Italien erschwert die Seenotrettung - NGOs brauchen Spenden

03.01.2023 bis 17.01.2023  Wie zu befürchten war, unternahm die italienische Regierungskoaltion wie angekündigt weitere Schritte, die zivile Seenotrettung möglichst auszuschalten oder zumindest weiter einzuschränken. Schon zuvor wurden der Ocean Viking und der Sea Eye 4 weit entfernt liegende Häfen zugewiesen und ersterer die Rettung in einem 3. Fall von Seenot nicht gestattet. Die Konsequenz: Dadurch fehlen die Schiffe im Suchgebiet, medizinisch notwenige Hilfe wird verzögert, und die Kosten für Fahrt und Versorgung der Gäste an Bord steigen drastisch.

Wir zitieren einen Beitrag der SZ, aus den News der Seebrücke und den Newsletters von Sea-Eye mit der Bitte um Spenden. Angefügt ein Link zu einem Interview von ntv mit Gordon Isler von Sea-Eye. Aktualisiert und ergänzt um ein Gespräch mit Petra Krischok, Sprecherin der Rettungsorganisation »SOS Humanity«, Junge Welt am 16.01.2023: »Wenn wir das befolgen, ertrinken mehr Menschen«

 

1. 29. Dezember 2022, SZ

Italien schränkt Arbeit ziviler Seenotretter deutlich ein

Hohe Geldstrafen, Konfiszierung von Schiffen: Die rechte Meloni-Regierung in Rom hat ein Dekret erlassen, das den Einsatz von Hilfsorganisationen auf dem Mittelmeer sehr erschwert. Die NGOs sind empört.

Die italienische Regierung hat ein Dekret verabschiedet, das die Einsätze von zivilen Seenotrettern im Mittelmeer deutlich einschränken soll. Internationale Helfer reagierten empört auf die Initiative der rechten Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Das Dekret sieht unter anderem vor, dass die Schiffe der Hilfsorganisationen nach einer ersten Rettung sofort einen dann zugewiesenen Hafen ansteuern müssen, ohne eventuell weiteren Booten in Seenot Hilfe leisten zu können. Normalerweise führen die Schiffe pro Einsatz mehrere Rettungen von Menschen auf kleinen Booten durch. Zudem sollten Migranten und Flüchtlinge noch auf dem Schiff sagen, ob und vor allem in welchem EU-Land sie um Asyl ansuchen wollen und dann die Anträge ausfüllen.

Bei Verstößen gegen die neuen Regelungen droht Rom den Kapitänen der zivilen Schiffe mit hohen Geldstrafen bis zu 50 000 Euro. Außerdem könnten die Schiffe von den Behörden konfisziert und in den italienischen Häfen festgesetzt werden. Meloni sagte am Donnerstag bei einer Jahresabschluss-Pressekonferenz, ihre Regierung habe das Thema Migration wieder auf die internationale Agenda gesetzt. Daneben behauptete sie, dass durch das Dekret die Einsätze der NGOs mit dem internationalen Recht vereinbart würden.

Hilfsorganisationen wehren sich gegen Dekret: rechtswidrig

"Das neue Dekret der italienischen Regierung ist eine Aufforderung zum Ertrinkenlassen", sagte Oliver Kulikowski vom deutschen Verein Sea-Watch, der regelmäßig auf Einsätzen im zentralen Mittelmeer ist. "Schiffe in den Hafen zu zwingen, verstößt gegen die Pflicht zur Rettung, sollten noch weitere Menschen in Seenot sein. Wir werden uns auch diesem Versuch entgegenstellen, zivile Seenotrettung zu kriminalisieren und Flüchtende ihrer Rechte zu berauben."

Nach Einschätzung der Regensburger NGO Sea-Eye ist das Dekret rechtswidrig - "insoweit es das Verhalten deutsch beflaggter Schiffe in internationalen Gewässern regeln und bei Einfahrt in das italienische Küstenmeer sanktionieren will", sagte Valentin Schatz von Sea-Eye. Der Staat habe keine Regulierungs- und Durchsetzungshoheit betreffend Seenotrettung ausländischer Schiffe jenseits seines Küstenmeers (12 Seemeilen). "Italien kann also nicht vorschreiben, wie die Rettungseinsätze in internationalen Gewässern durchzuführen sind". Auch Ärzte ohne Grenzen übte Kritik. "Wir werden gezwungen, die Rettungszone im Mittelmeer ungeschützt zu lassen, was dazu führen wird, dass die Zahl der Toten steigt", sagte Marco Bertotto, der Italien-Verantwortliche der NGO, der Zeitung La Stampa.

