Mahnwache zum 5. Todestag des kleinen Alan Kurdi - Credo der Bonner Seebrücke

03.09.2020 Weit über den Münsterplatz verteilt nahmen zahlreiche junge und ältere Bonnerinnen und Bonner an einer Gedenkveranverstaltung teil, die den Tod Alan Kurdis und aller während ihrer Flucht Verstorbenen beklagte. In Reden und Liedvorträgen wurde über das Gedenken hinaus die Verantwortung Europas und seiner Staaten zur Seenotrettung thematisiert, die mittlerweile einzig von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Sea-Eye mit seinem ALAN KURDI getauften Schiff wahrgenommen wird. Schafft sichere Häfen! Wir haben Platz! Schafft sichere Fluchtwege! LeaveNoOneToDie! lauteten die mit Beifall bedachten Forderungen.Mahnwache Alan Kurdi

Der Mahnwache auf dem Münsterplatz schloss sich eine kurze Demonstration zum Hofgarten an, wo vor dem Uni-Hauptgebäude die Aktion mit einer weiteren Kundgebung endete.

Hier wurde u. a. eine in der Bonner Seebrücke-Gruppe gemeinschaftlich erarbeitete Rede vorgetragen, die als eindrucksvolles Credo aller Beteiligter gesehen werden kann:

"Heute jährt sich der Tod von Alan, Ghalib und Rehanna Kurdi zum fünften Mal. Sie waren Menschen mit einer Geschichte, mit einer Familie und Freunden, die jetzt um sie trauern, mit Hobbies und Talenten und mit Hoffnungen und Träumen.

Hoffnung auf Frieden und ein sicheres Leben, die sie bewog auf ein kleines Boot zu steigen und zu versuchen das Mittelmeer zu überqueren, Hoffnung auf Menschlichkeit, die mit ihnen ertrank, weil niemand ihnen zu Hilfe kam, als sie in Seenot gerieten.

Drei Menschen, drei Geschichten, drei Namen, die stellvertretend für die vielen tausend Menschen stehen, die im Mittelmeer, einer der tödlichsten Grenzen der Welt, ertrunken sind.

Deshalb stehen wir von der Seebrücke heute gemeinsam mit Sea Eye und euch hier. Wir stehen hier, weil wir - wie so viele Menschen - nicht hinnehmen wollen, dass Menschen Menschen ertrinken lassen und weil wir daran erinnern wollen, dass Menschen Menschen in Not helfen.

Wir wollen uns nicht daran gewöhnen, dass Frauen, Männer und Kinder unterschiedlichster Nationalität, jeden Alters, jeder Gesellschaftsschicht und jeder Religion leiden oder gar sterben müssen, obwohl ihnen Hilfe zuteil werden könnte, nein müsste.

Wir wollen uns nicht daran gewöhnen wegzuschauen und wegzuhören.

Die Seebrücke setzt sich als zivilgesellschaftliche und offene Bewegung dafür ein, dass Menschen ihr garantiertes Recht auf Leben in Sicherheit und Unversehrtheit wahrnehmen können.

Wir setzen uns dafür ein, sichere und legale Fluchtwege zu schaffen.

Denn Flucht - das weiß instinktiv jeder von uns - ist immer der letzte Ausweg. Ein schwerer, folgenreicher und riskanter Ausweg, der bedeutet, dass es keine Alternative, keinen Weg zurück und kein Aushalten mehr gibt.

Menschen, die fliehen, müssen ihre Heimat, manchmal ihre Familie, ihre Freunde und alles Vertraute zurücklassen …. aufgrund von Krieg, Hunger, Armut oder Verfolgung.

Ohne sichere und legale Fluchtwege muss Flucht teuer, manchmal mit dem Leben oder mit dem Verlust von Freiheit und Würde bezahlt werden.

Ohne sichere und legale Fluchtwege dauert Flucht Monate, oft sogar viele Jahre lang, ist lebensgefährlich und reißt Familien auseinander.

Ohne sichere und legale Fluchtwege wird Flucht zynischerweise immer eines: illegal.

Solange es aber kaum sichere und legale Fluchtwege gibt, setzen wir uns dafür ein, dass Menschen, die in größter Not, nach traumatischen Erlebnissen, nach größten Entbehrungen, Misshandlungen, Erpressung oder Verlusten als letzten Ausweg den Weg über das Mittelmeer nehmen - oder nehmen müssen, denn nicht selten werden sie dazu gezwungen -, dass Menschen, die in unsichere Boote gepfercht werden und auf hoher See in Seenot geraten, dass diese auch gerettet werden.

Weil es eine Pflicht ist und weil es die einzig menschliche Option ist.

Dieser Pflicht kommen die europäischen Staaten nicht mehr nach. Sie ziehen es vor, wegzusehen und wegzuhören. Seenotrufe bleiben unbeantwortet oder ohne Reaktionen. Nichtregierungs-Organisationen wie Alarmphone sind es, die Notrufe registrieren und versuchen, Rettungsstellen zu alarmieren. Und private Seenotrettungsorganisationen wie Sea-Eye, Jugend rettet, Sea-Watch, Mission Lifeline, Mediterranea oder Pro Active Open Arm sind es, die - gestützt auf Spendengelder - Menschen aus dem Mittelmeer retten, während Staaten wegsehen und keine gemeinsame Lösung finden.

