OVG Münster: Kein subsidiärer Schutz mehr für Syrer?

22.07.2024 Eine weitreichende Entscheidung zum Flüchtlingsstatus syrischer Zivilpersonen traf das Oberverwaltungsgericht Münster:

Für Zivilpersonen besteht in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Bürgerkrieg) mehr.

... Die Richter argumentieren, dass es zwar in Syrien weiter Anschläge und bewaffnete Auseinandersetzungen gäbe – diese seien aber nicht mehr häufig genug.

... Die bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschläge erreichen jedoch kein solches Niveau (mehr), dass Zivilpersonen beachtlich wahrscheinlich damit rechnen müssen, im Rahmen dieser Auseinandersetzungen und Anschläge getötet oder verletzt zu werden.

... Das Urteil deutet eine Richtungsänderung an und ist für viele Syrer in Deutschland relevant. Viele haben nämlich keinen formalen Flüchtlingsstatus, sondern nur jenen sogenannten subsidiären Schutz.
Der reicht aus, um in Deutschland leben zu können. Die Erlaubnis wird aber immer nur für zwei Jahre ausgestellt und muss dann neu erteilt werden – das klappt nur, wenn die Gründe weiter vorliegen.

... Das heißt aber nicht, dass nun alle betroffenen Syrer bald mit einer Abschiebung rechnen müssen. Das verhindert noch ein bundesweites Abschiebeverbot.

25.07.2024 aktualisiert durch einordnende Artikel und Aussagen

Münster/Düsseldorf · Das Oberverwaltungsgericht NRW stellt den „subsidiären Schutz“ für Geflüchtete aus Syrien infrage. Das dürfte Folgen haben. In Nordrhein-Westfalen leben besonders viele Menschen, die davon betroffen sein könnten.

Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Münster, nach der Zivilpersonen in Syrien nicht mehr generell ernsthaft bedroht sind, löst Unruhe in Nordrhein-Westfalen aus. Man müsse abwarten, „ob und wie die Entscheidung die Durchführung von Asylverfahren im Allgemeinen beeinflussen kann beziehungsweise, ob sich andere Gerichte dieser Auffassung anschließen“, hieß es aus dem Landesflüchtlingsministerium.

Syrien ist der Herkunftsstaat, aus dem seit Jahren die meisten Schutzsuchenden nach Deutschland kommen. Wegen der Sicherheitslage in dem Land spricht das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Geflohenen regelmäßig „subsidiären Schutz“ zu. Das heißt: Eine Rückkehr würde sie zu großer Gefahr aussetzen, sie dürfen erst einmal bleiben. Und sehr viele von ihnen landen in NRW. So lebten Ende Juni 266.000 syrische Staatsangehörige unter subsidiärem Schutz in Deutschland, über 81.550 von ihnen in Nordrhein-Westfalen. Es ist mit weitem Abstand die größte Gruppe von Menschen mit diesem Status: Insgesamt stehen in NRW gut 100.000 Personen unter subsidiärem Schutz.

... Beachtung findet aber die allgemeine Einschätzung des Gerichts, denn sie könnte sich auf künftige Asylentscheidungen auswirken. Das dürfte dann viele Geflohene betreffen: Der subsidiäre Schutzstatus wird regelmäßig überprüft, spätestens alle drei Jahre. Zwar gibt es in Deutschland derzeit ein generelles Abschiebeverbot nach Syrien, auch über dieses wird nun aber wieder diskutiert.

Der Landesparteichef der FDP in NRW, Henning Höne, sagte: „Das Urteil bestätigt, dass unser Rechtsstaat funktioniert und sich an neue Realitäten, wie die aktuelle Situation in Syrien, anpasst. Ein subsidiärer Schutz für Migranten aus Syrien und Afghanistan ist nicht mehr angemessen. Wir brauchen nun mutige politische Weichenstellungen, damit mehr Migranten aus Afghanistan und Syrien, die keinen Bleibegrund haben, abgeschoben werden können. Die schwarz-grüne NRW-Landesregierung ist in der Pflicht, anhand dieses Urteils daraufhin mitzuwirken.“

Nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) in Münster zum Schutzstatus eines Syrers bleibt offen, ob es Auswirkungen auf die derzeitige Abschiebepraxis haben wird. Das Auswärtige Amt will sich auf Anfrage von ZEIT ONLINE zur Entscheidung des Gerichts nicht äußern und zunächst die schriftliche Urteilsbegründung abwarten. Noch ist nicht bekannt, auf welcher Grundlage die Richter ihre Bewertung der Sicherheitslage in Syrien überhaupt vorgenommen haben.

...  Zugleich verwies das Ministerium von Annalena Baerbock auf die bisherigen Erkenntnisse zur Situation des Landes, die ein völlig anderes Bild als das des OVG ergeben. Demnach komme es in Syrien weiterhin zu Kampfhandlungen unterschiedlicher Intensität. Es lägen glaubwürdige Berichte über teils schwerste Menschenrechtsverletzungen vor, darunter Folterpraktiken und Hinrichtungen, von denen in der Vergangenheit auch schon Rückkehrer betroffen gewesen seien. 