Die Einsätze der zivilen Schiffe sind den Rechten in Rom schon seit Langem ein Dorn im Auge. Im November wurde versucht, zwei Schiffen zu verbieten, die geretteten Menschen an Land zu bringen. Zuletzt wiesen die Behörden Schiffen nur sehr weit entfernte Häfen zu, um sie - nach Ansicht der Helfer - zu schikanieren. Die Ocean Viking von SOS Méditerranée etwa muss aktuell mit 113 Geretteten von Süditalien rund 900 Seemeilen bis nach Ravenna an die nördliche Adria fahren. Die italienische Regierung begründet ihr Vorgehen gegen die Organisationen mit der Behauptung, diese würde die illegale Migration begünstigen und Schleppern im Mittelmeer helfen. Die NGOs weisen das zurück.

 

2. Aktuelles auf der Seite der Seebrücke:

Menschen auf der Flucht werden ihrer Rechte beraubt - italienische Regierung erschwert Seenotrettung

Am 28.12. beschloss die italienische Regierung ein neues Dekret, dass die zivile Seenotrettung weiter erschweren soll und fliehende Menschen ihrer Rechte beraubt. In dem Dekret werden verwaltungsrechtliche Sanktionen von Geldstrafen bis 50.000€, Festhalten oder Beschlagnahmung des Schiffes angedroht. Zivile Rettungsschiffe sollen laut Dekret direkt nach der ersten Rettung einen sicheren Hafen anfordern und diesen ansteuern. Zuletzt wurden von Italien dafür weit entfernte Häfen gewählt, um die Rettungsschiffe so lange wie möglich aus der Such- und Rettungszone fernzuhalten. Sollte Italien tatsächlich versuchen, die Rettungsschiffe in einen Hafen zu zwingen, während weitere Menschen in Seenot sind, verstößt dies gegen das Völkerrecht und ist absolut inakzeptabel!

Des Weiteren soll laut Dekret schon auf den Schiffen von den geretteten Menschen eine Erklärung über ihre Bereitschaft zur Beantragung internationalen Schutzes eingeholt werden. Diese Forderung ist absurd, denn jede Person hat das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren und die Kapitän*innen sind nicht befugt, einen Asylantrag anzuhören, zu prüfen oder zu entscheiden. Italien versucht mit dem Dekret, zivile Seenotrettung weiter zu erschweren und die Rechte von fliehenden Menschen zu beschneiden - und nimmt damit den Tod von vielen weiteren Menschen billigend in Kauf. Auf dieses Dekret kann es nur eine Antwort geben: Seenotrettung ist Pflicht, siamo tutti antifascisti!

 

3. Newsletter von Sea-Eye, 29.12.

Liebe Freund*innen von Sea-Eye, 
wie Sie heute bereits in der Süddeutschen Zeitung und zahlreichen weiteren Medien lesen konnten, kämpft Sea-Eye auch zum Jahresende weiter gegen einen dramatischen Spendeneinbruch von 23 % im Vergleich zum Vorjahr an. Wenn sich die Situation nicht zeitnah verbessert, drohen Missionsabsagen. Die Rechnung ist einfach: Ohne ausreichend Spenden gibt es weniger Rettungsmissionen!

Wir mussten dieses Jahr bereits schweren Herzens eine Rettungsmission aufgrund mangelnder finanzieller Mittel absagen. Wir möchten nichts unversucht lassen, um dies im kommenden Jahr zu vermeiden.

Unser Rettungsschiff SEA-EYE 4 soll eigentlich bereits in wenigen Wochen zur Januar-Mission aufbrechen. Doch drei Wochen vor Missionsstart ist der nächste Einsatz der SEA-EYE 4 noch immer nicht finanziert. Insgesamt haben wir für 2023 sechs Missionen geplant. Sie alle hängen am seidenen Faden.

