05.10.2022 Agadez ist eine Provinzhauptstadt in Niger und liegt am Schnittpunkt wichtiger Straßen zwischen Subsahara und der nordafrikanischen Küste. Hier lebt und arbeitet Azizou Chehou. Er ist Lehrer und Gewerkschafter und koordiniert die Arbeit von Alarmphone Sahara. Ulrike Wagener sprach mit ihm über die Interessen der EU in Niger und die Kriminalisierung von Migration. Das Interview wurde in nd veröffentlicht, begleitet von einem Beitrag EU will das Asylrecht weiter aushöhlen, den wir im Anschluss zitieren.
»Die Menschen sitzen hier fest«
Azizou Chehou von Alarmphone Sahara über die EU-Grenze in Westafrika und die Kriminalisierung von humanitärer Hilfe
Niger gilt seit 2015 als »Grenzwächter Europas«. Im Juli hat die EU ihre Zusammenarbeit mit dem westafrikanischen Staat durch eine sogenannte Anti-Schmuggel-Partnerschaft intensiviert. Der Sahelstaat soll Migrant*innen davon abhalten, die Fluchtroute über die Sahara und Libyen zum Mittelmeer zu erreichen. Sie leben in Agadez, einem wichtigen Knotenpunkt. Wie ist die Lage vor Ort?
Die EU hat ihre Grenzen nicht nur an der Mittelmeerküste, sondern bis in die Mitte Nigers ausgelagert. Agadez liegt rund 1000 Kilometer entfernt von der Grenze zu Libyen. Die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) hat hier 2010 angefangen, »Transitzentren« für Migranten zu bauen, bezahlt von EU-Staaten. Von hier sollen aus Libyen oder Algerien zurückgeschobene Menschen in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden. Doch die Zentren sind überfüllt, viele Migranten (Original: People on the Move) leben auf der Straße, Frauen prostituieren sich, Kinder betteln, die Menschen haben keinen Ort, wo sie sich oder ihre Kleidung waschen können. Lokale Politiker gehen davon aus, dass sich die Bevölkerung der Stadt durch die People on the Move verdoppelt oder sogar verdreifacht hat. Die Menschen sitzen hier fest. Viele warten mehr als sechs Monate auf die Rückkehr in ihr Herkunftsland.
Die Menschen wollen also zurück?
Sie haben keine andere Wahl. Wenn sie aus Algerien oder Libyen zurückgeschoben werden, haben sie kein Geld, keine Dokumente, keine Kleidung. Ihnen bleibt nur, zu ihren Familien zurückzukehren. Viele schämen sich dafür, dass sie nach jahrelanger Abwesenheit von ihrer Familie mit leeren Händen zurückzukommen. Zuletzt gab es eine Protestaktion einer senegalesischen Gemeinschaft, deren Rückreise viermal verschoben wurde. Sie drohten, sich zu Fuß auf den Weg nach Senegal zu machen und begannen zu marschieren. Ende September wurden nun 130 von ihnen mit einem Flugzeug in den Senegal gebracht. 40 weitere warten immer noch.
2015 hat Niger das Gesetz 036 erlassen. Es macht Migration und ihre Unterstützung (also etwa Transport oder Unterkunft von Migrant*innen) illegal. Verstöße werden mit Freiheitsstrafen bis zu 10 Jahren und Geldbußen bis zu umgerechnet 3000 Euro – geahndet. Hat das einen Einfluss auf ihre Arbeit?
Ja, statt den offiziellen Routen zu folgen, gibt es jetzt verschiedene Fluchtrouten durch die Sahara. Sie sind gefährlicher und teurer. Außerdem sind die Fahrzeuge nicht mehr wie früher in Konvois unterwegs, sondern vereinzelt. Wenn ein Auto in der Wüste liegenbleibt, gibt es darum kaum Hilfe. Denn schon allein das Telefonieren mit einem Satellitentelefon gilt als Straftat. Nur wenn zufällig ein anderes Auto vorbeikommt und dies in einem Dorf meldet, dann werden wir gerufen und können Rettungseinsätze organisieren.
Seit 2014 hat die UN 2000 Todesfälle in der Sahara registriert. Expert*innen rechnen mit weit höheren Zahlen, die meisten Toten werden nicht gefunden. Was tun Sie, wenn Sie Menschen in Not finden?
Unser Motto lautet »right to go, right to stay« (Recht zu gehen, Recht zu bleiben) Wenn wir zu einem Rettungseinsatz fahren, ändern wir nicht die Richtung des Autos, sondern fahren die Menschen in der gleichen Richtung bis zum nächsten sicheren Ort.
Wie viele Einsätze haben Sie?
