Obdachlos per Gesetz? Junge Geflüchtete wird aus Unterkunft geworfen

27.02.2025 Pressemitteilung von Pro Asyl: Junge geflüchtete Frau wird vom Staat in die Obdachlosigkeit gezwungen – Gericht schreitet ein

In Baden-Württemberg wurde eine geflüchtete Frau aus einer Gemeinschaftsunterkunft heraus bei Minustemperaturen auf die Straße gesetzt. Grundlage dafür ist eine von der Ampelregierung beschlossene Leistungsstreichung. Das Sozialgericht Karlsruhe befand in einer Eilentscheidung: Das ist verfassungs- und europarechtswidrig.

Angesichts der bevorstehenden Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen appelliert PRO ASYL an die künftigen Regierungsparteien, keine Politik der Entrechtung auf dem Rücken von Geflüchteten zu betreiben und zur rechtsstaatlich basierten Asylpolitik zurückzukehren.

Aktueller Anlass ist ein Fall aus Baden-Württemberg: Mitte Februar setzte eine der reichsten Kommunen Deutschlands eine junge, geflüchtete Frau bei Minustemperaturen auf die Straße. Ihr wurde jegliche soziale Unterstützung und sogar das Nutzungsrecht für ihr Zimmer in der Gemeinschaftsunterkunft entzogen. Das Sozialamt begründete den Rauswurf damit, dass sich die Frau nach Kroatien begeben müsse, in das für ihr Asylverfahren zuständige Land. Hintergrund ist eine entsprechende Regelung aus dem so genannten Sicherheitspaket, das am 31.Oktober 2024 in Kraft getreten ist.

„Dieser vorhersehbare Skandal bestätigt die Kritik von PRO ASYL: Rechtlich unhaltbare Gesetze durchzusetzen, die lediglich populistische Forderungen nach harter Migrationspolitik bedienen sollen, ist eine erfolglose Strategie. Diese Strategie hat aber gravierende Auswirkungen auf Menschenleben”, sagt Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL. „Das ist ein klarer Appell an die neue Koalition, rechtmäßige Asylpolitik zu betreiben und sich von der Illusion zu lösen, mit harter Migrationspolitik den Aufstieg der extremen Rechten aufhalten zu können.”

Gericht erklärt Leistungsausschluss für klar rechtswidrig

PRO ASYL unterstützte die Klage der betroffenen Frau, die mithilfe einer Anwältin beim Sozialgericht gegen den Beschluss der Stadt vorging. Aufgrund der akut drohenden Obdachlosigkeit der jungen Frau entschied das Sozialgericht Karlsruhe vergangene Woche binnen weniger Stunden. Es erklärte am 19. Februar 2025 mit deutlichen Worten, dass es den Leistungsausschluss sowohl für verfassungs- als auch für europarechtswidrig hält. (S 12 AY 424/25 ER) Nach dem Richterspruch konnte die Geflüchtete in die Unterkunft zurückkehren.

Überraschend kommt die Entscheidung des SG Karlsruhe nicht: Bereits in der Sachverständigenanhörung des Bundestags zum Sicherheitspaket hatten Expert*innen und Organisationen, darunter auch PRO ASYL, die Ampel-Regierung vor der vollständigen Leistungsstreichung gewarnt.

„Der Fall zeigt, wie weit sich die ‚Parteien der Mitte‘ treiben lassen, um den vermeintlichen Volkszorn zu befrieden. Es ist bitter, dass die Leidtragenden solch menschenverachtender gesetzlicher Regelungen sich nun einzeln vor Gerichten wehren müssen“, sagt Tareq Alaows.

Kein Einzelfall: Gerichte kassieren die Entscheidungen von Sozialämtern

In den vergangenen Monaten häuften sich Fälle, in denen Sozialämter Leistungskürzungen für Geflüchtete auf Grundlage des Sicherheitspakets beschlossen. Diese Kürzungen wurden im Anschluss von Gerichten ausnahmslos abgeschmettert.

Nach Auffassung des Sozialgerichts Speyer (20.02.2024 – S 15 AY 5/25 ER) verstößt die Leistungsstreichung gegen die Verfassung. Am 17. Dezember 2024 machte das Sozialgericht Nürnberg klar, dass es die Norm mit dem Europarecht nicht für vereinbar hält (richterlicher Hinweis – S 17 AY 68/24 ER). Ähnliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsentzugs mit Europäischem Recht äußerten die Sozialgerichte in Landshut (18.12.2024 – S 11 AY 19/24 ER), Osnabrück (18.12.2024 – S 44 AY 25/24 ER), Darmstadt (04.02.2025 – S 16 AY 2/25 ER) und Trier (20.02.2025 – S 3 AY 4/25 ER).