Im Jahr 2022 haben mehr als 2.000 Menschen ihr Leben bei der Flucht über das Mittelmeer verloren. Solange staatliche Akteur*innen ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, muss die SEA-EYE 4 fahren. Energiekrise, Inflation, Preissteigerungen - die Zeiten sind für viele von uns nicht einfach. Aber jeder Euro hilft und wird dringend gebraucht. Wir dürfen die Menschen auf dem Meer nicht im Stich lassen. Deshalb unsere eindringliche Bitte: Wenn Sie können, spenden Sie! 

Dass wir unsere Arbeit überhaupt ausführen können, liegt vor allem an den großartigen Unterstützer*innen, die seit Jahren solidarisch mit uns sind. Dafür sind wir sehr dankbar! Auf Ihre Hilfe sind wir nun einmal mehr angewiesen. Helfen Sie uns bitte weiterhin, damit wir den Menschen auf dem Mittelmeer helfen können!

Zu Beginn des neuen Jahres werden wir Ihnen mitteilen, ob der geplante Einsatz im Januar stattfinden kann.

 

Newsletter von Sea-Eye, 4. 1.

Ich melde mich heute mit erfreulichen Nachrichten. Unsere gemeinsamen Anstrengungen zeigen ihre Wirkung: In der zweiten Januarhälfte wird sich die SEA-EYE 4 wieder zurück ins Einsatzgebiet begeben können, zu ihrer ersten Rettungsmission im neuen Jahr! 

Die Mission im Januar ist die erste von insgesamt sechs geplanten Rettungsmissionen für 2023. Die fünf folgenden Einsätze hängen weiterhin am seidenen Faden. Dass wir bis zuletzt bangen mussten, ob die Januar-Mission tatsächlich stattfinden kann, zeigt, wie prekär die Lage für uns als spendenfinanzierte Seenotrettungsorganisation ist. Umso dankbarer sind wir für die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft! 

Damit wir langfristig krisensicherer werden, müssen wir insbesondere mehr Dauerspender*innen für uns gewinnen. 

Herzlichen Dank und ein frohes Neues Jahr im Namen des gesamten Teams von Sea-Eye
Ihr Gorden Isler - Vorsitzender von Sea-Eye e. V.

 

4. Interview von ntv mit Gorden Isler von Sea-Eye

Seenotrettung im Mittelmeer "Die italienische Regierung hat ihre Taktik geändert"

Die italienische Regierung verweigert Rettungsschiffen mit Geflüchteten an Bord nicht länger das Anlegen. Dafür zwingt sie die Schiffe, mit den Geretteten weit von ihrem Einsatzort entfernte Häfen im Norden des Landes anzusteuern. "Dahinter steht das Ziel, das Ende eines Einsatzes zu erzwingen und so die Zeit der Schiffe im Einsatzgebiet zu verkürzen", sagt Gorden Isler von Sea-Eye. Das Schiff des Vereins, die "Sea-Eye 4", wird derzeit in Spanien auf einen neuen Einsatz vorbereitet.

ntv.de: Ende Dezember erlaubte die italienische Regierung der "Ocean Viking", im norditalienischen Ravenna anzulegen. Das Schiff hatte 113 gerettete Flüchtlinge an Bord. War das eine gute Nachricht für die Seenotretter im Mittelmeer?

Gorden Isler: Es ist eine neue Taktik der italienischen Regierung. Die italienischen Behörden warten nicht mehr darauf, dass ein Rettungsschiff sich mit ihnen in Verbindung setzt und um Koordinierung bittet, sondern sie gehen von sich aus auf die Schiffe zu, sobald sie mitbekommen, dass ein Rettungsschiff Geflüchtete aufgenommen hat. Uns ist das auch passiert, die "Sea-Eye 4" ist im Dezember nach Livorno geschickt worden.

Livorno liegt auf der Höhe von Florenz, also ebenfalls recht weit im Norden.

Ja, diese Häfen sind erstaunlicherweise nicht die am nächsten liegenden "sicheren Orte" im Sinne des Seevölkerrechts, sondern liegen insbesondere für zivile Rettungsschiffe im Norden Italiens, obgleich die Schiffe der italienischen Küstenwache weiter im Süden anlegen dürfen. Dadurch nehmen die An- und Abfahrten sehr viel mehr Zeit in Anspruch.

Sie unterstellen eine Absicht?

