05.03.2024 Wen wundert´s? Nach Monaten und Jahren zeigt die rechtspopulistisch bestimmte Debatte in Deutschland Wirkung. Täglich zu hören, dass das Land, Städte, Kreise und Kommunen überlastet durch die Aufnahme Schutzsuchender seien, bei gleichzeitig fehlenden Hinweisen, dass das Hauptproblem mit besserer Finanzierung dieser Aufgaben zu beheben wäre, prägt die Einstellung vieler Menschen, besonders derer, die nicht in Kontakt stehen zu geflüchteten Menschen. Gerade unter Geringverdienenden wurde dadurch eine Neidhaltung gefördert, mit der Annahme, durch das Fernhalten Schutzsuchender und Migrant*innen allgemein wäre die Wohnungsnot gelindert. Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung sind mittlerweile rund 60 Prozent der Befragten der Auffassung, Deutschland sei an der Belastungsgrenze und könne nicht mehr Schutzsuchende aufnehmen. Vor allem Mehrkosten für den Sozialstaat, Probleme in Schulen und Wohnungsnot befürchten zunehmend viele Menschen in Deutschland, so wird die Skepsis gegenüber Zuwanderung und Sorge vor negativen Folgen begründet.
Dennoch sieht eine Mehrheit "Chancen und Vorteile durch Zuwanderung". 73 Prozent der Teilnehmer*innen beobachten eine Willkommenskultur bei der Bevölkerung gegenüber Migrantinnen und Migranten, die zu Arbeits- oder Bildungszwecken nach Deutschland kommen. 53 Prozent nehmen diese Haltung laut Umfrage auch gegenüber Menschen wahr, die Geflüchtete sind.
Wir zitieren dazu einen Bericht von Zeit Online und anschließend den Pressetext der Bertelsmannstiftung:
Zeit Online: In einer Umfrage sagen rund 60 Prozent der Befragten, Deutschland könne nicht mehr Geflüchtete aufnehmen. Eine Willkommenskultur gegenüber Migranten sehen sie dennoch.
Skepsis gegenüber Zuwanderung und Sorge vor negativen Folgen haben einer Umfrage zufolge angesichts steigender Flüchtlingszahlen und schwieriger Rahmenbedingungen wie Energiekrise und Inflation deutlich zugenommen. Vor allem Mehrkosten für den Sozialstaat, Probleme in Schulen und Wohnungsnot befürchten zunehmend viele Menschen in Deutschland, wie aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung hervorgeht. Sie ergab auch: Die Bereitschaft, geflüchtete Menschen aufzunehmen, ist erheblich gesunken. Das Institut Verian hatte für die Analyse "Willkommenskultur in Krisenzeiten" im vergangenen Oktober gut 2.000 Personen ab 14 Jahren repräsentativ befragt.
Sagten 2021 lediglich 36 Prozent der Befragten, Deutschland könne nicht mehr Geflüchtete aufnehmen, weil es an seiner Belastungsgrenze sei, waren nun 60 Prozent dieser Auffassung. Dieser aktuelle Wert liege etwa auf dem Niveau von 2017, als infolge des damaligen erhöhten Fluchtaufkommens 54 Prozent meinten, man könne nicht mehr Menschen aufnehmen. Studienautorin Ulrike Wieland sagte, der Befund sei aber nicht als Ablehnung der zugewanderten Menschen zu deuten. "Die stark gestiegenen Bedenken sind bezogen auf die systemischen Kapazitäten", sagte Wieland – drehten sich also um die Frage, ob gelingende Aufnahme und Integration mit den vorhandenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Möglichkeiten zu bewältigen seien.
Zugleich sahen 73 Prozent der Teilnehmer jedoch eine Willkommenskultur bei der Bevölkerung gegenüber Migrantinnen und Migranten, die zu Arbeits- oder Bildungszwecken nach Deutschland kommen. 53 Prozent nehmen diese Haltung laut Umfrage gegenüber Menschen wahr, die Geflüchtete sind. Bei staatlichen Stellen der Kommunen gaben 78 Prozent an, eine Willkommenskultur gegenüber Migranten zu Arbeits- und Ausbildungszwecken zu sehen. 67 Prozent der Befragten nehmen eine solche offene Grundeinstellung bei den Kommunen auch gegenüber Geflüchteten wahr. Im Langzeitvergleich sind diese Werte laut Bertelsmann Stiftung seit Jahren stabil.