 

26.02.2025 Aus den News von Pro Asyl

Obdachlos per Gesetz? Junge Geflüchtete wird aus Unterkunft geworfen

Eine junge Frau wird im Februar 2025 aus ihrer Flüchtlingsunterkunft geworfen, sämtliche Sozialleistungen werden gestrichen. Doch ein Sozialgericht kassiert das wieder ein. Weitere Eilbeschlüsse von Gerichten machen deutlich: Die von der Ampelregierung eingeführte Leistungsstreichung ist ein Verstoß gegen Grundgesetz und Europarecht.

Mitte Februar setzt eine der reichsten Kommunen Deutschlands eine junge, geflüchtete Frau bei Minustemperaturen auf die Straße. Sämtliche Sozialleistungen werden ihr entzogen, sogar Rückforderungen gestellt – weil Kroatien für ihr Asylverfahren zuständig sei. PRO ASYL verständigt eine Anwältin, die beim Sozialgericht umgehend gegen den Beschluss der Stadt vorgeht. Angesichts der akut drohenden Obdachlosigkeit der jungen Frau entscheidet das Sozialgericht Karlsruhe binnen weniger Stunden. Am 19.2.2025 erklärt es mit deutlichen Worten, dass es den Leistungsausschluss sowohl für verfassungs- als auch für europarechtswidrig hält (S 12 AY 424/25 ER). Nach dem Richterspruch kann die junge Frau in die Unterkunft zurückkehren.

Der Fall ist aber kein Ausrutscher, sondern Ergebnis des Versuchs der Ampelregierung, größtmögliche Härte gegen Flüchtlinge zu demonstrieren. Die Strategie, aufgrund  populistischer Forderungen von Rechtsextremen menschenfeindliche und rechtlich unhaltbare Gesetze durchzusetzen, ist jetzt mehrfach gescheitert – rechtlich, aber auch politisch, wie das ungebremste Erstarken der Rechtsextremen bei der Bundestagswahl zeigt. Leidtragende sind diejenigen, die sich für ihr schieres Überleben – etwas zu Essen und ein Dach über dem Kopf – nun einzeln Hilfe bei Beratungsstellen, in Kanzleien und letztlich vor Gerichten holen müssen.

Der Fall ist kein Ausrutscher, sondern Ergebnis des Versuchs der Ampelregierung, größtmögliche Härte gegen Flüchtlinge zu demonstrieren.

Die Leistungsstreichung im »Sicherheitspaket«

Hintergrund des beschriebenen Falls ist eine Regelung aus dem so genannten Sicherheitspaket, einem Gesetz, das am 31. Oktober 2024 in Kraft getreten ist. Der neue § 1 Abs. 4 AsylbLG verlangt von den Behörden, ausreisepflichtigen Menschen im Dublin-Verfahren (dem europäischen Asyl-Zuständigkeitsverfahren) jegliche Unterstützungsleistungen zu entziehen. Lediglich für eine Frist von zwei Wochen und in eng begrenzten Ausnahmefällen  sollen bestimmte Leistungen noch erbracht werden dürfen. Regelmäßig aber lautet die gesetzliche Forderung: Null staatliche Hilfe.

Begründet wird die Streichung von Sozialleistungen damit, dass Betroffene ihr Asylverfahren in dem für sie zuständigen europäischen Land führen müssen. Die Crux dabei: Die Betroffenen können zumeist gar nicht ohne Weiteres ihren Aufenthaltsort wechseln. Zwar sind freiwillige Ausreisen nach der Dublin-Verordnung grundsätzlich möglich. Aber die Behörden beider Staaten müssen dem zustimmen bzw. dies mitorganisieren. Nach geltender Dienstanweisung vom 12.12.2024 befürwortet das BAMF freiwillige Ausreisen nur in Ausnahmefällen, da es aus Sicherheitsgründen keine freiwilligen Überstellungen nach Deutschland akzeptiert.