"Daher kommen auch die Vereinten Nationen – die in Syrien präsent sind – weiterhin zu der Einschätzung, dass die Bedingungen für eine sichere Rückkehr von Geflüchteten nicht gegeben sind", schreibt ein Sprecher des Auswärtigen Amtes ZEIT ONLINE. Das Auswärtige Amt legt den Innenbehörden und Verwaltungsgerichten jährlich einen aktuellen Bericht zu Syrien vor, der asyl- und abschiebungsrelevante Tatsachen aufführt.

Innenministerium zeigt sich zurückhaltend

Auch das Bundesinnenministerium gab sich zurückhaltend, deutete aber an, dass die Münsteraner Entscheidung durchaus von Bedeutung sei. Man habe das Urteil zur Kenntnis genommen, teilte die Behörde auf Anfrage von ZEIT ONLINE mit. Welche Konsequenzen die OVG-Entscheidung für die Asylvergabe oder die derzeitige Abschiebepraxis habe, wollte das Ministerium von Innenministerin Nancy Faeser (SPD) nicht sagen. Die Entscheidungspraxis werde gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) auf der Grundlage der verfügbaren Quellen fortlaufend geprüft, heißt es. "Darunter fallen insbesondere auch Gerichtsentscheidungen, wobei Entscheidungen der Oberverwaltungsgerichte insoweit eine bedeutende Rolle zukommt."

Kritik an dem Urteil kam derweil von Pro Asyl. "Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen entscheidet an der Realität in Syrien vorbei", sagte die rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, Wiebke Judith. Einschlägige Quellen wie der Lagebericht des Auswärtigen Amtes zeigten, dass es weiterhin "eine beachtliche Konfliktlage" gebe. Hinzu komme, dass praktisch niemand vor dem "Folterregime des Diktators Assad" sicher sei.

... Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein, schätzt die Bedeutung des Urteils für Syrer in Deutschland als gering ein. Die Feststellung des Oberverwaltungsgerichts sei nicht verbindlich für untergeordnete Gerichte, sagte er ...

... Buschmann: "Genau anschauen, wer in welchen Teil Syriens abgeschoben werden kann"

"Man kann eben nicht mehr pauschal sagen, dass die Sicherheitslage im gesamten Land überall gleich ist, sondern es muss genau hingeschaut werden", sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Die Logik dahinter sei, dass man sich immer genau anschauen müsse, wer in welchen Teil Syriens abgeschoben werden könne, sagte er zu möglichen Konsequenzen. 

Dies sei eine Entscheidung des Gerichts, "die man nachvollziehen kann, wenn man davon ausgeht, dass es mittlerweile auch in diesem Land Regionen gibt, die sehr gefährlich sind, aber auch andere Regionen gibt, wo nicht zwingend Gefahr für Leib und Leben besteht".

 

Für Zivilpersonen besteht in Syrien keine ernsthafte, individuelle Bedrohung ihres Lebens oder ihrer körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Bürgerkrieg) mehr. Dies hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 16.07.2024 entschieden.

Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger aus dem Nordosten Syriens (Provinz Hasaka). Er reiste im Jahr 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes als Bürgerkriegsflüchtling ab, weil der Kläger sich vor seiner Einreise ins Bundesgebiet an der Einschleusung von Personen aus der Türkei nach Europa beteiligt hatte. In Österreich war er deshalb bereits zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Das Verwaltungsgericht verpflichtete das Bundesamt, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Auf die Berufung des Bundesamts änderte der 14. Senat das Urteil des Verwaltungsgerichts ab und wies die Klage ab. Zur Begründung hat die Vorsitzende Richterin bei der Urteilsverkündung ausgeführt: Der Kläger erfüllt bereits nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihm in Syrien keine politische Verfolgung droht. Außerdem ist er von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen seiner vor der Einreise ins Bundesgebiet begangenen Straftaten ausgeschlossen, die als gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen von Ausländern zu bewerten sind. Hinsichtlich des vom Kläger hilfsweise begehrten subsidiären Schutzes sieht der Senat bereits die Voraussetzungen für dessen Zuerkennung, nämlich die ernsthafte, individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit von Zivilpersonen infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts, in der Provinz Hasaka, aber auch allgemein in Syrien, als nicht mehr gegeben an. Zwar finden zum Beispiel in der Provinz Hasaka noch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und verbündeten Milizen einerseits und den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) andererseits statt. Auch verübt der Islamische Staat dort gelegentlich Anschläge auf Einrichtungen der kurdischen Selbstverwaltung. Die bewaffneten Auseinandersetzungen und Anschläge erreichen jedoch kein solches Niveau (mehr), dass Zivilpersonen beachtlich wahrscheinlich damit rechnen müssen, im Rahmen dieser Auseinandersetzungen und Anschläge getötet oder verletzt zu werden. Außerdem ist der Kläger wegen der von ihm begangenen Straftaten auch von der Zuerkennung subsidiären Schutzes ausgeschlossen.