Eine Mehrheit der Befragten sieht der Studie zufolge weiterhin Chancen und Vorteile durch Zuwanderung. 63 Prozent meinten demnach, dass Migration wichtig für die Ansiedlung internationaler Firmen sei. 62 Prozent glauben, dass sie gegen die Überalterung hilft. 61 Prozent sind der Ansicht, Zuwanderung mache das Leben in Deutschland interessanter.
Nach Angaben der Stiftung, die ihre Befragungen zur Willkommenskultur seit 2012 organisiert, ist eine ambivalente Haltung der Bevölkerung gegenüber Migration typisch. Es würden generell positive wie negative Auswirkungen erwartet. In Zeiten eines "sprunghaften Anstiegs von Fluchtzuwanderung" wie 2015/16 oder eben in den Jahren 2022/23 "verlagert sich das Gewicht hin zu vermehrt skeptischen Einschätzungen". Gleichzeitig werde aber größtenteils doch "eine offene Haltung" bei der Bevölkerung und den Kommunen wahrgenommen.
Seitens der Bertelsmann-Stiftung wurde die Studie am 5. März 2024 so vorgestellt:
Unter dem Eindruck steigender Flüchtlingszahlen haben skeptische Einstellungen zur Migration in Deutschland zugenommen. Es zeigt sich eine ähnliche Entwicklung wie nach der starken Fluchtmigration der Jahre 2015/2016. Die Menschen sorgen sich um Mehrkosten für den Sozialstaat, Wohnungsnot in Ballungsräumen und Probleme in den Schulen. Zugleich teilt weiterhin eine Mehrheit der Befragten den Eindruck, dass sowohl Arbeitsmigrant:innen als auch Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, von den Kommunen und der Bevölkerung willkommen geheißen werden.
Die Einstellungen gegenüber Zuwanderung in Deutschland sind ambivalent. In Krisenzeiten wie der aktuellen Situation steigen Sorgen um mögliche negative Folgen von verstärkter Migration. Das geht aus unserer neuen Studie "Willkommenskultur in Krisenzeiten. Wahrnehmungen und Einstellungen der Bevölkerung zu Migration und Integration in Deutschland" hervor. Demnach erwarten 78 Prozent der Befragten Mehrkosten für den Sozialstaat durch Zuwanderung, 74 Prozent befürchten Wohnungsnot in Ballungsräumen und 71 Prozent sorgen sich um Probleme in den Schulen. Diese Werte fallen höher aus als in den beiden letzten Befragungen 2021 und 2019. Sie erreichen nun ein ähnliches Niveau wie 2017, wobei die Sorge um Wohnungsnot seitdem noch einmal deutlich angestiegen ist (2017: Sozialstaat: 79 Prozent; Wohnungsnot: 65 Prozent; Schulen: 68 Prozent).
Dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, hierzulande sehr oder eher willkommen geheißen werden, glaubt gleichzeitig eine Mehrheit der Befragten. Gegenüber Migrantinnen und Migranten, die zu Arbeits- und Bildungszwecken nach Deutschland einwandern, sehen 78 Prozent eine solche Willkommenskultur bei den staatlichen Stellen der Kommunen (2021: 78 Prozent; 2019: 79 Prozent; 2017: 77 Prozent) und 73 Prozent bei der Bevölkerung vor Ort (2021: 71 Prozent; 2019: 71 Prozent; 2017: 70 Prozent). Eine willkommen heißende Haltung gegenüber Flüchtlingen nehmen 67 Prozent der Befragten bei den Kommunen wahr (2021: 68 Prozent; 2019: 71 Prozent; 2017: 73 Prozent) und 53 Prozent bei der Bevölkerung vor Ort (2021: 59 Prozent; 2019: 56 Prozent; 2017: 59 Prozent). Der Langzeitvergleich zeigt, dass diese Werte seit Jahren stabil sind. Das spricht für eine robuste Willkommenskultur in der deutschen Gesellschaft.
