10.03.2025 Zu einem gerade veröffentlichten Bericht zu den Schiffsunglücken mit Geflüchteten in Griechenland im Jahr 2024 führte Pro Asyl ein Interview mit Anwältin bei Refugee Support Aegean (RSA), die die Überlebenden und Familien der Toten vertritt.
Wir zitieren aus den News von Pro Asyl:
Mindestens 120 Flüchtlinge sind im vergangenen Jahr bei Bootsunglücken in griechischen Gewässern gestorben oder gelten als vermisst. Das offenbart ein Bericht von Refugee Support Aegean (RSA). Natassa Strachini vertritt als Anwältin die Überlebenden und Familien der Toten. Im Interview spricht sie über die aktuellen Zahlen und ihre Arbeit.
RSA, die griechische Schwesterorganisation von PRO ASYL, hat heute einen Bericht zu den Schiffsunglücken mit Geflüchteten in Griechenland im Jahr 2024 veröffentlicht. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?
61 Flüchtlinge wurden im Jahr 2024 bei 27 Schiffsunglücken in Griechenland tot geborgen, weitere 59 werden vermisst und gelten nun als tot. Darüber hinaus wurden auf der türkischen Seite der Ägäis bei acht Schiffsunglücken mindestens 42 Todesfälle und neun vermisste Personen gemeldet. Wohlgemerkt ist das nur die Spitze des Eisbergs. Wir vermuten sehr viel mehr Tote. Auf Flüchtlingsbooten werden schließlich keine Passagierlisten geführt, sodass es schwer ist, bei Unglücken überhaupt herauszufinden, wer sich an Bord befand. Wir schätzen, dass im Jahr 2024 insgesamt mindestens 171 Menschen in der Ägäis bei 35 Schiffsunglücken von Flüchtlingen ihr Leben verloren haben oder vermisst werden.
Was ist über die Toten und Vermissten bekannt? Kennst du die Geschichten hinter den Zahlen?
In einigen Fällen schon. Wir von RSA vertreten mithilfe von PRO ASYL Familienmitglieder der Toten vor Gericht und unterstützen sie bei ihrer Suche nach den sterblichen Überresten ihrer Verwandten. Jeder einzelne Fall, den ich im Laufe der Jahre begleitet habe, ist eine Tragödie. Ich denke da zum Beispiel an die beiden Kinder, deren Mutter bei einem Schiffsunglück über Bord ging. Sie überlebten und wurden auf die Insel Leros gebracht. Der Leichnam ihrer Mutter wurde schließlich gefunden und sie wurde auf Rhodos begraben.
Nimmt die Zahl der Schiffsunglücke in Griechenland und der Türkei kontinuierlich zu oder wie sind die Zahlen einzuordnen im Vergleich zu den letzten Jahren?
Wir stellen fest, dass die Zahl der Schiffbrüche zugenommen hat. Das Fehlen sicherer und legaler Wege für Menschen, die in der EU Asyl suchen, in Verbindung mit systematischen Abschreckungspraktiken an den EU-Außengrenzen treibt unzählige Menschen in den Tod. Neu ist, dass nun auch Kreta zu einem Hotspot zu werden scheint. Bisher haben wir Schiffsunglücke vor allem in der östlichen Ägäis beobachtet, rund um die Dodekanes-Inselgruppe, etwa bei Lesbos, Rhodos oder Kos. Im vergangenen Jahr hat hingegen die Zahl der Schutzsuchenden, die versuchen, den Süden Kretas zu erreichen, zugenommen. Allein in der letzten Woche sind mehr als 600 Schutzsuchende laut Medienberichten dort angekommen. Kreta ist darauf nicht vorbereitet, es gibt bislang kaum Aufnahmestrukturen.
Kurz vor Weihnachten kam es vor Rhodos zu einem Vorfall, in dem die griechische Küstenwache involviert war, die laut Zeugenaussagen ein Flüchtlingsboot rammten. Was ist zu diesem Fall bislang bekannt?
Nach Aussagen von Überlebenden hat am 20. Dezember 2024 ein Schiff der griechischen Küstenwache ein Boot mit 27 Personen vor Rhodos gewaltsam gerammt, was zum Tod von acht Personen führte. Ein vierjähriges Kind gilt noch immer als vermisst. Von den acht Toten wurden drei zerstückelt geborgen, ohne Kopf, ohne Arme oder Beine. Das zeigt das Ausmaß der Brutalität. Bei dem katastrophalen Unglück vor Pylos, bei dem über 600 Menschen ihr Leben verloren haben, hat die Küstenwache lange nicht gerettet, schließlich war es zu spät. Der Schiffbruch vor der Küste von Rhodos reiht sich also ein in eine erschreckende Reihe von Fällen, bei denen der Tod von Schutzsuchenden seitens der Küstenwache bewusst in Kauf genommen oder sogar herbeigeführt wird.
Die Menschen interessiert das schon noch, aber es ist kein Schock mehr wie noch vor einigen Jahren.
Vor zehn Jahren ging das Bild des kleinen Jungen Alan Kurdi, der tot an einen Strand angespült wurde, um die Welt. Wie sieht das heute aus? Wird in griechischen Medien berichtet über Vorfälle wie den in Rhodos oder haben Sie den Eindruck, die Menschen haben sich daran gewöhnt?