Das hängt von den Anrufen ab, die wir erhalten. Wir planen Patrouilleneinsätze etwa viermal im Jahr. Aber wenn wir Notrufe erhalten, machen wir Sondereinsätze, abhängig von unseren Kapazitäten. Wir haben kein eigenes für die Wüste ausgestattetes Auto und nur wenige finanzielle und personelle Ressourcen.
Erfahren Sie Repressionen?
Ja. Offiziell soll das Gesetz 036 Menschenhandel bekämpfen. Aber das ist ein vages Konzept. Wenn jemand seine Familie im Ausland kontaktieren will und ich ihm oder ihr mein Telefon gebe, bin ich ein Krimineller. Wenn ich jemandem Unterschlupf gewähre, bin ich ein Krimineller. Wenn ich einem Hungrigen zu essen gebe, bin ich ein Krimineller. Alle NGOs fallen unter dieses Gesetz. Unsere Arbeit ist eingeschränkt, einer unserer Mitarbeiter sitzt seit letztem Februar im Gefängnis.
Wofür?
Er hat einem Migranten geholfen. Weil er selbst auch ein Migrant ist, hatte er die Möglichkeit, in die IOM-Zentren zu gelangen. Er besuchte Migrant*innen in den Unterkünften und gab Informationen aus seinen Gesprächen an uns weiter. Er sollte erst für eine Kaution freigelassen werden. Als wir das Geld zusammen hatten, wollten sie noch mehr, das konnten wir nicht auftreiben. Jetzt wird ihm Menschenschmuggel und Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung angelastet.
Gibt es zivilen Widerstand gegen diese Zusammenarbeit zwischen der EU und Niger?
Ja. Wir haben eine offizielle Beschwerde gegen die nigrische Regierung wegen des Gesetzes 036 eingelegt. Zusammen mit Organisationen aus Mali, Nigeria und Italien haben wir Zeugenaussagen von Menschen gesammelt, deren Rechte auf ihrem Weg verletzt wurden. In den meisten Fällen handelt es sich um körperliche Misshandlungen, Vergewaltigungen durch Uniformierte, Erpressung und die Vernichtung von Dokumenten. Die Regierung hat nun einen Monat Zeit, darauf zu reagieren. Ende September haben wir auf Veranstaltungen in Strasburg und Rom darüber informiert. Wir sind nur ein kleines Netzwerk und sind auf die Unterstützung europäischer Organisationen und Medien angewiesen.
EU will das Asylrecht weiter aushöhlen
Regierungen wollen Schengen-Raum in No-Go-Zone für Migranten verwandeln. Derweil spitzt sich die Lage an den Außengrenzen zu
Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, will die EU derzeit ihr Asylrecht verschärfen. Bereits im Dezember 2021 hatte die Kommission Änderungen des Schengener Grenzregimes angestoßen. Im Juni einigte sich dann der EU-Rat auf die Eckpunkte dieser Reform. Unter anderem will man verstärkt gegen »die Instrumentalisierung von Migranten« vorgehen.
Zur Erinnerung: Vergangenen Herbst und Winter steckten Tausende Migranten aus dem Irak und Syrien an den EU-Außengrenzen fest. Polen, Litauen und Lettland ließen keine Geflüchteten mehr ins Land. Polen errichtete gar eine mehrere Kilometer breite Sperrzone, die auch Journalist*innen nicht betreten durften. Selbst Hilfsorganisationen verwehrte man den Zutritt. Und so erfroren und ertranken Dutzende Menschen an der Grenze.
Doch anstatt die massiven polnischen Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten, will die EU nun ihr Grenzregime weiter verschärfen. Alleinige Schuld an den Vorgängen trägt demnach Weißrusslands Autokrat Lukaschenko, der die Migranten bis an die Grenze bringen ließ. Deshalb wendet sich die Schengen-Reform gegen »Akteure«, die »die EU oder einen Mitgliedstaat destabilisieren wollen«, wie es in einer Erklärung des Rats heißt. Im Falle einer erneuten »Erpressung« soll die Zahl der Grenzübergangsstellen verringert, die Öffnungszeiten sollen reduziert werden. Zudem will man die Grenzüberwachung »intensivieren«.
Das gilt auch für die Binnengrenzen. Laut den Plänen der Kommission sollen Mitgliedsstaaten die Kontrollen an den Binnengrenzen erst nach zwei Jahren und sechs Monaten bei der Kommission rechtfertigen müssen. Laut Entwurf muss der betreffende Staat dies »begründen und den Zeitpunkt angeben, zu dem er die Kontrollen voraussichtlich aufheben wird«. So wird der Ausnahme- zum Dauerzustand. Außerdem will man illegalisierten Migranten das Reisen innerhalb der EU unmöglich machen. Sie könnten zukünftig an den Staat überstellt werden, in dem der Grenzübertritt erstmals erfolgte.