Skepsis und Offenheit schließen sich nicht aus
In den Befragungen zur Willkommenskultur, die wir seit 2012 durchführt, zeigt sich immer wieder eine ambivalente Haltung der Bevölkerung gegenüber Migration: Es werden sowohl positive als auch negative Folgen für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft erwartet. In Zeiten eines sprunghaften Anstiegs von Fluchtzuwanderung, wie 2015/16 oder nun 2022/2023, verlagert sich das Gewicht hin zu vermehrt skeptischen Einschätzungen. Gleichzeitig wird gegenüber den Menschen, die nach Deutschland kommen, weiterhin größtenteils eine offene Haltung bei Kommunen und Bevölkerung wahrgenommen. "Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass die gestiegene Skepsis gegenüber Migration vorwiegend nicht auf eine ablehnende Haltung gegenüber den zugewanderten Menschen zurückzuführen ist, sondern vor allem auf die Sorge um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kapazitäten für eine gelingende Aufnahme und Integration", sagt unsere Integrationsexpertin Ulrike Wieland.
Trotz steigender Sorgen wegen der möglichen Nachteile von Migration sehen die Befragten auch Vorteile und Chancen für die deutsche Gesellschaft. So meinen 63 Prozent, Zuwanderung sei wichtig für die Ansiedlung internationaler Firmen (2021: 68 Prozent), und 62 Prozent glauben, dass Deutschland weniger überaltert (2021: 65 Prozent). Zudem ist ebenfalls eine Mehrheit (61 Prozent) der Ansicht, Zuwanderung mache das Leben in Deutschland interessanter (2021: 66 Prozent). Die Auffassung, Flüchtlinge seien "Gäste auf Zeit", um deren Integration Deutschland sich nicht bemühen solle, bleibt mit 27 Prozent Zustimmung auch 2023 eine Minderheitenposition (2021: 20 Prozent).
Integration am Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie in Schulen verbessern
"Um Migrationsskepsis zu begegnen, sollte Zuwanderung nach Deutschland besser gesteuert werden", so Wieland. Fluchtmigration sollte durch eine verbesserte internationale Zusammenarbeit innerhalb der EU und mit Aufnahme- und Transitstaaten effektiver gestaltet werden. Dies sieht auch die Bevölkerung so. Die Studie zeigt etwa, dass drei Viertel der Befragten (75 Prozent) die Ansicht teilen, es solle für jedes EU-Land eine feste Anzahl an aufzunehmenden Flüchtlingen festgelegt werden, abhängig von der Größe und der Wirtschaftskraft des Landes.
Innenpolitisch sei es wichtig, vor allen Dingen dort zu investieren, wo sich der größte Druck aufgebaut hat: im Sozialsystem, am Wohnungsmarkt und im Schulsystem. Ein wichtiger Hebel sei, die Arbeitsmarktchancen für Zugewanderte zu verbessern. Dies wird auch von der Bevölkerung unterstützt. Die Studie zeigt, dass 87 Prozent der Befragten finden, der Staat solle dafür sorgen, dass Flüchtlinge in Deutschland rasch arbeiten dürfen. Hierfür müssten neben bürokratischen Hürden auch gesellschaftliche Barrieren abgebaut werden, sagt Ulrike Wieland: "Nur mit einer gelebten Willkommenskultur ist es möglich, Flüchtlinge erfolgreich ins Arbeitsleben zu integrieren sowie auch internationale Fachkräfte auf Dauer im Land zu halten. Dies erfordert Offenheit und Kompetenzen für eine interkulturelle Zusammenarbeit seitens der Betriebe und ihrer Belegschaften, Chancengleichheit und die Bekämpfung von Diskriminierung." 56 Prozent der Befragten sehen mangelnde Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt für Zuwanderinnen und Zuwanderer als eines der größten Hindernisse für Integration; bei den Personen mit Migrationshintergrund sind es sogar 65 Prozent. In Bezug auf internationale Fachkräfte, die der deutsche Arbeitsmarkt dringend benötige, sei die Politik zudem gut beraten, ihnen den Weg nach Deutschland zu erleichtern, etwa durch eine effizientere Migrationsverwaltung, so Wieland.
Neben diesen Verbesserungen am Arbeitsmarkt sollte die Politik mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen und in Schulen als zentrale Orte für die Gestaltung des Zusammenlebens in Vielfalt investieren – von zeitgemäßen Unterrichtskonzepten und -materialien über die Förderung von interkulturellen Kompetenzen bei den Lehrkräften bis hin zu einem verstärkten Einsatz von Lehrkräften mit einer Einwanderungsgeschichte in den Schulen, zum Beispiel durch die Einbindung geflüchteter Lehrerinnen und Lehrer mittels Programmen wie "Lehrkräfte Plus".