Die italienische Regierung will ein Dekret erlassen, das Rettungsschiffen vorschreibt, nach einer Rettung sofort den zugewiesenen Hafen anzusteuern, ohne weiteren in Seenot geratenen Booten zu helfen. Von einem Versehen kann man hier deshalb wohl nicht sprechen - dahinter steht das Ziel, das Ende eines Einsatzes zu erzwingen und so die Zeit der Schiffe im Einsatzgebiet zu verkürzen. Und das, obwohl die italienische Rettungsleitstelle in den letzten drei Jahren stets behauptet hatte, dass sie nicht zuständig für die Koordinierung von Seenotfällen in der libyschen Such- und Rettungszone ist. Jetzt macht sie plötzlich genau das Gegenteil und übernimmt die Koordinierung, bevor sie von uns kontaktiert und darum gebeten wird. Man kann sich das hierzulande vielleicht nur schwer vorstellen, aber in Italien und auf Malta verhalten sich staatliche Akteure seit Jahren unberechenbar.

Ministerpräsidentin Meloni vertritt die Rechtsauffassung, dass die Flüchtlinge auf einem NGO-Schiff unter deutscher Flagge von Deutschland aufgenommen werden müssen. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Das hat schon Matteo Salvini behauptet, als er italienischer Innenminister war. Dafür gibt es keinerlei Rechtsgrundlage. Übrigens auch nicht in Italien. Es ist deshalb ein rein politisches, rechtspopulistisches Narrativ. Ein Schiff unterliegt internationalen Gesetzen und der Jurisdiktion seines Flaggenstaats, aber das heißt nicht, dass man auf deutschem Grund und Boden steht, wenn man ein Schiff unter deutscher Flagge betritt. Alles, was über die Versorgung der Geretteten hinausgeht, soll laut Richtlinien der zuständigen UN-Behörde sogar unterlassen werden. Asylanträge kann man beispielsweise nicht auf einem Schiff stellen, die Besatzung soll nicht einmal die Identität der Geretteten feststellen dürfen. Das ist allein die Aufgabe eines EU-Staates und nicht die einer Schiffsbesatzung.

Die Bundesregierung sagt, es sei "unsere moralische und rechtliche Verpflichtung, Menschen in Seenot nicht ertrinken zu lassen", man habe außerdem angeboten, 3500 Asylsuchende aufzunehmen, die über das Mittelmeer gekommen sind. Ist das ausreichend?

Nein. Aber immerhin gibt es im Vergleich zur Großen Koalition eine Verbesserung. Die alte Bundesregierung hat immer gesagt, Seenotrettung sei wichtig, aber nichts Konkretes unternommen. Mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat sich Deutschland am europäischen Übernahmemechanismus beteiligt, auch wenn es da insgesamt nur um 10.000 Menschen geht - dass man damit in Rom nicht zufrieden sein kann, ist auch klar, denn es kommen viel mehr Menschen in Italien an. Da muss sich deutlich mehr bewegen.

Bemerkenswert ist auch, dass der Bundestag im November beschlossen hat, die Seenotrettung mit 2 Millionen Euro pro Jahr zu unterstützen. Das ist nicht nur finanziell wichtig für die Seenotrettungsorganisation, das war auch ein wichtiges politisches Signal.

Ist damit Ihre Finanzierung gesichert?

Bei weitem nicht, wir sind weiterhin auf Spenden angewiesen. Die drei großen Seenotrettungsorganisationen in Deutschland, Sea-Eye, Sea-Watch und SOS Humanity, die auch die vier größten Schiffe unterhalten, haben zusammen einen jährlichen Finanzbedarf von mehr als 12 Millionen Euro. Die 2 Millionen reichen also nicht ansatzweise aus, aber sie sind ein Anfang. Viel wichtiger ist der konkrete, politische Ansatz. Denn wohlklingende Worte allein haben noch kein einziges Menschenleben gerettet.

Sie haben Ende des Jahres einen Spendeneinbruch beklagt.

Wir hatten bis Anfang Dezember 2022 rund 23 Prozent weniger Spenden als im Vorjahr und es stellte sich keine Besserung ein. Das haben wir Ende Dezember auch öffentlich kommuniziert. Denn der erste Einsatz des neuen Jahres war bereits gefährdet. Doch die Solidarität der Menschen und unserer Partnerorganisationen war danach so groß, dass wir wenigstens diesen ersten geplanten Einsatz nun tatsächlich durchführen können. Die "Sea-Eye 4" ist aktuell im Hafen von Burriana in Spanien. Von dort sind wir schon in die letzte Mission gestartet, weil die lokale Unterstützung der Seenotrettungsorganisationen in diesem Hafen einfach herausragend ist. Wichtig ist, dass die Menschen aufmerksam bleiben und sich immer wieder klarmachen, dass Seenotrettung nicht einfach so passiert. Die Seenotrettungsorganisationen sind weiter auf die Unterstützung der Menschen angewiesen.

