NRW-Rechtsprechung: "Faktische Duldung" zählt nicht für Chancen-Aufenthaltsrecht

20.03.2023 Aus den News von Pro Asyl:

Uneinigkeit über faktische Duldung: Keine Chance auf das Chancen-Aufenthaltsrecht?

Das Chancen-Aufenthaltsrecht soll langjährig Geduldeten eine Brücke in ein dauerhaftes Bleiberecht bauen. Das spiegelt sich in Anwendungshinweisen einiger Bundesländer wider. Doch das Oberverwaltungsgericht NRW entscheidet bei Grenzübertrittsbescheinigungen gegen das Land, macht Hoffnungen zunichte – und widerspricht dem Bundesverwaltungsgericht.

Zwischen dem Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen auf der einen sowie einigen Bundesländern und  dem Bundesverwaltungsgericht auf der anderen Seite besteht Uneinigkeit darüber, ob sogenannte Grenzübertrittsbescheinigungen als faktische Duldungen im Sinne des Aufenthaltsgesetzes gelten oder nicht. Wichtig ist das für potenziell Begünstigte des Chancen-Aufenthaltsrechts, weil sie sich bis zum Stichtag 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten haben müssen, um das Chancen-Aufenthaltsrecht beantragen zu können. Zudem müssen sie auch bei der Antragstellung beziehungsweise spätestens zum Zeitpunkt der Erteilung geduldet sein.

Wenn nun aber die Grenzübertrittsbescheinigungen, die von Ausländerbehörden oft sogar ohne Anlass anstelle einer Duldung ausgestellt werden, nicht als faktische  Duldung gelten, können einige der potenziell Begünstigten die erforderlichen fünf Jahre ohne Unterbrechungen nicht nachweisen oder gelten bei Antragstellung nicht als geduldet – und bleiben so vom Chancen-Aufenthaltsrecht ausgeschlossen.

Versprechen aus dem Koalitionsvertrag

Dabei hat die Ampelkoalition mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Chancen-Aufenthaltsrecht (geregelt in  § 104c Aufenthaltsgesetz) ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag umgesetzt. Nach dem Gesetzentwurf soll das Chancen-Aufenthaltsrecht Menschen, die seit über fünf Jahren geduldet sind und »über die lange Aufenthaltszeit ihr Lebensumfeld in Deutschland gefunden haben, […] eine aufenthaltsrechtliche Perspektive eröffnet und eine Chance eingeräumt werden, die notwendigen Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt zu erlangen«.

Oft schreiben Ausländerbehörden einfach Fantasiepapiere aus.

Wie gesagt ist die Grundvoraussetzung für das Chancen-Aufenthaltsrecht, dass sich potenziell  Begünstigte am Stichtag 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten haben und auch zum Zeitpunkt der Antragstellung beziehungsweise spätestens der Entscheidung geduldet sind und über eine entsprechende Bescheinigung verfügen (§ 60a Abs. 2 i.Vm. Abs. 4 AufenthG).

Ausländerbehörden verweigern Duldungsbescheinigung

In vielen Fällen stellen Ausländerbehörden aber weder eine Duldungsbescheinigung aus noch betreiben sie aufenthaltsbeendende Maßnahmen, sondern geben stattdessen eine sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) aus. Eigentlich soll die Grenzübertrittsbescheinigung  den Ausländerbehörden zur Überprüfung dienen, ob  vollziehbar ausreisepflichtige Personen  das Bundesgebiet tatsächlich verlassen haben: Die jeweilige Person gibt  die Grenzübertrittsbescheinigung bei Ausreise bei der Bundespolizei ab, die darauf die Ausreise bestätigt und die Bescheinigung an die zuständige Ausländerbehörde zurücksendet.

Oft wird von Ausländerbehörden die Grenzübertrittsbescheinigung aber einfach an Stelle einer Duldungsbescheinigung ausgestellt. Oder es wird eine Grenzübertrittsbescheinigung zunächst tatsächlich für den vorgesehenen Zweck ausgefertigt. Reisen die Betroffenen dann aber  nicht aus, wird die Grenzübertrittsbescheinigung einfach verlängert, statt entweder aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen oder eine Duldungsbescheinigung auszustellen. Neben  Grenzübertrittsbescheinigungen schreiben Ausländerbehörden auch  Fantasiepapiere wie  eine Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen,  die aber tatsächlich gar nicht vollzogen werden.

Voraufenthaltszeit trotz fünf Jahre Aufenthalt nicht erfüllt?

Hier wie dort haben Betroffene dann mit Blick auf das Chancen-Aufenthaltsrecht das Problem, dass entweder der erforderliche fünfjährige Voraufenthaltszeitraum nicht ununterbrochen geduldet war oder dass sie zum Zeitpunkt der Antragstellung keine Duldungsbescheinigung vorweisen können.

