Neues Gutachten zeigt: Rückkehr von Jesidinnen und Jesiden in den Irak ist unmöglich

03.05.2024 Aktualisiert durch einen ausführlichen Beitrag in den News von Pro Asyl:

Rückkehr unmöglich: Im Irak geraten Jesid*innen zwischen alle Fronten

Die Lage der Jesid*innen im Irak ist düster – und wird es absehbar auch bleiben: In ihrer Herkunftsregion Sinjar kämpfen staatliche und nicht-staatliche Akteure rücksichtslos um Macht und Einfluss, sie stehen dazwischen. Das zeigt ein von PRO ASYL beauftragtes Gutachten. Nötig ist ein sofortiger bundesweiter Abschiebestopp für Jesid*innen.

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Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak

Im strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien, Türkei und Iran prallen die Interessen aufeinander. Staatliche und nicht-staatliche Akteure kämpfen, teils mit Waffen, rücksichtslos um Macht und Einfluss – die Jesid*innen, die zu keiner dieser Gruppen gehören, stehen zwischen allen Fronten. 200.000 harren noch immer in irakischen Flüchtlingslagern aus, ohne Aussicht, sie in absehbarer Zeit verlassen zu können. Auch eine sogenannte innerirakische Fluchtalternative gibt es nicht, weil eine jesidische Familie nicht in einen anderen Landesteil gehen kann, denn dort wäre sie ohne die lebenswichtige Gemeinschaft und ohne Schutz.

Die prekäre Sicherheitslage wird sich nicht grundlegend ändern, solange der Konflikt in Syrien andauert. Für die überwältigende Mehrzahl der von der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) vertriebenen Jesid*innen heißt das: Sie müssen auch fast zehn Jahre nach dem Völkermord auf unabsehbare Zeit in irakischen Flüchtlingslagern leben – die 2014/15 einmal zur Nothilfe eingerichtet wurden. »Auch wenn sich die Lage insgesamt in einem Land wie dem Irak stabilisieren mag, muss man regional differenzieren. Für die Jesid*innen bleibt die Zukunftsperspektive im Irak bis auf Weiteres düster«, heißt es in dem Gutachten.

All das hat auch Auswirkungen auf Deutschland, wo mit rund 250.000 Menschen nicht nur die größte jesidische Diaspora in Europa, sondern nach dem Irak die zweitgrößte weltweit existiert. Sie leben vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (Celle, Oldenburg und Bielefeld). Geschätzt sind derzeit 5.000 bis 10.000 irakische Jesid*innen ausreisepflichtig und von Abschiebungen in den Irak bedroht. Denn Mitte 2023 begannen die ersten Bundesländer vor dem Hintergrund einer enger werdenden Kooperation mit dem Irak und aufgrund von Gerichtsurteilen, wonach es im Irak keine gruppenspezifische Verfolgung mehr gebe, Jesid*innen in den Irak abzuschieben. Tausende Jesid*innen fürchten nun, dass es ihnen bald ebenso ergeht.

Unverständlich ist das auch, weil der Deutsche Bundestag Anfang 2023 die Verfolgung der Jesid*innen als Völkermord anerkannt und so auch ein besonderes Schutzversprechen geleistet hatte: »Die Diaspora ist Teil unserer Gesellschaft mit all ihren Erfahrungen und Erinnerungen. Der Deutsche Bundestag wird sich mit Nachdruck zum Schutz êzîdischen Lebens in Deutschland und ihrer Menschenrechte weltweit einsetzen«, heißt es in dem Beschluss des Bundestags.

Statt den Überlebenden dieses anerkannten Genozids eine Bleibeperspektive zu bieten, werden sie an den Ort des Völkermords zurückgeschickt, an dem sie keine Zukunft haben. Das Bundesinnenministerium sieht derzeit keine Belege für eine systematische Verfolgung von Jesid*innen und damit auch keine Gründe für eine Sonderregelung im Asylrecht.

Doch es ist unverantwortlich, jesidische Männer, Frauen und Kinder in ein Land abzuschieben, in dem sie keine Lebensgrundlage haben und kein sicheres Leben führen können. Abzuschieben in das Land des Völkermords, in dem sie ehemaligen Tätern begegnen und sich ständig bedroht fühlen müssen. Deshalb muss es sofort einen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen geben.