Hinzu kommt in vielen Fällen, dass einige europäische Staaten (wie etwa Italien oder Griechenland) kein Interesse an der Aufnahme von Dublin-Fällen haben – ebenso wenig wie an ihrer menschenwürdigen Versorgung. Die betroffenen Geflüchteten wiederum haben häufig Angst vor der Rückkehr in die zuständigen Staaten, weil sie dort (Polizei-)Gewalt erfahren haben oder ohne jegliche Unterstützung zu verelenden drohen (ein besonders drastisches Beispiel ist etwa Bulgarien). Dass nun auch Deutschland versucht, eine menschenwürdige Versorgung von Geflüchteten einfach zu verweigern, wird das europäische Elend nicht beseitigen und es für die davon Betroffenen nur noch schlimmer machen.

Die gesetzliche Bruchlandung war absehbar

In Deutschland gilt noch immer das Grundgesetz und das europäische Recht – mit dem Grundsatz der Würde eines jeden Menschen. Überraschend kommt die Entscheidung des Sozialgerichts Karlsruhe und einiger anderer Gerichte deshalb nicht. Die Bruchlandung der gesetzlichen Neuregelung war absehbar.

Bereits in der Sachverständigenanhörung des Bundestags zum Sicherheitspaket hatten Expert*innen die Ampel-Regierung vor der vollständigen Leistungsstreichung gewarnt. Neben PRO ASYL äußerten etwa Dr. Philipp Wittmann (Richter am VGH Baden-Württemberg) oder Sarah Lincoln (Gesellschaft für Freiheitsrechte) erhebliche europa- und verfassungsrechtliche Bedenken an der Leistungsstreichung.

Die Warnungen der Expert*innen verhallten jedoch weitgehend ungehört. Im Kern blieb es beim vollständigen Leistungsausschluss.

Kein Einzelfall: Gerichte kassieren die Entscheidungen von Sozialämtern

Bereits mehrfach haben Sozialämter in den vergangenen Monaten mit Bezug auf die Neuregelung Kürzungen für Geflüchtete beschlossen, die von Gerichten im Anschluss ausnahmslos abgeschmettert wurden.

Nach Auffassung des Sozialgerichts Speyer (20.02.2024 – S 15 AY 5/25 ER) verstößt die Leistungsstreichung gegen die Verfassung.  Am 17.12.2024 machte das Sozialgericht Nürnberg klar, dass es die Norm mit dem Europarecht nicht für vereinbar hält (richterlicher Hinweis S 17 AY 68/24 ER). Ähnliche Zweifel an der Vereinbarkeit des Leistungsentzugs mit Europäischem Recht äußerten die Sozialgerichte in Landshut (18.12.2024 – S 11 AY 19/24 ER), Osnabrück (18.12.2024 – S 44 AY 25/24 ER), Darmstadt (04.02.2025 – S 16 AY 2/25 ER) und Trier (20.02.2025 – S 3 AY 4/25 ER).

Die Leistungskürzungen der Behörden scheiterten in diesen rechtlichen Verfahren allerdings oft schon an einem einfachen Punkt: So bemängelten mehrere Gerichte, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in den betreffenden Fällen nicht festgestellt hatte, dass die Ausreise in den zuständigen EU-Staat rechtlich und tatsächlich möglich sei – genau dies ist aber die Voraussetzung für die Anwendung von § 1 Abs.4 AsylbLG. Inzwischen bereitet sich das BAMF offenbar darauf vor, reihenweise entsprechende Feststellungen in den Bescheiden zu treffen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass vielen Geflüchteten der Weg in eine menschenwürdige Versorgung im zuständigen Dublin-Staat trotz dieser Behauptung eben nicht umgehend möglich ist, dürfte sich an den grundsätzlichen verfassungs- und europarechtlichen Zweifeln der Gerichte nichts ändern.

Die verfassungs- und europarechtliche Kritik 

Der erste Artikel des Grundgesetzes (Menschenwürde) garantiert in Verbindung mit Artikel 20 (Sozialstaatsprinzip) ein menschenwürdiges Existenzminimum für jeden einzelnen Menschen, der sich in Deutschland aufhält. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Deshalb gehört zu einer menschenwürdigen Existenz nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts  nicht nur das nackte Überleben, die rein physische Existenz  (»Bett, Brot, Seife«), sondern auch die Sicherung der soziokulturellen Existenz – das häufig so genannte »Taschengeld« für persönliche Bedarfe (Handy, Bücher, Fahrkarten, etc.). Eine Kürzung am menschenwürdigen Existenzminimum wäre nur erlaubt, wenn der Gesetzgeber nachweisen könnte, dass die betroffenen Menschen tatsächlich weniger brauchen als andere Menschen. Einen solchen Nachweis hat die Regierung, kaum überraschend, seit dem maßgeblichen und wegweisenden Urteil des Verfassungsgerichts 2012 nicht erbringen können. Auch die Praxis der bloßen Kürzung (nicht vollständiger Streichung) von Asylbewerberleistungen steht deshalb seit langem in der Kritik, verfassungswidrig zu sein.