Damit die  Betroffenen dennoch die fünfjährige Voraufenthaltszeit erfüllen können, haben  einige Bundesländer in ihren Anwendungshinweisen zum Chancen-Aufenthaltsrecht festgelegt, dass auch ein Aufenthalt mit Bescheinigungen über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen oder mit Grenzübertrittsbescheinigungen – zum Teil unter weiteren Voraussetzungen – als geduldeter Aufenthalt im Sinne des § 104c AufenthG gilt.

Einige Bundesländer erkennen Grenzübertrittsbescheinigungen an

In Nordrhein-Westfalen heißt es in Ergänzungen zu den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums etwa: »Sind Betroffene im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, sind sie während dieses Zeitraums als faktisch geduldet im Sinne des § 104c AufenthG anzusehen.« Die gleiche Formulierung wird in den Niedersächsischen Anwendungshinweisen verwendet.

Fast wortgleich heißt es auch in den Anwendungshinweisen Thüringens für die Situation zum Zeitpunkt der Antragstellung: »Sofern Betroffene zum Zeitpunkt der Antragstellung im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen sind, sind sie während dieses Zeitraums als faktisch geduldet im Sinne des § 104c AufenthG anzusehen.« Und für die Anrechnung von Voraufenthaltszeiten heißt es dort: »Zeiten, in denen die Antragstellenden im Besitz einer GÜB oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen waren, eine Abschiebung jedoch nicht vollzogen wurde, sind anrechenbare Voraufenthaltszeiten i. S. d. § 104c AufenthG.«

Bayern macht Einschränkungen

Auch Bayern erkennt grundsätzlich an, dass Zeiträume mit Grenzübertritts- statt Duldungsbescheinigungen als anrechenbar anzusehen sind, macht aber Einschränkungen. In den Anwendungshinweisen wird auch auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verwiesen, die der Pflicht zur Anrechnung dieser Zeiträume zugrunde liegt: »In Fällen, in denen das einer Duldung zugrundeliegende Abschiebungshindernis entfallen ist und in der Folge lediglich eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt werden konnte, gilt in Bezug auf das Merkmal »ununterbrochen geduldet« das Folgende: 

Wenn eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt wurde, die Abschiebung allerdings aus Kapazitätsgründen über einen längeren Zeitraum nicht durchgeführt werden konnte, ist auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.09.1997 – 1 C 3/97:»(…) Der Gesetzgeber geht also von der zügigen Durchführung der Abschiebung aus. Ergeben sich Hindernisse, die eine erhebliche Verzögerung der Abschiebung nach sich ziehen, ist nach § 55 II AuslG [Anm.: entspricht § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG] zu verfahren.«) zugunsten des Betroffenen davon auszugehen, dass in der Rückschau eigentlich eine Duldung zu erteilen gewesen wäre. 

Ein solcher Zeitraum ist jedenfalls regelmäßig anzunehmen, wenn der Ausländer für einen über sechs Monate hinausgehenden Zeitraum im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung gewesen ist. dass eine Duldung auszustellen gewesen wäre, ist im Übrigen insbesondere zugunsten von Ausländern, die im Sinne des vorherigen Satzes für eine längere Zeit im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung waren, zu vermuten, wenn diese bis heute nicht rückgeführt werden konnten, ohne dass dieser Umstand auf aktivem oder passivem Widerstand seitens der Betroffenen im Rahmen einer Abschiebungsmaßnahme beruht.«

Das Bundesverwaltungsgericht sagt klar: Es gibt keinen Status unterhalb der Duldung

Tatsächlich stellte das Bundesverwaltungsgericht mit der in den bayerischen Anwendungshinweisen zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 1997 bereits den Grundsatz auf, dass es keinen aufenthaltsrechtlichen Status unterhalb einer Duldung gibt. Dort wird ausgeführt: »Sobald keine Zweifel an der Zulässigkeit der Abschiebung eines ausreisepflichtigen Ausländers mehr bestehen, ist es grundsätzlich eine nicht mehr in ihrem Ermessen stehende gesetzliche Pflicht der Ausländerbehörde, die Ausreisepflicht unverzüglich durchzusetzen (vgl. BTDrucks 11/6321 S. 76 zu § 55 Abs. 4; vgl. ferner zum Erfordernis der Abschiebung »unverzüglich« nach Erlöschen einer Duldung § 56 Abs. 6 Satz 1 AuslG).

Nur eine Aussetzung der Abschiebung (Duldung) kann dann noch die Vollstreckung der Ausreisepflicht – vorübergehend – hindern (vgl. Kanein/Renner, a.a.O. § 49 AuslG Rn. 2). Abgesehen von dem Fall der gesetzlichen Duldung des § 69 Abs. 2 Satz 1 AuslG [Anm.: entspricht im Wesentlichen § 81 Abs. 3–4 AufenthG ] regelt § 55 AuslG [entspricht im Wesentlichen § 60a AufenthG] entsprechend den oben dargestellten Intentionen des Gesetzgebers abschließend die Voraussetzungen für die Erteilung einer Duldung nach dem Ausländergesetz. 

