geflüchteten leiden unter den großen Gefahren, denen sie bei der Überwindung der Grenzen  ausgesetzt waren. Oft waren sie in Lebensgefahr und hatten Todeserfahrungen! Jetzt berichten die Geflüchteten von der Bedrohung durch den Wald und die Uniformierten. Bei Menschen, die über andere Fluchtwege kamen,  ging die Bedrohung vom Meer oder von den Gefängnissen in Libyen aus.

»Aktuell gibt es Engpässe bei der Kleidung und auch beim Essen. Die Letzten in der Essenschlange haben einige Tage nicht genug oder nichts mehr bekommen.«

Wie viele Männer, Frauen und Kinder  kommen derzeit in Eisenhüttenstadt an nach Ihrer Beobachtung?

Im vergangenen Jahr waren es etwa zehn Menschen pro Tag, seit einigen Wochen sind es auch mal 100 am Tag.

Aus welchen Ländern?

Viele sind Kurdinnen und Kurden aus dem Irak, einige aus dem Iran oder aus Syrien. Auch aus Afghanistan sind ein paar Menschen dabei, sie haben oft einen langen Weg über Russland und Belarus hinter sich. Wenige kommen aus Kenia oder Kamerun.

Werden sie gut versorgt in Deutschland?

Nach dem, was die Geflüchteten mir berichten, nicht immer. Aktuell gibt es Engpässe bei der Kleidung und auch beim Essen. Die Letzten in der Essensschlange haben einige Tage nicht genug oder nichts mehr bekommen. Eine polnische Journalistin, die das mitbekommen hat, schickt jetzt drei große Pakete mit Kleidung. Und eine lokale feministische Gruppe diskutiert darüber, eine Küfa, Küche für alle, zu organisieren.  Denn in dem neuen Gebäude, das von den Behörden in den vergangenen Wochen eröffnet  wurde,  gibt es teilweise keine Kochmöglichkeit. Und auch gar kein Internet oder so gut wie keines. Das heißt, die Geflüchteten können keinen Kontakt aufnehmen zu Familie, neuen Bekannten oder Organisationen, die Beratung anbieten.

Geflüchtete werden in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht. Das kann retraumatisierend wirken.

Mussten noch mehr neue Unterkünfte eröffnet werden?

Ja, auch große, beheizbare Zelte, Container und das ehemalige Abschiebegefängnis.

Geflüchtete werden in einem ehemaligen Gefängnis untergebracht?

Das ist ganz schlimm, die Gefängnisatmosphäre ist zu spüren und die  Fenster sind vergittert. Das kann retraumatisierend wirken für Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen, weil sie dort bedroht sind, oder die auf der Flucht misshandelt wurden.

 

Was können Sie als christliche Seelsorgerin für die Schutzsuchenden tun?

Wir, das heißt meine katholische Kollegin und ein koptischer Kollege vom Jesuiten Flüchtlingsdienst, haben einen eigenen Seelsorgeraum in der Erstaufnahmeeinrichtung. In diesem Schutzraum können wir Seelsorge und damit auch Entlastungsgespräche  anbieten.  Zu uns kommen Gläubige aller Religionen, ebenso auch nicht-gläubige Menschen. Meiner Erfahrung nach kann der Glaube Menschen helfen, die Resilienz  zu stärken und schreckliche Erlebnisse auf der Flucht zu verarbeiten. Sie sagen zum Beispiel: Im Meer bin ich fast gestorben, aber Gott hat mich gerettet, ich bin auferstanden. Oder: Gott ist in mir. Und wirkt stärker als die Dämonen des Rassismus.

(wr)