Das oben erwähnte SG Karlsruhe nimmt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in einem weiteren Punkt Bezug: Da die Regelung aus dem Sicherheitspaket »Einreiseanreize vermeiden und zur Ausreise aus Deutschland motivieren soll«, sei der vollständige Leistungsausschluss »erst recht verfassungswidrig, denn selbst bloße Leistungsabsenkungen sind [laut Bundesverfassungsgericht] nicht mit migrationspolitischen Erwägungen zu rechtfertigen.« (S 12 AY 424/25 ER) Das bedeutet: Es ist verboten zu versuchen, Menschen durch Leistungsentzug zur Ausreise zu zwingen.

Europarechtlich sehen die Gerichte in der vollständigen Leistungsstreichung des neuen § 1 Abs. 4 AsylbLG für Dublin-Fälle eine Verletzung der europarechtlichen Regelungen über Mindeststandards der Versorgung während des Asylverfahrens – die so genannte Aufnahmerichtlinie (EURL 2013/33). Sie garantiert eine Mindestversorgung, von der nur in bestimmten Fällen abgewichen werden darf – die bloße Asylzuständigkeit eines anderen Staats gehört nicht dazu. Auch mit Blick auf die neue EU-Aufnahmerichtlinie, die 2026 in Kraft tritt, gibt es bereits fundierte rechtlich begründete Zweifel an der Leistungsstreichung.

Das Sozialgericht in Nürnberg verweist darauf, dass schon die Vereinbarkeit der Vorläuferregelung (§ 1a Abs. 7 AsylbLG) mit dem EU-Recht akut in Frage steht: Im Juli 2024 hat nämlich das Bundessozialgericht diese Regelung dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt (Vorlagebeschluss des BSG vom 25.07.2024 – B 8 AY 6/23 R). Dabei sieht die im Verdacht des EU-Rechtswidrigkeit stehende, alte Regelung »nur« gekürzte Leistungen, nicht einmal die vollständige Leistungsstreichung vor.

Kaum Leistungsstreichungen in der Praxis

Das Sozialgericht Osnabrück weist in seinem Beschluss darauf hin, dass deutsche Gerichte Normen, die europarechtswidrig sind, unangewendet lassen müssen, auch wenn es (noch) keine Vorlage ans BVerfG oder den EuGH gibt. Diese Verpflichtung gilt auch für rechtsanwendende Behörden und ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung, wie Prof. Constantin Hruschka in seinem Text zur Unionsrechtswidrigkeit der Leistungsstreichung im Dublin-Verfahren erklärt.

Grundsätzlich wären alle Behörden gut beraten, menschenrechtliche, verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben zu achten und sich nicht in zahllosen überflüssigen, aufwändigen Gerichtsverfahren korrigieren zu lassen.

Das mag ein Grund dafür sein, dass die völlige Leistungsstreichung wie im eingangs geschilderten Fall aus Baden-Württemberg seit dem Inkrafttreten des Sicherheitspakets nur selten erfolgt ist. Das Land Rheinland-Pfalz etwa schreibt den Behörden aufgrund einer »verfassungs- und europarechtlich notwendigen zeitlichen Ausdehnung« ein Mindestmaß an Leistungen für alle betroffenen Personen bis zur tatsächlichen Ausreise vor.

Andere Länder vermeiden den Rauswurf von Geflüchteten im Dublin-Verfahren aus ihrer Unterkunft schlicht deshalb, weil die Kommunen die betreffenden Menschen dann aus sicherheits- bzw. ordnungspolitischen Gründen unterbringen müssten.

Grundsätzlich wären alle Behörden gut beraten, menschenrechtliche, verfassungsrechtliche und europarechtliche Vorgaben zu achten und sich nicht in zahllosen überflüssigen, aufwändigen Gerichtsverfahren korrigieren zu lassen. Die künftige Bundesregierung sollte daraus lernen, lieber gleich gewissenhaft auf Grund- und Europarecht zu achten und gar nicht erst rechtlich fragwürdige Gesetze zu verabschieden. Denn dass die entsprechende Regelung aus dem Sicherheitspaket künftig Bestand haben wird, darf inzwischen einmal mehr angezweifelt werden.

(ak)