Aktuell warten drei Schiffe auf dem Mittelmeer auf einen sicheren Hafen, nachdem sie Menschen aus Seenot gerettet haben.

Nach internationalem Recht ist ein Schiff dazu verpflichtet, Menschen aus Seenot zu helfen, sofern die Besatzung dadurch nicht selbst in Lebensgefahr gerät. Genau daran hat sich der unter dänischer Flagge fahrende Öltanker MAERSK ETIENNE gehalten und hat 27 in Seenot geratene Menschen an Bord genommen. Aber Malta und Tunesien verweigern ihm nun schon seit 28 Tagen die Einfahrt, die Lage ist kritisch, die Crew versucht die Geretteten zu versorgen, aber die Vorräte gehen zur Neige.

Ebenso warten die unter deutscher Flagge fahrenden Seenotrettungsschiffe SEA WATCH4 und LOUISE MICHEL auf einen Hafen, die beide Menschen aus Seenot gerettet haben. Die Besatzung der LOUISE MICHEL musste den Notstand ausrufen, weil das Schiff durch die Anzahl der geretteten Menschen manövrierunfähig geworden war.

Wer kam ihr zur Hilfe? Andere zivilgesellschaftliche Schiffe, nicht etwa die staatliche Küstenwache!

Wir fordern, dass die Flaggenstaaten der Schiffe jetzt Verantwortung für die geretteten Menschen übernehmen, sodass diese möglichst schnell in den Hafen einlaufen können. Dieses Geschachere um Menschenleben ist nicht mit anzusehen!

Solange es keine staatliche Seenotrettung gibt, fordern wir, dass Nichtregierungsorganisationen nicht bei ihrer Arbeit nicht behindert, kriminalisiert oder diffamiert werden. Sie retten Menschenleben, weil die zuständigen staatlichen Stellen es nicht tun. Dafür verdienen sie Respekt, Dank und jegliche Unterstützung. Stattdessen aber wird ihre Arbeit immer wieder erschwert, in Misskredit gebracht oder aufgrund von Lappalien behindert. Die Festsetzung der ALAN KURDI wie auch anderer Schiffe durch die italienischen Behörden aufgrund vorgeschobener Argumente, wie z.B. eine nicht ausreichende Anzahl von Toiletten oder Mülleimern und die Blockade von kleineren zivilgesellschaftlichen Seenotrettungsschiffen durch das deutsche Verkehrsministerium sind eine Schande für Europa.

Wir fordern: Lasst die NGOs retten, solange ihr nicht rettet!

Free the ships!

Für die Menschen, die es über das Meer schaffen, ist die Flucht jedoch nicht zu Ende. Zu Tausenden müssen sie monatelang in sogenannten Flüchtlingslagern unter erbärmlichen Bedingungen ausharren. Bedingungen, die wir aus den Berichten aus Moria oder Samos kennen, die schon vor Corona durch nichts zu rechtfertigen waren und die jetzt schlicht lebensgefährlich sind.

Seit dem 23. März sind die Lager mit einer Ausgangssperre belegt, so dass die Menschen die Lager kaum noch verlassen können, um Lebensmittel zu kaufen oder der bedrückenden Atmosphäre zu entfliehen. Nun wurde die Ausgangssperre zum wiederholten Mal verlängert bis zum 15.09. Die Menschen sind seit fast einem halben Jahr in den Lagern eingesperrt, während Touristen und Einheimische sich wieder frei bewegen durften. In den Camps gibt es keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser und Sanitäranlagen, keine ausreichende medizinische Versorgung und keinen Zugang zu Bildung für die Kinder und Jugendlichen. Die Menschen berichten, dass sie Angst haben sich mit Corona zu infizieren und trotzdem stundenlang in Essensschlangen stehen müssen.

Ohne zivilgesellschaftliche Hilfe und vor allem die Selbstorganisation der Menschen in den Camps, die sich darum kümmern so gut es geht, die Grundversorgung zu ermöglichen, wäre die Lage noch um Vielfaches schlimmer. Die Würde des Menschen wird dort mit Füßen getreten.

Wir wollen uns nicht an die Existenz von Lagern in Europa gewöhnen. Menschen dürfen nicht in Massenunterkünfte gesperrt oder - wie es gerade jetzt in Griechenland geschieht - ohne Hilfe, Perspektive oder Papiere zu Tausenden auf die Straße gesetzt und sich selbst überlassen werden.

Deshalb fordern wir auch Bonn dazu auf, Verantwortung zu übernehmen: Bonn ist seit 2019 Mitglied im Bündnis Städte sicherer Häfen und hat sich damit mit geflüchteten Menschen solidarisiert und versprochen, mehr geflüchtete Menschen als im Verteilschlüssel vorgesehen aufzunehmen. Wir wollen jetzt Taten sehen und fordern von Bonn, sich bereit zu erklären, mindestens 200 Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen und dies an das Innenministerium deutlich zu signalisieren.

Wir sagen: Leave no one behind - jeder Mensch hat ein Recht auf Leben in Sicherheit und Unversehrtheit.