Die komplizierte Lage der Jesid*innen und in der Region generell fasst das Gutachten auf den ersten Seiten zusammen:

Religiös verfolgt

Die ideologisch-religiöse Begründung für Diskriminierung und Verfolgung der Jesid*innen basiert darauf, dass sie aus muslimisch-orthodoxer Sicht nicht als Buchreligion gelten und ihnen daher immer wieder die Existenzberechtigung als religiöse Gruppe abgesprochen wurde. Diese grundsätzliche Nichtakzeptanz der jesidischen Religion führte schon im Osmanischen Reich zu Versuchen religiöser Zwangsassimilierung und war die Grundlage einer langen, kontinuierlichen Verfolgungsgeschichte bis hin zum Angriff des IS.

Sinjar: Im Brennpunkt machtpolitischer Auseinandersetzungen

Das Hauptsiedlungsgebiet der Jesid*innen im irakischen Distrikt um die Stadt und das Bergmassiv Sinjar (Shingal) steht weiterhin im Brennpunkt machtpolitischer und militärischer Auseinandersetzungen solange sich die Situation in der Großregion inklusive Syrien nicht grundlegend ändert. Das Gebiet hat eine zentrale strategische Bedeutung im Konfliktfeld zwischen diversen staatlichen und nichtstaatlichen Akteur*innen in Syrien, im Irak, aber auch in der Türkei und im Iran.

Schwache Autorität des irakischen Staates

Die immer wieder angekündigten Wiederaufbauinvestitionen der irakischen Regierung für den Sinjar scheitern an den ungeklärten Macht- und Verwaltungsfragen sowie letztlich an der mangelnden Souveränität des irakischen Staates. Solange die Region im strategischen Fokus so vieler Akteur*innen steht, wird eine dauerhafte Wiederherstellung staatlich-irakischer Souveränität nicht gelingen. Dies gilt auch für das bis heute nicht umgesetzte Sinjar-Abkommen zwischen der Regierung der kurdischen Autonomiezone und der irakischen Regierung von 2020, wonach unter anderem die irakischen Streitkräfte die Kontrolle in der Region übernehmen und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihre Gruppierungen abziehen sollen. Auch bei der Ankündigung der irakischen Regierung vom Februar 2024, die Unterstützung für die noch bestehenden Lager für intern Vertriebene (Internally Displaced Persons, IDP) im Nordirak einzustellen und dafür Möglichkeiten für eine Rückkehr auch der Jesid*innen in ihre Orte bereitstellen zu wollen, scheint es sich um nicht mehr als eine Absichtserklärung zu handeln.

Schutzversprechen für Jesid*innen nur hypothetisch

Ein zentraler Denkfehler in der Beurteilung der jesidischen Problematik besteht in dem Fokus auf Aktualität. Auch wenn es derzeit keine organisierte Verfolgung der Jesid*innen gibt: Alle, sowohl die Jesid*innen als Angehörige einer besonders gefährdeten Minderheit als auch die potenziellen Täter*innen, wissen, dass das Schutzversprechen des irakischen Staates ein nur sehr relatives und hypothetisches ist. Das wird auch so bleiben, solange die Zentralregierung, insbesondere in den umstrittenen Gebieten, nur eine schwache Autorität besitzt. Die grausame Folge von nur theoretischen Sicherheitsversprechen haben die Jesid*innen des Sinjar im Jahr 2014 erfahren müssen, als sich die Kämpfer der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), die das Gebiet kontrollierten, buchstäblich über Nacht zurückzogen und damit die Jesid*innen schutzlos dem IS überließen.

Kein Zurück in die Zeit vor dem Völkermord

Das Schicksal der Jesid*innen ist ein eindrückliches Beispiel für die neue Realität, die ein Völkermord schafft. Es gibt kein Zurück in die Zeit davor. Die Herkunftsregion der Jesid*innen ist ein von Minderheiten und zahlreichen Konfliktlinien geprägtes Gebiet. Die Terrororganisation Islamischer Staat hat mit dem Völkermord dieses ohnehin schon fragile gesellschaftliche Gewebe zerrissen. Traumatisierte Opfer stehen Nachbar*innen gegenüber, die potenzielle Täter*innen waren – und es potenziell jederzeit wieder werden können.

Keine innerirakische Fluchtalternative

Eine reale innerirakische Fluchtalternative gibt es für die Mehrzahl der in Lagern lebenden Jesid*innen nicht. Ihre praktische Erfahrung ist, dass sie sich letztlich nur auf Mitglieder der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft verlassen können, daher suchen sie den Rückhalt bei anderen Jesid*innen in ihrem Lebensumfeld. Niemand würde erwarten, dass Jesid*innen irgendwo hinziehen, wo es keine anderen Jesid*innen gibt. Das gilt auch für andere Gruppen oder Minderheiten in der irakischen Gesellschaft.