Der Senat hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht eingelegt werden.

Aktenzeichen: 14 A 2847/19.A (I. Instanz: VG Münster 2 K 2750/18.A)

 

22.07.2024 Für Syrer dürfte es künftig schwerer werden, einen Aufenthaltstitel in Deutschland zu bekommen. Grund: ein Urteil des OVG Münster.

In Syrien ist das Leben von Zivilisten nach Ansicht deutscher Richter nicht mehr ernsthaft bedroht. Das Oberverwaltungsgericht Münster wies deshalb die Klage eines Syrers ab. Er hatte gegen die Ablehnung seines subsidiären Schutzes in Deutschland geklagt.

OVG-Urteil deutet Richtungsänderung für Syrer an

Das Urteil deutet eine Richtungsänderung an und ist für viele Syrer in Deutschland relevant. Viele haben nämlich keinen formalen Flüchtlingsstatus, sondern nur jenen sogenannten subsidiären Schutz.
Der reicht aus, um in Deutschland leben zu können. Die Erlaubnis wird aber immer nur für zwei Jahre ausgestellt und muss dann neu erteilt werden – das klappt nur, wenn die Gründe weiter vorliegen.

OVG: Anschläge "nicht mehr häufig genug"

Bislang haben die Behörden und auch die Gerichte das bei Syrern so gesehen. Das OVG in Münster ist jetzt das erste wichtige Gericht, das die Gründe verneint.
Die Richter argumentieren, dass es zwar in Syrien weiter Anschläge und bewaffnete Auseinandersetzungen gäbe – diese seien aber nicht mehr häufig genug.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig

Zwar fänden zum Beispiel in der Provinz Hasaka noch bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und verbündeten Milizen einerseits und kurdischen Einheiten andererseits statt.
Auch verübe die Terrororganisation "Islamischer Staat" dort gelegentlich Anschläge auf kurdische Einrichtungen. Zivilisten müssten jedoch nicht mehr damit rechnen, getötet oder verletzt zu werden, so das Gericht. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Syrern droht keine Abschiebung

Das heißt aber nicht, dass nun alle betroffenen Syrer bald mit einer Abschiebung rechnen müssen. Das verhindert noch ein bundesweites Abschiebeverbot.
Zuletzt hatte es zum Beispiel vom Landkreistag und aus der Union Forderungen gegeben, Syrern den subsidiären Schutz - der bereits die unterste Ebene für Schutzsuchende ist - nicht mehr zuzusprechen. Dagegen wandte sich der Verband Pro Asyl, der dadurch eine Aufwertung des Regimes von Machthaber Baschar al-Assad befürchtet.

 

Als erstes Oberverwaltungsgericht hat das OVG Münster entschieden, dass einem Syrer kein subsidiärer Schutz mehr zusteht. Das Urteil könnte weitreichende Folgen haben.

In Syrien ist das Leben von Zivilisten nach Ansicht eines deutschen Gerichts nicht mehr ernsthaft bedroht. Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Münster wies die Klage eines Syrers gegen die Ablehnung eines subsidiären Schutzes für ihn in Deutschland ab. Für Zivilisten bestehe in Syrien keine bürgerkriegsbedingte, ernsthafte Bedrohung für Leib und Leben durch willkürliche Gewalt mehr, begründetet das Gericht sein Urteil laut einer Mitteilung. Das Verwaltungsgericht Münster hatte zuvor entschieden, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge müsse den Flüchtlingsstatus des Manns anerkennen.

Nach Angaben eines Gerichtssprechers handelt es sich um das erste derartige Urteil eines OVG zu Syrien. Andere Gerichte könnten sich an dieser Einschätzung orientieren. Zuvor wurde auch in der Politik der Schutzstatus für Migranten infrage gestellt, wie beispielsweise von FDP-Bundestagsfraktionschef Christian Dürr.

Der Kläger stammt laut Gericht aus der Provinz Hassaka im Nordosten Syriens. Er reiste im Jahr 2014 nach Deutschland ein und wollte seinen Status als Flüchtling anerkannt haben. Hilfsweise verlangte er die Anerkennung des sogenannten subsidiären Schutzes, der Flüchtlingen gewährt wird, die zwar kein Asyl bekommen, weil sie nicht politisch verfolgt werden, denen bei einer Rückkehr aber anderweitige Gefahren für Leben und Gesundheit drohen.

Kläger in Österreich wegen Schlepperei verurteilt

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte jedoch die Anerkennung seines Flüchtlingsstatus und des subsidiären Schutzes als Bürgerkriegsflüchtling ab, weil er sich vor seiner Einreise an der Einschleusung von Menschen aus der Türkei nach Europa beteiligt hatte. Im Dezember 2015 verurteilte das Landesgericht im österreichischen Korneuburg den Mann wegen Schlepperei zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren. Die Taten hatte er demnach zwischen April und August 2014 begangen. Nach der gegenteiligen Entscheidung des Verwaltungsgerichts Münster ging das Bundesamt in Berufung, dem das Oberverwaltungsgericht nun stattgab.