Die Menschen interessiert das schon noch, aber es ist kein Schock mehr wie noch vor einigen Jahren. Für die Bewohner*innen der Inseln, auf denen Flüchtlinge anlanden oder tot angespült werden, hat das natürlich eine andere Dimension. Ich habe selbst mein ganzes Leben lang auf den Inseln Chios und Lesbos gelebt und weiß: Die lokale Bevölkerung fühlt sich ebenso wie die Flüchtlinge gefangen und allein gelassen. Die Zustände sind katastrophal, und das schon seit Jahren. Wenn, wie im letzten Herbst, viele Schutzsuchende die Inseln erreichen, müssen sie zum Schlafen auf den nackten Boden ausweichen. Auf Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos werden die Menschen in EU-finanzierten gefängnisartigen Zentren zunächst eingesperrt. Das miterleben zu müssen, ist für die griechische Bevölkerung auf den Inseln schwer. Viele sind erschöpft und vertreten zunehmend konservative Positionen.
Du und deine Kolleg*innen begleiten mit Unterstützung von PRO ASYL viele Überlebende. Was genau tun Sie, um den Menschen zu helfen?
Wir begleiten Überlebende, aber auch Angehörige der Toten. Die Menschen zu begleiten, ist herzzerreißend. Wir helfen den Familien, die Toten zu identifizieren und für ein würdiges Begräbnis zu sorgen. Das kann hier in Griechenland sein oder aber eine Rückführung des Leichnams ins Heimatland bedeuten. Letzteres ist teuer: Solch eine Rückführung – etwa nach Afghanistan – kostet rund 5000 Euro. Das ist für viele Geflüchtete kaum zu finanzieren. Die Identifizierung der Toten ist enorm wichtig für Angehörige, um die Trauer verarbeiten zu können. Wer den Leichnam nicht gesehen hat, dem fällt es oft schwer, zu begreifen, dass der geliebte Mensch tatsächlich tot ist. Wir vermitteln bei diesem Prozess zwischen den griechischen Behörden und den Flüchtlingen beziehungsweise ihren Angehörigen.
Die ständige Unterstützung durch PRO ASYL in derartigen Fällen ist für unsere Arbeit äußerst wichtig.
Du und das Team von RSA leistet auch juristische Unterstützung und zieht vor Gericht.
Ja, wenn Gewaltanwendung seitens der Küstenwache vermutet wird, unterstützen wir die Betroffenen vor Gericht – und zwar vom ersten Schritt bis zum letzten. Die Prozesse ziehen sich zum Teil über Jahre hin. Im Fall des Unglücks von Farmakonisi etwa hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst acht Jahre später entschieden – und Griechenland in allen zentralen Punkten verurteilt. Die ständige Unterstützung durch PRO ASYL in derartigen Fällen ist für unsere Arbeit äußerst wichtig.
Im Laufe deiner Zeit bei RSA hast du viel Erfahrung mit der Aufarbeitung von Schiffsunglücken und der Unterstützung von Hinterbliebenen sammeln müssen. Welcher Fall lässt dich nicht los?
2018 starb bei einem Unglück vor der Insel Agathonisi eine ganze Familie. Insgesamt kamen sechzehn Personen ums Leben, darunter sieben Kinder und zwei Säuglinge. Das kann ich nicht vergessen. Ein weiterer Fall ist der des Mädchens Reswana. Sie floh mit ihrer Familie im Oktober 2015 aus Afghanistan über das Mittelmeer. Das Boot kenterte, unter den vielen Toten waren auch Reswanas Eltern und ihre Geschwister. Sie war damals 14 Jahre alt und überlebte als Einzige ihrer Familie. Dieses Schiffsunglück vor der Küste von Lesbos war eines der schlimmsten für mich. Mir wurden Kinder in die Arme gedrückt, die dem Tod nahe waren und die ich und meine Kolleg*innen zusammen mit Krankenschwestern versorgten.
Wie schaffst du es, all die tragischen Todesfälle nicht gedanklich mit nach Hause zu nehmen, sondern professionelle Distanz zu wahren?
Das ist nicht einfach. Ich bin emotional sehr involviert. Professionelle Distanz zu wahren, gelingt nicht immer. Wenn es um die Identifizierung von Toten geht, um Begräbnisse und die Trauer der Angehörigen, kann man das nicht nur aus professioneller Warte betrachten, es rührt mich menschlich an. Ich mache diese Arbeit, weil es mir wichtig ist, den Überlebenden und den Toten ihre Würde und ihre Rechte zurückzugeben.
Haben Sie für sich Strukturen entwickelt, um mit dieser enormen psychischen Belastung umzugehen?
Zeitweise haben wir Unterstützung durch Supervision. Aber was uns antreibt, sind die Geflüchteten selbst. Sie benötigen unsere Unterstützung und wir konzentrieren uns darauf, wie wir helfen können. Wir versuchen, Lösungen zu finden, wie sie ihre toten Familienmitglieder in Anstand und Würde beerdigen und von ihnen Abschied nehmen können. Unsere Kraft schöpfen wir aus der Stärke, die die Geflüchteten selbst mitbringen. Sie sind so viel stärker als wir.
Inwiefern hat sich durch diese Arbeit dein Blick auf die EU verändert?
Ich glaube immer noch an die Werte der EU. Aber dass andere EU-Länder und Institutionen vor den schrecklichen Tragödien, die sich hier bei uns abspielen, die Augen verschließen und so tun, als wüssten sie nichts davon, finde ich empörend. Da heißt es dann schnell, Länder wie Griechenland täten nicht genug, um die Flüchtlinge menschenwürdig aufzunehmen, dabei trägt Europa eine Mitschuld. Ich wünsche mir, dass Geflüchtete mit dem gleichen Respekt behandelt werden wie EU-Bürger*innen – die Lebenden und die Toten.
Natassa Strachini ist Anwältin, sie koordiniert das RSA-Team und die juristische Arbeit von RSA. Sie lebt und arbeitet auf der Insel Chios. PRO ASYL unterstützt sie seit 2007 in ihrer Anwaltstätigkeit für Geflüchtete. Seit 2017 ist sie für RSA tätig.