19.08.2023 In einer Pressemitteilung übte der Paritätische am 19. Juli 2023 scharfe Kritik an der mit dem vorgelegten Bundeshaushalt und dem Lindner´schen "Wachstumschancengesetz" verbundenen Kürzungen. Von diesen Kürzungsplänen ist unter anderem der Bereich Migration stark betroffen.
Wir zitieren die Pressemitteilung und einen Artikel aus dem nd vom 15.08.2023, der die Pressemitteilung aufgreift (Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege kritisieren finanzielle Einschnitte im Asylbereich):
Pressemitteilung Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege sehen Sozialstaat und gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet.
Die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege zeigen sich angesichts der Kürzungsvorhaben im vorgelegten Bundeshaushalt für 2024 alarmiert. Dieser sieht für Leistungen der Freien Wohlfahrtspflege eine Kürzung von insgesamt etwa 25% vor. Die Verbände mahnen, dass die Kürzungen massive Einschnitte bei einer Vielzahl von sozialen Angeboten und eine nachhaltige Schwächung des Zusammenhaltes in der Gesellschaft bedeuten würden.
BAGFW-Präsident Michael Groß betont: "Der vorliegende Bundeshaushalt ist weder zukunftsfest noch geht er den mutigen Weg in Richtung einer nachhaltigen und gerechteren Gesellschaft weiter, den die Bundesregierung im Koalitionsvertrag vorgezeichnet hat. Darin wurden die Wohlfahrtsverbände klar als wichtige Stütze der Daseinsvorsorge benannt. Die jetzige Kehrtwende ist nicht nur ein Zeichen mangelnder Anerkennung dieser Rolle, sondern auch mangelnden Verständnisses für ihre zentrale Bedeutung. Die Verbände sehen dies auch als Zeichen von mangelndem Respekt gegenüber den vielen Engagierten in den Verbänden sowie den rund 1,9 Mio. Beschäftigten. Die massiven Einsparungen bei sozialen Leistungen, die die Verbände der Freien Wohlfahrtspflege für Menschen in sozialen Not- und Ausnahmesituationen erbringen, werden auch gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben."
Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes: "Wir können nicht schweigend dabei zusehen, wie eine rückschrittliche Austeritätspolitik soziale Infrastruktur schreddert."
Beispielhaft nennen die Verbände drei drohende Kürzungen im Bereich Migration:
Die Kürzungen in Höhe von etwa 30% im Bereich der Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte (MBE) treffen paradoxerweise zusammen mit der höchsten Zahl von Neuzugewanderten nach Deutschland seit der großen Fluchtbewegung nach dem II. Weltkrieg, darunter 1,2 Mio. Geflüchtete allein aus der Ukraine. Die Nachfrage nach qualitativer Beratung ist unverändert hoch. In Anerkennung dessen waren im Laufe des Jahres 2022 zunächst Sondermittel und für 2023 weitere Mittel bereitgestellt worden.
Jetzt sollen diese nicht nur zurückgenommen, sondern sogar Kürzungen vorgenommen werden. Das würde Arbeitsplatzverluste für die Mitarbeitenden im Programm bedeuten, die sich täglich mit ihrer Expertise für Ratsuchende einsetzen. Die etablierten und bewährten Strukturen des Beratungsangebotes gerieten massiv unter Druck. Ein weiterer Aspekt: Von der Migrationserstberatung profitieren natürlich auch Fachkräfte. Eine Kürzung widerspricht auch den Zielen, die im gerade beschlossenen Fachkräfteeinwanderungsgesetz formuliert worden.
Ebenso paradox wären die vorgesehenen Kürzungen des Programms der bundesweiten, behördenunabhängigen Asylverfahrensberatung (AVB). Durch den Wegfall von 50% der für das nächste Jahr mindestens benötigten Mittel wird hier der gerade begonnene und im Koalitionsvertrag zugesagte Aufbau torpediert. Es drohen Insolvenzen und eine Verschlechterung des Beratungsangebots durch Wegfall der Landesfinanzierungen. Ein weiteres betroffenes Bundesprogramm ist das der Psychosozialen Zentren (PSZ). Statt einer Aufstockung der nicht annähernd ausreichenden Versorgung Traumatisierter, werden die Psychosozialen Zentren von 17 Mio. auf 7 Mio. Euro gekürzt. Die skandalöse Unterversorgung und der nun drohende Abbruch zahlreicher Therapien sind verheerend. Die Verbände sehen die Versorgung und Teilhabe von geflüchteten sowie anderen zugewanderten Menschen massiv gestört und damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Gefahr.
Auch die Mittel für die Freiwilligendienste sollen massiv gekürzt werden. Über alle Formate hinweg ist eine Absenkung um 78 Mio. Euro geplant – das sind insgesamt 23,7% der Bundesmittel für dieses Lern- und Orientierungsjahr.
Die geplanten Kürzungen hätten zur Folge, dass jeder vierte Freiwilligenplatz wegfallen würde - das wären bundesweit rund 30.000 Freiwillige.
Im Bereich Digitalisierung hebeln Einsparungen in Höhe von 3,5 Mio. Euro das vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aufgesetzte Förderprogramm zur Zukunftssicherung der Freien Wohlfahrtspflege durch Digitalisierung komplett aus. Hier werden die Verbände mitten im Aufbruch und in wichtigen strategischen Entwicklungen stark beeinträchtigt.