Eine stillschweigende Aussetzung der Abschiebung anstelle der nach § 66 Abs. 1 Satz 1 AuslG der Schriftform bedürftigen Duldung kommt mithin nicht in Betracht (vgl. Fraenkel, Einführende Hinweise zum neuen Ausländergesetz, S. 291). Diese Erwägungen sprechen gegen die vom Berufungsgericht vertretene Rechtsansicht, die dazu führt, dass ein Ausländer, der trotz vollziehbarer Ausreisepflicht nicht freiwillig ausreist, sich ohne geregelten Status im Bundesgebiet aufhält, obwohl die Ausländerbehörde die Ausreisepflicht wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nicht zwangsweise durchsetzen kann. Die Systematik des Ausländergesetzes läßt grundsätzlich keinen Raum für einen derartig ungeregelten Aufenthalt. Vielmehr geht das Gesetz davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor.«

Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen ignoriert das Bundesverwaltungsgericht

Ungeachtet dieser eindeutigen grundlegenden Rechtsprechung, die auch im Rahmen der Geltung des Aufenthaltsgesetzes seine Gültigkeit bewahrt hat (vergleiche etwa aus jüngerer Zeit hierzu ein Urteil des Verwaltungsgericht Greifswald vom 28.1.2021), hat nun jüngst das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen in einem Beschluss vom 10.2.2023 im Rahmen die Rechtsansicht vertreten, dass die oben zitierten Anwendungshinweise dieses Bundeslandes keine Gültigkeit besitzen sollen. Diese Rechtsansicht äußerte das Oberverwaltungsgericht in einem obiter dictum. Das bedeutet, dass es auf diese Rechtsmeinung im Rahmen der Entscheidung gar nicht ankam, sondern diese nur geäußert wurde, weil sich die Gelegenheit dazu bot  – denn der Betroffene hätte schon aufgrund des Vorliegens der Voraussetzungen des Ausschlussgrundes des § 104c Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in Folge der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe nicht vom Chancen-Aufenthaltsrecht profitieren können.

In der Entscheidung führt das Oberverwaltungsgericht aus: »Nicht vereinbar mit dem Aufenthaltsgesetz ist […] die NRW-spezifische Ergänzung bzw. Abweichung unter b.) zu Ziffer 1.3 der Anwendungshinweise des BMI. Diese ist wie folgt formuliert: »Sind Betroffene im Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung (GÜB) oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen, sind sie während dieses Zeitraums als faktisch geduldet im Sinne des § 104c AufenthG anzusehen.«

Diese Bestimmung verkennt, dass nach der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts [Anm.: Urteil vom 18. Dezember 2019 ‑1 C 34.18,Rn. 24 und 30] ein Ausländer nur dann geduldet ist, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat. Der Besitz einer Grenzübertrittsbescheinigung oder einer ausländerbehördlichen Bescheinigung über die Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen reicht insoweit nicht aus. Eine faktische Duldung sieht die Konzeption des Aufenthaltsgesetzes nicht vor und ist auch der Neuregelung des § 104c AufenthG nicht zu entnehmen.«

Das Bundesverwaltungsgericht widerspricht dem Oberverwaltungsgericht!

Das Oberverwaltungsgericht Nordrheinwestfalen verkennt bei dieser Rechtsauffassung, dass nach der oben zitierten grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1997 das Aufenthaltsrecht – um es mit den klaren Worten des Bundesverwaltungsgerichts zu formulieren – gerade davon ausgeht, dass eine ausreisepflichtige Person »entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält«.

 

Faktische Duldung vom Bundesverwaltungsgericht anerkannt

Darüber hinaus verwendet das  Bundesverwaltungsgericht  in der vom Oberverwaltungsgericht bemühten Entscheidung aus dem Jahre 2019 sogar den Begriff der faktischen Duldung, von dem das Oberverwaltungsgericht behauptet, dass er der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes fremd sei. Danach darf es bei einer bestehenden Pflicht der Ausländerbehörde zur Erteilung einer Duldung der betroffenen Person »nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie dieser Pflicht im Einzelfall trotz Vorliegens der Voraussetzungen nicht nachkommt und den Aufenthalt lediglich faktisch duldet«.

Die zitierten Anwendungshinweise der genannten Bundesländer sind also gesetzeskonform. Lediglich bei den Anwendungshinweisen Bayerns steht in Frage,  ob eine bis zu sechsmonatige Grenzübertrittsbescheinigung noch nicht als faktische Duldung anzuerkennen ist. Aus Sicht von PRO ASYL gilt:  Eine Grenzübertrittsbescheinigung sollte vielmehr mit dem Ablauf der jeweils gesetzten Ausreisefrist als faktische Duldung anerkannt werden, wenn nicht unverzüglich aufenthaltsbeendende Maßnahmen ergriffen werden. Die übrigen Bundesländer sind gut beraten, ihre Anwendungshinweise entsprechend zu formulieren beziehungsweise anzupassen.

(pva/wr)