03.11.2022 Die neue Lage der Seenotrettung und die vergebliche Suche nach sicherem Hafen nach der Regierungsbildung Meloni in Italien beschrieb Rainer van Heukelum von der Bonner Lokalgruppe der Seebrücke in seiner Rede bei der Mahnwache am 2. November 2022. Wir zitieren sie mit Dank und setzen den Mut machenden Schluss voran:
"Nach dem Sieg der rechten Allianz in Italien drohen die Menschenrechte im Mittelmeer endgültig unterzugehen. Mehr denn je kommt es jetzt auf die solidarische Zivilgesellschaft an. Mit dem neuen Bündnisschiff SEA WATCH 5 setzen wir der tödlichen Abschottungspolitik der EU-Staaten ein starkes Zeichen der Solidarität und Mitmenschlichkeit entgegen!“
Düstere Zeiten für Bootsflüchtlinge
Es wird düster um die Menschen, die in ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausweg finden, als an der nordafrikanischen Küste in Boote steigen, um ihrem Elend zu entkommen.
- Werden in Zukunft die privaten Rettungsschiffe wieder vor blockierten Häfen stehen?
- Werden sich die Seenotretter*innen wie einst Carole Rackete die Zufahrt in sichere Häfen erzwingen müssen?
- Werden die Ocean Viking, die Geo Barrents, die Humanity 1, um nur einige zu nennen mit Gewalt daran gehindert werden , Leben zu retten?
Die Zeichen mehren sich, dass schon im Vorfeld der italienischen Parlamentswahlen und erst recht nach ihrem Ergebnis, die Menschenrechte ihr Grab im Mittelmeer finden.
Vier Beispiele:
- Seit dem 21. September 2022 ist die Sea-Watch 3 nach der Rettung von 428 Personen aus Seenot durch die italienischen Behörden blockiert und darf den Hafen nicht verlassen . Erst Anfang August erklärte der Europäische Gerichtshof (EuGH) jene willkürlichen Hafenstaatkontrollen für unzulässig. Um Seenotrettung zu behindern, fokussieren sich die italienischen Behörden in ihrer Begründung erneut auf die Anzahl der geretteten Menschen und ignorieren das EuGH Urteil.
- Seit dem 27.10. kreuzen die Ocean Viking mit über 230 Geretteten und die Humanity 1 mit 180 Geretteten vor Malta und Sizilien und warten auf einen sicheren Hafen, der ihnen bisher von den maltesischen und italienischen Behörden verweigert wird. Derweil teilt das neu besetzte italienische Innenministerium am 26.10. mit, die Ocean Viking und die Humanity 1 agierten nicht im Einklang mit den europäischen Sicherheits- und Grenzkontrollnormen und dem Kampf gegen illegale Einwanderung.
- Am 26. September 2022 wurden 23 Menschen auf Anweisung der maltesischen Seenotrettungsleitstelle (RCC) nach Ägypten gebracht. Zuvor wurden sie in der maltesischen Such- und Rettungszone (SAR) von dem unter der panamaischen Flagge fahrenden Handelsschiff SHIMANAMI QUEEN aufgenommen, nachdem das RCC Malta nicht bereit dazu war, mit zivilen SAR-Organisationen zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass eine Rettung so schnell wie möglich durchgeführt wird. Nach der Rettung nutzte der RCC Malta das Handelsschiff SHIMANAMI QUEEN, um die feindliche Migrationspolitik Europas und Maltas durchzusetzen, indem es das Schiff anwies, die geretteten Personen nach Ägypten zu bringen, das zwar die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben hat, aber nicht über einen entsprechenden nationalen Rechtsrahmen für den Schutz von Flüchtenden und Asylsuchenden verfügt – eine eklatante Verletzung des See- und Völkerrechts!