Wie viele Menschen hat Ihr Verein Sea-Eye im vergangenen Jahr retten können?

2022 waren es mehr als 900 Menschen. Wir konnten aber nur sechs von sieben geplanten Missionen durchführen, weil es uns an Spenden fehlte.

Wie viele Flüchtlinge und Migranten sind 2022 im Mittelmeer ertrunken?

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind im vergangenen Jahr im Mittelmehr rund 2000 Menschen ertrunken. Aber das sind nur die bestätigten Zahlen. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Wie viele Rettungsschiffe sind derzeit insgesamt im Mittelmeer unterwegs?

Inklusive der "Sea-Eye 4" sind derzeit sechs größere Schiffe einsatzbereit. Ein weiteres Schiff wurde in Italien festgesetzt und die "Sea-Watch 5" wird hoffentlich ab dem Frühjahr einsatzbereit sein. Dazu gibt es noch fünf kleinere Schiffe und zwei Suchflugzeuge. Das alles wird von zivilen Seenotrettungsorganisationen aus unterschiedlichen europäischen Ländern getragen.

Die italienische Regierung sagt, dass die Anwesenheit der Seenotretter auf dem Mittelmeer mehr Menschen dazu verleiten würde, ihr Leben bei der Überfahrt zu riskieren.

Lebensrettung als "Pull-Faktor", dieses Argument gibt es, seit es die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer gibt. Wissenschaftliche Belege dafür gibt es nicht, ganz im Gegenteil - es wurde mehrfach widerlegt. Der Wissenschaftler Matteo Villa vom Italian Institut for International Political Studies hat immer wieder gezeigt, dass es keinen Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl der Personen, die die libysche Küste verlassen, und der Zahl der Rettungsschiffe auf dem Mittelmeer. Die Zahl der Abfahrten und Ankünfte lässt sich nicht vorhersagen - wenn, dann folgt sie dem Wetter, wobei es auch bei schlechtem Wetter immer noch Menschen gibt, die offenbar glauben, dann eine bessere Chance zu haben, weil weniger Boote der Küstenwache unterwegs sind. Die Wiederholung dieses Narrativs "Pull-Faktor" ist deshalb schäbig und verantwortungslos.

In Italien sind im vergangenen Jahr 100.000 Menschen angekommen. 2021 waren es nur rund 63.000. Woran liegt die Zunahme aus Ihrer Sicht?

Obwohl Europas Abschreckungs- und Abschottungspolitik immer brutaler wird, obwohl die Zäune immer höher werden und immer mehr Grenzsoldaten an die Außengrenzen geschickt werden, sind die Zahlen auf allen Fluchtrouten im Vergleich zu 2021 gestiegen - sowohl über den westlichen Balkan als auch über das östliche Mittelmeer, über die zentrale Route und über das westliche Mittelmeer nach Spanien. Deshalb könnte der europäischen Politik doch allmählich mal klarwerden, dass die Strategie der Abschottung und Abschreckung nicht funktioniert. Wir müssen diese Herausforderung auf eine humanitäre Weise lösen. Dass das politisch möglich ist, zeigt der Umgang mit Menschen, die aus der Ukraine fliehen mussten. Wer hier zwischen Schutzsuchenden unterscheiden will, sollte das erklären müssen.

Mit Gorden Isler sprach Hubertus Volmer (Dieser Artikel wurde am Dienstag, 03. Januar 2023 erstmals veröffentlicht.) Quelle: ntv.de

 

16.01.2023 Gespräch mit Petra Krischok, Sprecherin der Rettungsorganisation »SOS Humanity«, Junge Welt am 16.01.2023:

»Wenn wir das befolgen, ertrinken mehr Menschen«

In einer gemeinsamen Erklärung protestieren die im Mittelmeer aktiven Seenotrettungsorganisationen gegen ein zum Jahresbeginn in Kraft getretenes Dekret der ultrarechten italienischen Regierung. Was ist der Inhalt des Dekrets?