Darüber hinaus soll die Verordnung die teilweise Aussetzung des Schengen-Regimes bei Epidemien auf eine rechtsfeste Grundlage stellen.
Die Stoßrichtung des Entwurfs ist klar: Er soll die Verpflichtungen der Staaten beim Asylrecht weiter aufweichen. Die meisten Mitgliedsstaaten unterstützen die neue Verordnung. Darum soll es nun möglichst schnell gehen. Die tschechische Ratspräsidentschaft will bis Dezember eine gemeinsame Verhandlungsposition der 27 EU-Länder zustande bringen. Die zuständige Asylarbeitsgruppe des Rates tagte am 21. September zu dem Thema. Allerdings wurde über die dort besprochenen Inhalte nichts bekannt. Offenbar will man die Sache ohne großes Aufsehen durchziehen.
Während die meisten Mitgliedsstaaten die geplante Verordnung unterstützen, kommt aus der Zivilgesellschaft massiver Protest. In einem Brandbrief warnen rund 60 Nichtregierungsorganisationen aus ganz Europa, darunter der Europäische Flüchtlingsrat ECRE, Amnesty International und Pro Asyl, vor einer »Aushebelung« des europäischen Asylrechts. »Diese Verordnung ist ein Frontalangriff auf das europäische Asylsystem und die Rechtsstaatlichkeit in Europa. Die Bundesregierung darf ihr im Rat keinesfalls zustimmen«, erklärte Karl Kopp von Pro Asyl.
Kopp kritisiert, dass der Mechanismus, der nun diskutiert werde, den EU-Mitgliedstaaten dauerhaft zur Verfügung stehen soll. »Wir beobachten seit Jahren eine Erosion des Asylrechts und der Rechtsstaatlichkeit an den europäischen Außengrenzen. Doch mit dieser Verordnung würden schäbige Praktiken in Gesetzesform gegossen. Das bedeutet einen Freifahrtschein für repressive Regierungen in der EU«, warnt Kopp.
In ihrer Stellungnahme bezeichnen die NGOs die Reform als unnötig: Tatsächlich biete derzeitige Rechtsrahmen bereits viel »Flexibilität«, um mit Notsituationen umzugehen.
Noch geht es nur um einen Entwurf. Das EU-Parlament hat noch ein Wörtchen mitzureden. Doch Rechte, Konservative und Liberale werden wohl verhindern, dass die grundlegende Stoßrichtung der Verordnung verändert wird. Diskussionen könnte es bei den Kontrollen der Binnengrenzen geben. Hier hatte das Parlament immer wieder angemahnt, dass sie die Ausnahme bleiben müssten. Ansonsten fügt sich der aktuelle Plan nahtlos in die neue inoffizielle Asylpolitik der EU: Was an den Außengrenzen passiert, wird ignoriert. Mitgliedstaaten wie Griechenland dürfen ungestraft Migranten zurückdrängen, die EU-Grenzagentur Frontex leistet aktive Beihilfe.
Eine Gruppe von Abgeordneten der Grünen-Fraktion im Europaparlament wollte sich vor wenigen Tagen ein Bild von der Lage an der griechisch-türkischen Grenze machen. Allein in diesem Jahr sind dort die Leichen von 51 Menschen gefunden worden. Täglich soll es hier zu illegalen Pushbacks kommen. »Der Zugang zur Grenzregion wurde uns verwehrt, obwohl wir Europaabgeordnete sind und ich im Parlament für die Außengrenzen zuständig bin«, berichtet der Grünen-Parlamentarier Erik Marquardt. Stattdessen besichtigte die Gruppe ein Lager, in dem Geflüchtete maximal 25 Tage festgehalten werden dürfen. »Doch in der Praxis werden selbst Kinder dort monatelang eingesperrt und haben weder Zugang zu Bildung noch zu medizinischer Versorgung«, so Marquardt.
Exemplarisch für das neue Wegsehen ist auch der Umgang mit der Katastrophe von Melilla. Beim Sturm von rund 1700 Menschen auf den Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Exklave Melilla waren dort im Juni bis zu 42 Menschen ums Leben gekommen. Die genauen Umstände wurden nie richtig untersucht.
Beobachter*innen sprachen später von einem »Massaker«. Die Linksfraktion im Parlament schickte Ende September eine Delegation in die Exklave. Der baskische Abgeordnete Pernando Barrena kritisierte nach dem Besuch die »politische und polizeiliche Komplizenschaft zwischen Marokko und Spanien«. Zugleich betonte er, dass »sich die meisten Todesfälle auf spanischer Seite ereigneten«. Eine Öffnung des Grenzzauns von spanischer Seite hätte den Tod der Menschen verhindern können, ist sich der Linke sicher.