Griechische Abschreckungspolitik: Von der schützenden Wohnung zurück ins Lager

09.01.2023 Aus den News von Pro Asyl:

Griechische Abschreckungspolitik: Von der schützenden Wohnung zurück ins Lager

Während in Griechenland Weihnachten gefeiert wurde, mussten Hunderte Flüchtlinge ihre Wohnungen, vertraute Nachbarschaften, Schulen und Jobs verlassen und in kalte Lager-Container ziehen, darunter kleine Kinder und kranke Menschen. Refugee Support Aegean, Partnerorganisation von PRO ASYL, hat mit Betroffenen gesprochen.

Obwohl die Europäische Kommission das Notfallprogramm zur Integration und Unterbringung (ESTIA II) für vulnerable Asylsuchende weiterhin finanzieren wollte, hat die griechische Regierung darauf bestanden, das Programm zu beenden. Zivilgesellschaftliche Organisationen, Lehrkräfte und Flüchtlinge haben ihr Entsetzen über diesen Rückschritt bei Schutz und Integration ausgedrückt und fordern eine Fortsetzung des Wohnungsprogramms.

RSA – Das PRO ASYL Projekt in der Ägäis

Wohn-Programm sollte Schutz und Sicherheit bieten 

Hunderte Familien wurden bereits von ihren Wohnungen in Flüchtlingscamps zurückgeschickt oder warten auf die Zwangsräumung und Überstellung dorthin.  Tausende Menschen sind bereits von Räumungen oder Überstellungen in Camps betroffen, seitdem die Regierung im Februar 2022 das Ende des ESTIA-Programms bekannt gegeben hatte, als mit diesem noch etwa 12.500 Menschen eine Wohnung hatten.

ESTIA steht für Emergency Support to Integration and Accommodation. Ziel war, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge wie Kinder, Kranke,  Alleinerziehende und geschlechtsspezifisch Verfolgte, die noch im Asylverfahren sind, aus den Lagern mit ihren oft katastrophalen Lebensbedingungen herauszuholen und in Wohnungen unterzubringen.

Umfassende Abschreckungspolitik der griechischen Regierung 

Geflüchtete berichten, dass sie nur kurz und mündlich über ihren erzwungenen Umzug in die Flüchtlingslager informiert wurden, oft sogar, ohne den genauen Ort anzugeben. Plötzlich mussten Kinder ihre Schulen und Freund*innen verlassen, Erwachsene ihre Sprach- und Berufskurse, Personen mit Gesundheitsproblemen mussten ihre Behandlung unterbrechen. Diejenigen, die Gelegenheitsarbeiten gefunden hatten, mussten weit wegziehen von ihren Arbeitsmöglichkeiten.

Die Entscheidung der griechischen Regierung, ESTIA II zu beenden, kann als Teil einer umfassenderen Abschreckungspolitik verstanden werden, die darauf abzielt, Asylsuchende in kontrollierten und abgeschiedenen Lagern zu isolieren. Diese Entscheidung steht in derselben Reihe mit der Beendigung des Unterbringungsprogramms FILOXENIA in Hotels, der schrittweisen Einstellung der alternativen Unterbringung auf den Inseln und der Schließung von Lagern in der Nähe von städtischen Gebieten wie Skaramangas und Eleonas in der Region Attika.

Kinder leben hinter Betonwänden und Stacheldraht

Nun sind staatliche Unterstützungen nur noch für Geflüchtete zugänglich, die in Lagern leben, verborgen hinter drei Meter hohen Betonwänden und Stacheldraht. Seit der Einführung von HYPERION, einem umstrittenen Überwachungssystem, das derzeit von der griechischen Datenschutzbehörde überprüft wird, werden die Camp-Tore von privaten Sicherheitsleuten kontrolliert.  Kameras wurden installiert und die Bewohner*innen müssen sich ausweisen, um eintreten zu können. Camps, die früher als »offene temporäre Aufnahmeeinrichtungen« bekannt waren, werden seit 2021 offiziell als »kontrollierte temporäre Unterkünfte für Asylbewerber«  bezeichnet. Die Unterbringung in diesen Lagern ist inzwischen die einzige Möglichkeit und zugleich Bedingung für Asylsuchende während ihres Asylverfahrens.

 

Personal in Lagern wird reduziert 

Ende November teilte die Internationale Organisation für Migration (IOM) ihren Mitarbeitenden  mit, dass sie 60 Prozent des Personals, das in den Camps im Rahmen des Programms Harmonizing Protection Practices in Greece (HARP) arbeitet, bis Ende 2022 entlassen und damit die Unterstützung für die am stärksten gefährdeten Personen drastisch einschränken werde.  Die betroffenen Mitarbeitenden protestierten und streikten.

Nach Angaben der Beschäftigten kam die Ankündigung überraschend. Sie befürchten, dass die Entscheidung, die Unterstützung in den Camps zu verringern, die Bedürfnisse und das Wohl der beträchtlichen Anzahl der Bewohner*innen nicht berücksichtigt. Sie kritisieren zudem, dass es keinen  Übergangsplan gibt, der die Fallbetreuung und Übergabe regelt, bis die Betreuung durch die Regierung übernommen wird. Stattdessen werden die Menschen in den Lagern plötzlich mit weniger rechtlicher, sozialer und psychologischer Betreuung zurückgelassen.

Anfang Dezember 2022 haben sich zehn Menschenrechtsorganisationen, darunter Refugee Support Aegean (RSA), an das griechische Ministerium für Migration und Asyl gewandt, um ihre große Besorgnis in Bezug auf die Beendigung von ESTIA II und die Verlegung der vulnerablen Asylbewerber in die Camps zum Ausdruck zu bringen. Die Organisationen wiesen auf die von der Ombudsstelle bereits zuvor geäußerten schwerwiegenden Bedenken hin und forderten den Staat auf, das Programm ESTIA II weiterhin zu finanzieren.

RSA hat exemplarisch die Geschichten von vier Betroffenen und ihren Familien zusammengetragen (s. Pro Asyl).

»[…] Als ihr Vater fühle ich mich hoffnungslos, weil ich nichts tun kann, damit sie hier bleiben können, wo sie sich frei fühlen. Ich habe Angst, dass sie im Lager depressiv werden […]«

»[…]Als ich vor einem Monat in das Lager verlegt wurde, hatte ich das Gefühl, dass man mich dort abgeladen hat[…]«

»[…] Wir wurden jeglicher Chance auf Heilung und Integration beraubt […]«

»[…] Man sagte uns, wir hätten keine andere Wahl. Jetzt sind wir in dem Lager. Wir müssen wieder bei Null anfangen […]«