20.09.2022 Wir zitieren aus den News von Pro Asyl: Interview mit Josephine Liebl vom Europäischen Flüchtlingsrat ECRE.
Derzeit wird in Brüssel über den Vorschlag für eine neue EU-Verordnung diskutiert, die das europäische Asylsystem grundlegend verändern würde. Josephine Liebl vom Europäischen Flüchtlingsrat ECRE erklärt die schwerwiegenden Folgen. Das Asylrecht als Ganzes steht zur Disposition, wenn EU-Länder nach Belieben Ausnahmeregelungen erlassen können.
Aktuell wird im Rat der EU über den Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung diskutiert, die es den Mitgliedstaaten erlauben soll, im Falle einer »Instrumentalisierung« von Asyl und Migration von ihren Verpflichtungen nach dem Asylrecht abzuweichen. Was ist so gefährlich daran?
Diese Verordnung würde es den Ländern ermöglichen, ganz offiziell vom geltenden EU-Recht abzuweichen, also Asylstandards nicht anzuwenden. Es klingt absurd, aber es handelt sich tatsächlich um einen Gesetzesvorschlag, der regulieren soll, wann das Recht ausgesetzt wird. Alle Versuche, die Mitgliedstaaten anzuhalten, das Asylrecht einzuhalten, werden durch diesen Gesetzesvorstoß torpediert.
Schon jetzt gibt es in diversen EU-Ländern Probleme mit der Nichteinhaltung des Rechts. In den vergangenen Jahren haben verschiedene EU-Staaten an ihren Grenzen immer wieder das Asylrecht verletzt – doch das ist bislang illegal. Mit der neuen Verordnung würden solche Rechtsbrüche also in Gesetzesform gegossen?
Genau. Es soll zwar Regeln geben, unter welchen Umständen die Länder die geltenden Standards senken dürfen, aber diese Umstände sind so breit gefasst, dass Regierungen schon in alltäglichen Situationen – zum Beispiel, wenn Flüchtlinge versuchen, außerhalb der offiziellen Grenzübertritte ins Land zu gelangen – sagen könnten: »Wir werden instrumentalisiert und sind deshalb berechtigt, die Menschenrechte und das geltende EU-Recht auszusetzen.« Wir von ECRE befürchten, dass Regierungen wie die polnische oder die griechische künftig permanent mit einer Ausnahmesituation argumentieren werden, um das Recht zu umgehen.
Durch die Ausnahmeregelungen steigt die Gefahr von illegalen Pushbacks und weiteren Menschenrechtsverletzungen.
Welche künftig erlaubten Ausnahmeregelungen sind denn vorgesehen?
Die Mitgliedstaaten dürften zum Beispiel bis zu vier Wochen warten, bis sie Asylanträge registrieren. Wir wissen aus Erfahrung – etwa an der griechisch-türkischen Grenze – dass die Gefahr von illegalen Pushbacks steigt und weitere Menschenrechtsverletzungen auftreten, wenn die Menschen nicht registriert sind. Denn dann weiß offiziell niemand, dass sie existieren und um Schutz bitten – das öffnet dem Missbrauch und der Willkür Tür und Tor.
Was wird unter Instrumentalisierung überhaupt verstanden?
Was genau unter Instrumentalisierung zu verstehen ist, bleibt vage. Es geht weit hinaus über die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze, man kann alles da reinlesen. Damit ein Mitgliedstaat verkünden kann, dass er instrumentalisiert wird, ist es nicht nötig, dass eine bestimmte Anzahl an Menschen ins Land kommt. Stattdessen kann einfach jeder Staat behaupten, ein anderes Land oder ein nicht-staatlicher Akteur motiviere Menschen dazu, an seine Grenzen zu kommen, um die EU zu destabilisieren. Das wäre ausreichend, damit ein Mitgliedstaat argumentieren kann, die Ausnahmeregelungen in Anspruch nehmen zu dürfen.
Das sogenannte Grenzverfahren soll dem Kommissionsvorschlag zufolge ausgeweitet werden. Was bedeutet das?
Das bedeutet, dass die Asylanträge direkt an der Grenze gestellt und die Geflüchteten auch dort festgehalten werden, um sie schneller abschieben zu können. Das ist bedenklich, weil sie dort beispielsweise keinen Zugang zu Anwält*innen oder Unterstützer*innen haben, weil die Standards zu Unterbringung und Rechtsschutz gesenkt werden gegenüber denen, die in Erstaufnahmeeinrichtungen gelten, und weil die Zivilgesellschaft in der Regel kaum etwas von all dem mitbekommt – schließlich sind die Lager ja weit weg an den Grenzen. Elemente dieses Vorschlags sind bereits im Pakt für Migration und Asyl vorgesehen, der vor ziemlich genau zwei Jahren vorgestellt wurde und den wir aus den oben genannten Gründen kritisieren. Die Grenzverfahren dürfen bis zu 16 Wochen dauern. Vier Monate lang werden schutzsuchende Menschen also inhaftiert. Besonders erschreckend: Der Kommissionsvorschlag sieht dabei keine Ausnahmen für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge wie Kinder, Schwangere oder Traumatisierte vor. Sie alle sollen ganz legal eingesperrt werden dürfen – und das nur, weil sie in der EU um Schutz bitten wollen.