Sicherheitsgarantien sind Grundvoraussetzung

Das Gutachten zeigt eindrücklich: Es braucht relevante Sicherheitsgarantien, eine jesidische Selbstverwaltung, funktionierende Strafverfolgungsmaßnahmen und Entschädigungsprozesse, eine wie in der irakischen Verfassung vorgesehene Klärung des Status der umstrittenen Gebiete, insbesondere ihrer politischen Zuordnung und eine Demilitarisierung diverser Milizen. Diese Grundvoraussetzungen müssten erst geschaffen werden, bevor über die Zukunft der Jesid*innen im Irak diskutiert werden kann. Alle Informationen in diesem Text stammen aus dem Gutachten »Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak«.

 

26.04.2024 Aktualisiert durch eine weitere Pressemitteilung von Pro Asyl:

PRO ASYL fordert: Keine Abschiebungen in Folterstaaten – Schutz von Genozid-Überlebenden

Sechs Wochen vor der Konferenz der Innenminister*innen (IMK) fordert PRO ASYL einen sofortigen Stopp von Abschiebungen in den Folterstaat Iran sowie von Jesid*innen in den Irak. 

Die Teilnehmenden der im Moment stattfindenden Frühjahrsklausurtagung von PRO ASYL sind empört: Trotz der klaren Solidaritätsbekundungen deutscher Politiker*innen für die Protestierenden im Iran und die Anerkennung des Genozids an den Jesid*innen im Irak,  werden vermehrt Menschen in diese Länder abgeschoben.

Abschiebungen in den Iran trotz massiver Menschenrechtsverletzungen

“Es ist scheinheilig, wie sich deutsche Politiker und Politikerinnen noch vor wenigen Monaten mit Solidaritätsbekundungen für Menschen im Iran überboten, deren Mut feierten und nun wieder abschieben in einen Staat, dessen Regime Menschen einsperrt, foltert und umbringt”, sagt Daniela Sepehri, Menschenrechtsaktivistin.

Der Abschiebestopp in den Iran, der im Jahr 2023 noch galt, wurde nicht mehr verlängert. Dabei hat sich die Lage im Iran keineswegs verbessert. Nach wie vor werden im Iran Menschen verfolgt, inhaftiert, gefoltert und hingerichtet. Die Liste der politischen Gefangenen, denen die Todesstrafe droht, ist lang. Verfolgungen von Kurd*innen, Belutsch*innen und anderen ethnischen oder religiösen marginalisierten Gruppen sind an der Tagesordnung. Besonders hart geht das Regime auch gegen Frauen und Mädchen vor. Trotzdem erhielten im Jahr 2023 nur die Hälfte der asylsuchenden Frauen aus dem Iran in Deutschland einen Schutzstatus. Im ersten Quartal 2024 sank die Gesamtschutzquote der Asylsuchenden aus dem Iran (männlich und weiblich) auf 39,1 Prozent. PRO ASYL fordert eine sofortige Einstellung der Abschiebungen dorthin.

Keine Abschiebungen von Überlebenden des Völkermordes in den Irak

Ebenso unverständlich sind die vermehrten Abschiebungen in den Irak, besonders von Jesid*innen. “Statt den Überlebenden eines von der Bundesregierung anerkannten Genozids eine Bleibeperspektive zu bieten, schicken wir sie zurück an den Ort des Völkermords, in dem sie keine Zukunft haben”, so Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL.

Noch letztes Jahr hatte die Bundesregierung beschlossen, die Verbrechen des sogenannten Islamischen Staats (IS) an den Jesid*innen im Jahr 2014 als Genozid anzuerkennen und leistete damit ein besonderes Schutzversprechen. Dennoch erkennt das Bundesinnenministerium derzeit keine Belege für eine systematische Verfolgung von Jesid*innen und sieht deshalb von einer Sonderregelung im Asylrecht ab. PRO ASYL sieht hier einen klaren Widerspruch zwischen dem Schutzversprechen des Bundestags durch die Anerkennung des Genozids und der Praxis bei den Asylverfahren. Das am Mittwoch erschienene Gutachten: Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak von PRO ASYL und Wadi e.V. belegt eindeutig die Unzumutbarkeit der Rückkehr von Jesid*innen in den Irak.