- Die libysche Küstenwache hat laut Sea-Watch vom 26.10. mit Waffengewalt gedroht. Wie die Organisation auf Twitter mitteilte, drohte ein Boot der Küstenwache, das Sea-Watch-Aufklärungsflugzeug "Seabird" abzuschießen. Demnach befand sich die "Seabird" in der maltesischen Such- und Rettungszone und nicht über libyschem Territorium. Die "Seabird" hält über dem Mittelmeer Ausschau nach in Seenot geratenen Flüchtlingen und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen.
Diese Ereignisse zeigen, dass wir uns alle auf noch schwierigere Zeiten einstellen müssen, wenn wir die Menschenrechte auch auf dem Mittelmeer verteidigen wollen.
Vor vier Wochen habe ich hier bei der Mahnwache davon gesprochen, dass die Situation nach den italienischen Wahlen sich drastisch verschlimmern wird. Leider geben mir die seitdem erfolgten Fakten recht.
Schon die Zusammensetzung des Kabinetts lässt nichts Gutes erahnen.
Zwar ist der Scharfmacher Salvini nicht wieder Innenminister geworden, sondern der parteilose Piantedosi, der allerdings damals unter Salvini seinen Mitarbeiterstab im Ministerium leitete – ein Schelm, der Böses dabei denkt! Der Legachef und der ehemalige Polizeipräfekt von Rom liegen auf einer Wellenlänge, wobei Piantedosi nach außen hin moderatere Töne von sich gibt.
Salvini, der in Italien immer noch vor Gericht steht wegen seiner umstrittenen harten Politik der Hafenblockaden und seinem Vorgehen gegen Carola Rackete, ist Verkehrsminister geworden – ein harmloser Job, könnte man denken. Doch seinem Ressort unterstehen die Küstenwache und die Hafenbehörden! Und so hat Salvini am ersten Tag im Amt ihren Chef bestimmt, der sich nun zunächst einmal ein Bild verschaffen will über die Lage im Kanal vor Sizilien und die Seenotretterschiffe. Bis dahin heißt es warten…
In ihrer Regierungserklärung hatte Meloni der illegalen Einwanderung, wie sie es nennt, den Kampf erklärt: Italien werde die „illegalen Abfahrten stoppen“. Sie kündigte eine Seeblockade an. In Zusammenarbeit mit der EU und nordafrikanischen Behörden sollen die Flüchtlingsboote bereits an der Abfahrt gehindert werden. In sogenannten Hotspots auf afrikanischen Boden sollen die Asylgesuche geprüft und nur Asylberechtigten die Weiterreise auf legalem Weg ermöglicht werden.
Derweil beginnt der neue Innenminister diese Politik umzusetzen und die Konsequenzen für die Rettungsschiffe aufzuzeigen: Zwar behauptet er scheinheilig, „die Rettung der Menschen und der humanitäre Ansatz stehen an erster Stelle“, gleichzeitig denunziert er die Seenotretter*innen als Pull-Faktor für die Migrant*innen. Sie agieren seiner Meinung nach nicht im Einklang mit den europäischen Sicherheits- und Grenzkontrollnormen und dem Kampf gegen illegale Einwanderung.
Juristisch argumentiert die neue Regierung, die NGO‘s verstießen gegen das Seerechtsübereinkommen. Danach ist die Durchfahrt durch territoriale Gewässer nur gestattet, wenn die Sicherheit des Küstenstaats nicht betroffen ist. Dies sei aber der Fall, wenn Einreiseregelungen missachtet werden. Damit nur ja nicht ein Flüchtling Fuß auf italienischen Boden setzt, argumentiert er mit dem Flaggenstaatsprinzip und behauptet, diese müssten die Geretteten aufnehmen, im Fall von Ocean Viking und Humanity 1 also Norwegen und Deutschland.
Bei allem Verständnis für die Probleme Italiens mit den zahlreichen übers Meer kommenden Migrant*innen ist das Fehlen jeglicher Empathie und des Erwähnens auch deren Menschenwürde und -rechte erschreckend!
Und die EU? Sie duckt sich weg.