»Wenn Europa erklärt, dass die Menschenrechte in bestimmten Situationen einfach nicht mehr gelten, werden viele andere Länder das nachahmen. Diese Verordnung hätte nicht nur Folgen für Europa, sondern sie stellt das globale Recht auf Schutz infrage.«
Wer definiert überhaupt, ob es sich um Instrumentalisierung handelt oder nicht?
Nach dem Vorschlag der Kommission soll es so ablaufen, dass ein Mitgliedstaat, der sich instrumentalisiert fühlt, das äußert. Die Kommission schaut sich den konkreten Fall dann an und macht einen Vorschlag zum weiteren Vorgehen, über den die Nationalstaaten im Rat mit qualifizierter Mehrheit abstimmen. Somit hätte man durch die Kommission eine gewisse Kontrollinstanz. Momentan liegt der Vorschlag der Verordnung allerdings bei der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft. Und viele Mitgliedstaaten wünschen sich eine viel aktivere Rolle des Rates, also der Nationalstaaten. Das lesen wir als Versuch, die EU-Kommission zu schwächen.
In einem Brandbrief von ECRE zu dem Gesetzesvorhaben, der von PRO ASYL und rund 70 NGOs aus ganz Europa unterzeichnet wurde, ist auch die Rede von einem »letzten Schlag gegen ein gemeinsames europäisches Asylsystem«. Was ist damit gemeint?
Die Verordnung würde einem gemeinsamen europäischen Asylsystem den Todesstoß versetzen. Das bereits existierende Gefälle innerhalb der EU würde verstärkt: Binnenländer halten Standards ein, Länder mit Außengrenzen senken sie. Anstatt dass die Kommission alles tut, um die Mitgliedstaaten dazu zu bewegen, EU-Recht anzuwenden, geschieht das Gegenteil: Die Kommission geht auf diejenigen Regierungen zu, die bereits heute das EU-Recht brechen, und legitimiert diese Rechtsbrüche quasi nachträglich. Ganz nach dem Motto: Wenn unsere Mitglieder die Standards nicht einhalten, senken wir sie eben. So wird ein Rechtsrahmen kreiert für einen permanenten Ausnahmezustand an den Außengrenzen. Menschen durchlaufen dann ein zweitklassiges Asylverfahren, das zur Normalität wird. Die EU sendet mit diesem Vorschlag ein verheerendes Signal in die Welt. Was sagt es über uns aus, dass wir unser eigenes Recht missachten? Wenn Europa erklärt, dass die Menschenrechte in bestimmten Situationen einfach nicht mehr gelten, werden viele andere Länder das nachahmen. Diese Verordnung hätte nicht nur Folgen für Europa, sondern sie stellt das globale Recht auf Schutz infrage.
Ist die Position der Bundesregierung zum Kommissionsvorschlag bekannt?
Wir wissen, dass derzeit darüber diskutiert wird. Leider haben wir von der Bundesregierung bisher nicht gehört, dass sie die geplante Absenkung von Asylstandards kategorisch ablehnt. Hier vermissen wir klare Worte und eine unmissverständliche Verurteilung des Kommissionsvorschlags. Mit Blick auf die Standards zur Unterbringung und die Tatsache, dass es keine Ausnahmen für vulnerable Gruppen – also für besonders Schutzbedürftige – geben soll, ist die Bundesregierung wohl nicht ganz einverstanden, aber sie stellt die Sinnhaftigkeit der Verordnung insgesamt leider nicht infrage. Belgien und Luxemburg hingegen stellen diese große Systemfrage. Es wäre außerordentlich hilfreich, wenn sich ein großer und wichtiger EU-Staat wie Deutschland hier klarer positionieren würde.
Wie geht es nun auf politischer Ebene weiter, was sind die nächsten Schritte?
Am 21. September wird erneut die Asylarbeitsgruppe des Rates über den Vorschlag diskutieren. Im Anschluss wird die tschechische Ratspräsidentschaft wohl bilaterale Gespräche mit den anderen Mitgliedsländern führen. Im November tagt wieder die Asylarbeitsgruppe, und bis Ende des Jahres will die tschechische Ratspräsidentschaft das durchgeboxt haben. Leider hat bislang niemand im Rat dezidiert gesagt: »Wir können damit nicht leben.« Hat sich der Rat einmal geeinigt, baut er in der Regel Druck aufs Europäische Parlament aus, ebenfalls schnell zu einer Einigung zu kommen. Das gilt es zu verhindern.
Was fordert ECRE?
NEWS
Richtungsentscheidung zum »New Pact«:
Alarmierende Signale aus dem EU-Parlament
Dieser Vorschlag muss vom Tisch! Wir fordern, dass es nicht zu einer Kodifizierung von »Instrumentalisierung» im EU-Recht kommt und dass die damit verbundenen Ausnahmen nicht beschlossen werden. Denn wenn diese einmal verankert sind im EU-Recht, wird es extrem schwer werden, sie wieder loszuwerden. Wenn die Verabschiedung einer gemeinsamen Verhandlungsposition bis Dezember gelingt, wäre dies eines der am schnellsten voranschreitenden asylrelevanten Gesetzgebungsvorhaben im Rat. Wir hoffen, dass es während der laufenden Legislaturperiode der Kommission, die noch bis Mai 2024 andauert, zu keiner Einigung kommen wird und eine neue Kommission dann stärker menschenrechtlich orientiert auftritt und den Vorschlag zurückzieht.
(er)