Hintergrund zur Frühjahrsklausurtagung von PRO ASYL

Einmal jährlich versammeln sich Mitarbeitende von PRO ASYL und Mitglieder der Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL aus Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrts- und Menschenrechtsorganisationen und landesweiten Flüchtlingsräten, um aktuelle flüchtlingspolitischte Themen zu besprechen.

Schutzversprechen für Jesid*innen nur hypothetisch

Ein zentraler Denkfehler in der Beurteilung der jesidischen Problematik besteht in dem Fokus auf Aktualität. Auch wenn es derzeit keine organisierte Verfolgung der Jesid*innen gibt: Alle, sowohl die Jesid*innen als Angehörige einer besonders gefährdeten Minderheit als auch die potenziellen Täter*innen, wissen, dass das Schutzversprechen des irakischen Staates ein nur sehr relatives und hypothetisches ist. Das wird auch so bleiben, solange die Zentralregierung, insbesondere in den umstrittenen Gebieten, nur eine schwache Autorität besitzt. Die grausame Folge von nur theoretischen Sicherheitsversprechen haben die Jesid*innen des Sinjar im Jahr 2014 erfahren müssen, als sich die Kämpfer der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP), die das Gebiet kontrollierten, buchstäblich über Nacht zurückzogen und damit die Jesid*innen schutzlos dem IS überließen.

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»Unsicherheit und Angst vor Abschiebung zerstören die Erfolge in Bildung und Integration« 

 

Kein Zurück in die Zeit vor dem Völkermord

Das Schicksal der Jesid*innen ist ein eindrückliches Beispiel für die neue Realität, die ein Völkermord schafft. Es gibt kein Zurück in die Zeit davor. Die Herkunftsregion der Jesid*innen ist ein von Minderheiten und zahlreichen Konfliktlinien geprägtes Gebiet. Die Terrororganisation Islamischer Staat hat mit dem Völkermord dieses ohnehin schon fragile gesellschaftliche Gewebe zerrissen. Traumatisierte Opfer stehen Nachbar*innen gegenüber, die potenzielle Täter*innen waren – und es potenziell jederzeit wieder werden können.

 

Keine innerirakische Fluchtalternative

Eine reale innerirakische Fluchtalternative gibt es für die Mehrzahl der in Lagern lebenden Jesid*innen nicht. Ihre praktische Erfahrung ist, dass sie sich letztlich nur auf Mitglieder der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft verlassen können, daher suchen sie den Rückhalt bei anderen Jesid*innen in ihrem Lebensumfeld. Niemand würde erwarten, dass Jesid*innen irgendwo hinziehen, wo es keine anderen Jesid*innen gibt. Das gilt auch für andere Gruppen oder Minderheiten in der irakischen Gesellschaft.

Sicherheitsgarantien sind Grundvoraussetzung

Das Gutachten zeigt eindrücklich: Es braucht relevante Sicherheitsgarantien, eine jesidische Selbstverwaltung, funktionierende Strafverfolgungsmaßnahmen und Entschädigungsprozesse, eine wie in der irakischen Verfassung vorgesehene Klärung des Status der umstrittenen Gebiete, insbesondere ihrer politischen Zuordnung und eine Demilitarisierung diverser Milizen. Diese Grundvoraussetzungen müssten erst geschaffen werden, bevor über die Zukunft der Jesid*innen im Irak diskutiert werden kann. Alle Informationen in diesem Text stammen aus dem Gutachten »Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak«.

 

24.04.2024 Wir zitieren eine Pressemitteilung von Pro Asyl:

Mit einem heute veröffentlichten Gutachten machen PRO ASYL und Wadi e.V. auf die düstere Lage der Jesid*innen im Irak aufmerksam – und fordern zugleich einen sofortigen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen. Zudem müssen sie eine dauerhafte und sichere Bleibeperspektive in Deutschland bekommen.

Obwohl der Deutsche Bundestag Anfang 2023 die Verfolgung der Jesid*innen als Völkermord anerkannt hat und obwohl die Lage im Irak nach wie vor sehr unsicher ist, schieben seit einigen Monaten mehrere Bundesländer wieder Jesid*innen in den Irak ab. Und Tausende Jesid*innen fürchten, dass es ihnen bald ebenso ergeht.

„Es ist völlig unverantwortlich, jesidische Männer, Frauen und Kinder in ein Land abzuschieben, in dem sie keine Lebensgrundlage haben und kein sicheres Leben führen können. Abzuschieben in das Land des Völkermords, in dem sie ehemaligen Tätern begegnen und sich ständig bedroht fühlen müssen. Deshalb muss es sofort einen bundesweiten Abschiebestopp für Jesid*innen geben, damit Tausende Jesid*innen nicht weiter in Angst vor einer Abschiebung leben müssen“, sagt Karl Kopp, Geschäftsführer von PRO ASYL.