"Die Spitzenverbände wären auch ohne Kürzungen bereits großen Sparanstrengungen ausgesetzt", so Groß weiter. "Diese ergeben sich allein schon aus Inflation und Tarifsteigerungen. Daher darf es mindestens nominell keine Kürzungen geben. Die Freie Wohlfahrtspflege hat sich als Garant der sozialen Infrastruktur und Stabilisator in den letzten Krisen sehr bewährt. Diese Rolle ist definitiv gefährdet."
Haushalt 2024: »Soziale Arbeit wird zusammengekürzt« Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege kritisieren finanzielle Einschnitte im Asylbereich
Rechtsberatung, Therapie und Unterstützung: Die soziale Arbeit für geflüchtete Menschen in Deutschland ist von immensen Kürzungen bedroht. Unmittelbar durch die Streichung von Bundesmitteln im Haushalt 2024, mittelbar durch Steuereinbußen der Länder und Kommunen im Rahmen des sogenannten Wachstumschancengesetzes. Schon jetzt sprechen viele Gemeinden von ihren »Belastungsgrenzen« durch die notwendige Unterbringung von Geflüchteten. Es ist zu befürchten, dass die Anfeindungen von Schutzsuchenden sich im Zuge der finanziellen Engpässe im kommenden Jahr noch verstärken werden.
»Es ist paradox, in einer Zeit, in der die Zahl der Geflüchteten so hoch ist wie nie zuvor, fast alle Programme im Asylbereich massiv zu kürzen«, sagt Kerstin Becker, Expertin für Migration beim Paritätischen Gesamtverband, im Gespräch mit »nd«. Laut aktuellen Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) haben von Januar bis Juli 175 272 Menschen einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland gestellt. Das ist zwar weit weniger als im Jahr 2016 (damals waren es 722 370 Erstanträge), aktuell kommen aber rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine hinzu, die keinen Asylantrag stellen müssen. Außerdem ist die Schutzquote sehr hoch: 71 Prozent der Menschen, deren Asylgründe vom Bamf inhaltlich geprüft werden, erhalten Schutz in Deutschland.
Haushaltskürzungen sieht die Bundesregierung neben Bundesfreiwilligendiensten und Leistungen für Arbeitslose insbesondere im Asylbereich vor. Betroffen ist die Förderung der erst in diesem Jahr eingeführten unabhängigen Asylverfahrensberatung, die Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte und die psychosozialen Zentren für Geflüchtete.
Der Haushalt für 2024 sieht für die unabhängige Asylverfahrensberatung (AVB) sowie die besondere Rechtsberatung für queere und sonstige vulnerable Schutzsuchende 20 Millionen Euro vor. Die Verbände der freien Wohlfahrtpflege sehen darin eine faktische Kürzung um 50 Prozent, da dies die gleiche Summe ist wie 2023, wo das Programm erst Mitte des Jahres gestartet sei. Ihnen sei eine stufenweise Anhebung der Mittel signalisiert worden. »In der Vergangenheit gab es auch in diesem Bereich einen Flickenteppich der Förderstrukturen. Mit der Ankündigung der Förderung durch den Bund haben die Länder eigene Programme größtenteils eingestellt. Wenn nun viel weniger Gelder fließen als angekündigt, stehen wir de facto mit weniger Angeboten da als vorher«, kritisiert Inga Matthes, Referentin für Flucht beim Deutschen Roten Kreuz (DRK), gegenüber »nd«. Sie sieht darin einen Widerspruch zum Koalitionsvertrag, der eine flächendeckende Struktur für die Asylverfahrensberatung vorsah. »Das ist mit 20 Millionen Euro nicht möglich«, so Matthes. Die Förderung für unabhängige Asylverfahrensberatung war auf Druck der Verbände erst in diesem Jahr eingeführt worden. Bisher war diese Beratung überwiegend vom Bamf selbst ausgeübt worden, also der Behörde, die später über die Asylanträge entscheidet.
Die Förderung für psychosoziale Zentren in Deutschland soll um 9,6 Millionen Euro gekürzt werden. Laut Versorgungsbericht des Dachverbands der Psychosozialen Zentren in Deutschland haben fast 90 Prozent aller geflüchteten Menschen potenziell traumatisierende Ereignisse wie Krieg, Verfolgung oder Zwangsrekrutierung erlebt. Rund 30 Prozent sind von depressiven Erkrankungen oder einer posttraumatischen Belastungsstörung betroffen. Schon jetzt versorgen die deutschlandweit 47 psychosozialen Zentren nur 4,1 Prozent der potenziell behandlungsbedürftigen Geflüchteten. »Oft dauert es mehrere Monate, bis wir Patient*innen bei uns aufnehmen können. Für schwer traumatisierte Menschen ist das ein unzumutbarer Zustand«, sagt Kirstin Reichert, Geschäftsführerin des Zentrum Überleben.
Bei der Migrationsberatung für erwachsene Zugewanderte sieht die Bundesregierung eine Kürzung um rund 30 Prozent vor. Mit dem Abbau von entsprechenden Beratungsstellen wird Neuzugewanderten in Deutschland die Teilhabe am Arbeitsmarkt, an Bildung und Gesellschaft massiv erschwert und der im Koalitionsvertrag angekündigte Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik in Deutschland verfehlt, heißt es seitens der Spitzenverbände der Wohlfahrtspflege. Sie fordern die Bundesregierung auf, die Kürzungen im sozialen Bereich zurückzunehmen. »Man kürzt soziale Arbeit zusammen und gefährdet den gesellschaftlichen Frieden vor Ort. Das ist brandgefährlich«, warnt Kerstin Becker im Gespräch mit »nd«.