- Kein Wort eines führenden Politikers/ einer führenden Politikerin zu diesen Plänen bisher!
- Kein Wort zur Verteidigung der Seenotrettungsorganisationen und gegen deren Kriminalisierung!
- kein Wort zur Unterstützung Italiens bei der Bewältigung der hohen Zahl der im Land Gestrandeten.
Und was ist eigentlich aus dem groß im Juni angekündigten Solidaritätsmechanismus geworden, der Italien und Griechenland entlasten sollte? Es ist geradezu unheimlich still darum geworden.
Wieder ein gescheiterter Versuch zu einer gemeinsamen EU-Flüchtlingspolitik wenigstens einer Koalition der Willigen? Es ist zu befürchten!
Es wird dunkel über dem Mittelmeer.
Es wird kalt.
Es wird Winter.
Zeichen der Hoffnung sind schwer auszumachen.
Und dennoch halten wir dagegen!
- Lassen wir nicht nach im Anprangern dieser unmenschlichen Politik.
- Unterstützen wir weiterhin die Menschen, die gegen diese Politik angehen und deren Opfer, finanziell und politisch, und hören wir auf die Signale, die ein „Dennoch“praktisch machen, wie z.B. Folgendes:
Statt sich von den Ereignissen abschrecken zu lassen, findet Sea-Watch gemeinsam mit der europäischen Zivilgesellschaft eine eindeutige Antwort: die Sea-Watch 5, ein neues Rettungsschiff im Mittelmeer. Ein Schiff, das größer, schneller und effizienter ist als alle bisherigen Schiffe, die die Organisation ins zentrale Mittelmeer geschickt hat. Es kann dadurch mehr gerettete Personen aufnehmen, die zudem besser versorgt werden können. Aufgrund seines 2010er Baujahrs ist es mit nur 12 Jahren in einem einwandfreien technischen Zustand und somit besser gerüstet gegen zukünftige Kriminalisierungs- und Abschreckungsversuche.
Die Sea-Watch 5 schickt eine solidarische Zivilgesellschaft. Das Schiff ist kein Akt einer Organisation allein, sie ist gelebte Solidarität. Neben zahlreichen privaten Spender*innen, unterstützt auch das Bündnis United4Rescue finanziell. Liza Pflaum, stellvertretende Vorsitzende dazu: „Nach dem Sieg der rechten Allianz in Italien drohen die Menschenrechte im Mittelmeer endgültig unterzugehen. Mehr denn je kommt es jetzt auf die solidarische Zivilgesellschaft an. Mit dem neuen Bündnisschiff setzen wir der tödlichen Abschottungspolitik der EU-Staaten ein starkes Zeichen der Solidarität und Mitmenschlichkeit entgegen!“
Zur Ergänzung ein Beitrag aus der Tagespresse (nd 1.11.2022)
Italiens neue Regierung setzt auf Abschottung an den Außengrenzen und kriminalisiert Hilfsorganisationen
Während die Chefin der postfaschistischen Fratelli d’Italia Europa für sich zu gewinnen versucht, fährt ihre Regierung an den Außengrenzen einen harten Kurs. Innenminister Matteo Piantedosi, der bereits als Büroleiter unter Matteo Salvini eine Abschottung gegen Flüchtlinge präferierte, will diesen Kurs nun verschärft fortsetzen. Währenddessen wird die Lage auf den Flüchtlingsschiffen »Ocean Viking« und »Humanity 1« von Stunde zu Stunde dramatischer. Mehr als 400 aus Seenot gerettete Flüchtlinge warten auf einen sicheren Hafen, allein an Bord der »Ocean Viking« sind 234 Migranten, darunter 14 Frauen und 41 unbegleitete Minderjährige.