Bundesregierung muss Verantwortung übernehmen 

PRO ASYL und Wadi fordern die Bundesregierung auf, endlich Verantwortung zu übernehmen und Klarheit zu schaffen. Ob Jesid*innen abgeschoben werden oder nicht, darf nicht einzelnen Bundesländern überlassen werden.

Spätestens seit dem Völkermord durch die Terrororganisation Islamischer Staat im Jahr 2014 ist das Sinjar-Gebiet im Nordirak, in dem die Jesid*innen seit Jahrhunderten leben, zu einem lebensgefährlichen Brennpunkt geworden, beschreibt das Gutachten „Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak“. Dort kämpfen staatliche und nicht-staatliche Akteure rücksichtslos um Macht und Einfluss.

In dem strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien, Türkei und Iran prallen die Interessen aufeinander – und die Jesid*innen stehen mittendrin und zwischen allen Fronten. Rund 200.000 harren noch immer in irakischen Flüchtlingslagern aus ohne Aussicht, sie verlassen zu können. Auch die Rede von einer sogenannten innerirakischen Fluchtalternative geht an der Realität vorbei, weil eine jesidische Familie nicht in einen anderen Landesteil gehen könnte: Dort wäre sie ohne die lebenswichtige Gemeinschaft und ohne Schutz.

Nicht in das Land des Völkermords abschieben

„Menschen, die als Opfer eines Völkermords anerkannt wurden, dürfen nicht in das Land des Völkermords abgeschoben werden. Wenn der Bundestag in Berlin wenige Hundert Meter entfernt vom Holocaust-Denkmal einen Völkermord anerkennt, sollte er die daraus entstehende Verantwortung ernst nehmen. Dies wäre auch ein wichtiges Zeichen für andere europäische Länder. Deutschland muss den Jesid*innen Sicherheit geben, erst recht, nachdem es sie als Opfer eines Völkermords anerkannt hat“, sagt Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer von Wadi e.V.

In Deutschland existiert mit rund 250.000 Menschen nicht nur die größte jesidische Diaspora in Europa, sondern nach dem Irak die zweitgrößte weltweit. Sie leben vor allem in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. Geschätzt sind derzeit 5.000 bis 10.000 irakische Jesid*innen ausreisepflichtig und von Abschiebungen in den Irak bedroht. Denn Mitte 2023 begannen die ersten Bundesländer auf dem Hintergrund einer enger werdenden Kooperation mit dem Irak und Gerichtsurteilen, wonach es im Irak keine gruppenspezifische Verfolgung mehr gebe, Jesid*innen in den Irak abzuschieben.

Gutachten als Entscheidungsgrundlage für Behörden und Gerichte

Das von PRO ASYL und Wadi e.V. in deutscher und englischer Sprache herausgegebene Gutachten stellt die tragische Lage der jesidischen Gemeinschaft im Irak und die Hintergründe dazu dar – kompakt und umfassend samt der innerirakischen Konflikte. Damit wollen die beiden Organisationen eine Informationslücke schließen und eine Grundlage für qualifizierte Entscheidungen schaffen. Denn immer wieder entscheiden Behörden und Gerichte über die Zukunft jesidischer Menschen und lassen dabei die dramatische Situation, in die sie die Menschen schicken, außer Acht.

Im Gutachten geht es auch um die Jesid*innen als Gruppe, deren Lebensgrundlagen systematisch – und darum geht es beim Völkermord – zerstört wurden. Das unterscheidet sie von vielen anderen aus dem Nahen Osten, die vor Krieg und Zerstörung fliehen: Der Islamische Staat wollte nicht nur Jesid*innen vernichten, sondern die jesidische Existenz. So wächst mit jeder Abschiebung die Angst, dass nicht nur Einzelne gewaltsam aus ihrer neuen Heimat gerissen und in eine ungewisse Zukunft geschickt werden, sondern dass auch hier die jesidische kollektive Existenz bedroht ist.

Seit vielen Monaten fordern jesidische und andere Organisationen wie PRO ASYL und Wadi e.V. einen Abschiebestopp für Jesid*innen, unter anderem mit einem offenen Brief an die Bundestagsabgeordneten.

Das Gutachten kann in deutscher und englischer Sprache heruntergeladen werden.