Das Dekret betrifft ausschließlich zivile Seenotrettungsorganisationen. Die Crews unserer Schiffe sollen nur noch eine einzige Rettung durchführen dürfen, bekommen dann sofort einen Hafen zugewiesen und müssen auf direktem Weg dort hinfahren. Zudem soll der Kapitän Asylverfahren bereits an Bord vorbereiten, hierfür Daten der Geretteten erheben. Bei Verstößen gegen die Regelungen drohen uns Geldstrafen bis 50.000 Euro, die Festsetzung unserer Schiffe und bei Wiederholung deren Beschlagnahmung. Das Ziel ist klar: Unsere Arbeit soll erschwert, Rettungen sollen verhindert und die spendenfinanzierten NGOs durch höhere Kosten zermürbt werden.

Warum ist es ein Problem, dass die Schiffe nach einer Rettungsaktion sofort einen italienischen Hafen ansteuern sollen?

Dieser Passus der neuen Richtlinie hat zwei folgenschwere Haken. Erstens soll verhindert werden, dass wir weitere Rettungen durchführen, auch wenn wir mehr Menschen aus Seenot retten könnten. Zweitens zeigt die aktuelle Praxis der Behörden, dass den NGO-Schiffen Häfen weit im Norden Italiens zugewiesen werden. Das Ziel ist offenbar, die Schiffe möglichst lange vom Rettungsgebiet fernzuhalten. Das ist menschenverachtend, denn im Mittelmeer vor Libyen rettet sonst niemand – abgesehen von der sogenannten libyschen Küstenwache, die flüchtende Menschen widerrechtlich abfängt und in das Land zurückschleppt.

Was kritisieren Sie an der Bestimmung des Dekrets, Daten von Überlebenden zu sammeln?

Vorgeschrieben wird, an Bord von Rettungsschiffen Daten von Überlebenden zu sammeln, die internationalen Schutz beantragen möchten. Diese sollen wir dann den Behörden zur Verfügung stellen. Es obliegt jedoch Staaten, Asylgesuche zu registrieren und die Verfahren einzuleiten. Ein privates Schiff ist dafür nicht der geeignete Ort. Im europäischen Recht sind die Bedingungen für Asylverfahren festgelegt. Zum Beispiel müssen diese an einem sicheren Ort erfolgen und Übersetzer involviert sein. Das hat nichts mit der Situation auf einem fahrenden Schiff zu tun, auf dem sich die Überlebenden weiterhin in einer Notsituation befinden.

Lässt sich absehen, welche Folgen eine Umsetzung des Dekrets für die Menschen in Seenot auf dem Mittelmeer haben wird?

Es ist zynisch anzuordnen, dass wir nur noch eine Rettung durchführen sollen, und widerspricht zudem geltendem internationalen Seerecht. Denn die Crew jedes Schiffes ist zur Rettung verpflichtet, wenn ein Kapitän von einem Notfall erfährt. Wenn wir die neue Richtlinie befolgen, werden mehr Menschen ertrinken. Außerdem werden durch lange Fahrten zu Häfen im Norden viel weniger Schiffe auf der riskanten Fluchtroute im zentralen Mittelmeer retten können, was ebenfalls mehr Tote zur Folge haben wird.

Gegen welche internationalen Bestimmungen verstößt das Dekret nach Auffassung der Organisationen? Und ist ein juristisches Vorgehen geplant?

Das italienische Dekret widerspricht dem internationalen Seerecht, den Menschenrechten und europäischem Recht. Es ist absurd zu verlangen, dass ausgerechnet die Crews der Rettungsschiffe der Verpflichtung zur Seenotrettung nicht nachkommen und Menschen wissentlich ertrinken lassen. Sollte es zu Strafmaßnahmen gegen uns kommen, weil wir – entgegen den Vorgaben des Dekrets, aber internationalem Seerecht folgend – nach der ersten noch weitere Rettungen durchführen, dann werden wir uns juristisch dagegen wehren.

Was fordern Sie von der italienischen Regierung unter Führung der Ministerpräsidentin Giorgia Meloni?

Die italienische Regierung muss dieses Dekret umgehend widerrufen. Es richtet sich zwar gegen zivile Seenotrettungsorganisationen, trifft aber vor allem die Menschen, die dringend unsere Hilfe benötigen: die Flüchtenden in Seenot im zentralen Mittelmeer.