Vor beiden Kammern des Parlaments hat die neue Regierungschefin Giorgia Meloni erklärt, sie wolle sich an die Normen der Europäischen Union halten. Selbstverständlich werde man Menschenrechte einhalten – dazu bedürfe es keiner Kontrolle von außen. Zugleich betonte Meloni, dass die Rolle Italiens innerhalb von EU und Nato stärker werden müsse und forderte als drittgrößte Volkswirtschaft Europas ein entsprechendes Mitspracherecht ein.
Dies gilt vor allem auch mit Blick auf die nach außen gerichtete Politik der Union. Wie das im Konkreten aussehen könnte, ließ der parteilose, jedoch der Lega nahestehende Innenminister Matteo Piantedosi erkennen. Während Meloni in ihrer Regierungserklärung noch für eine moderate und kontrollierte Einwanderungspolitik plädierte, schottet der Chef des Viminale bereits die südlichen Außengrenzen Italiens vor neuen Flüchtlingswellen ab.
Piantedosi folgt Salvini
Der gerade erst berufene Innenminister ist kein Neuling im Ressort. Unter dem Regime Matteo Salvinis zeichnete der promovierte Jurist als Kabinettschef mitverantwortlich für die rigide Flüchtlingspolitik des Lega-Chefs. Während sich Salvini weiter mit Strafverfahren wegen Menschenraubs und Amtsmissbrauchs konfrontiert sieht, setzt Piantedosi als Minister nun neue deutliche Zeichen der Abschottung. Ein Einlaufen der NGO-Schiffe »Ocean Viking« und »Humanity 1« in italienische Häfen werde man nicht gestatten, weil deren Crews sich »nicht im Einklang mit dem Geist der europäischen und italienischen Vorschriften über Sicherheit und Grenzkontrolle und der Bekämfung illegaler Einwanderung« befänden.
Am vergangenen Donnerstag hatte der Minister die Spitzen von Innenministerium, Küstenwache, des Verteidigungsstabs sowie der Geheimdienste zusammengerufen, um im Rahmen dieses »Nationalen Komitees für öffentliche Ordnung und Sicherheit« ein neues Paket zur Migrationspolitik zu schnüren. Kern der wiederaufgelegten Politik ist, Flüchtlinge von Italiens Küsten abzuhalten. Dabei behauptet Minister Piantedosi, er sei – übereinstimmend mit der Regierungschefin – nicht gänzlich gegen die Einwanderung von Flüchtlingen. Nur dürfe diese nicht an den italienischen Grenzen stattfinden.
Piantedosi schlug vor, bereits vor den Mittelmeerküsten reguläre Auffanglager einzurichten. Dort sollten die Personalien der Migranten erfasst werden und eine Zuwanderung über eine festgelegte und kontrollierte Quote erfolgen. Mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln des Küstenschutzes (und der Einheiten der EU-Agentur Frontex) will er künftig die Ankunft von Flüchtlingsbooten unterbinden.
Fast 80 000 Flüchtlinge gelandet
In diesem Jahr sind bis einschließlich 25. Oktober 79 208 Flüchtlinge in Italien gelandet. Gerade zur Stunde, da Innenminister Piantedosi die Maßnahmen zur neuen Abschottungspolitik festlegte, erreichten drei weitere Schiffe mit 1800 Migranten italienische Häfen. In Zukunft, so der Minister, sollen die Flaggenländer der NGO-Schiffe die Verantwortung für die im Mittelmeer geretteten Schiffbrüchigen übernehmen. Im Falle »Ocean Viking« wäre dies Norwegen, bei der »Humanity 1« Deutschland.
Es ist ein deutliches Zeichen, das Matteo Piantedosi mit seinen neuen Richtlinien setzen will: Rettungsschiffe, die im Mittelmeer kreuzen, sollen Flüchtlingen keinen Anreiz bieten, die gefährliche Fahrt anzutreten – ihnen soll klargemacht werden, dass sie auf der italienischen Seite nicht auf sicheren Boden gelangen. Damit wird sich die Lage in den Flüchtlingscamps in Nordafrika, der Türkei und Syrien mit Sicherheit verschärfen.