02.02.2023 Bisher schreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vielen im Asylverfahren befindlichen afghanischen Mädchen und Frauen die Flüchtlingseigenschaft auch nach Klage nicht zu. Wir zitieren einen Beitrag aus den News von Pro Asyl:
Verfolgt, weil sie Frauen sind: Afghanische Frauen müssen als Flüchtlinge anerkannt werden
Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban hat sich die Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan weiter verschärft. Die massiven Restriktionen sind zusammengenommen so schwerwiegend, dass sie als Verfolgung aufgrund des Geschlechts gelten müssen: Frauen müssen als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden.
Sie dürfen nicht zur Schule gehen oder studieren, nicht öffentlich sichtbar arbeiten, sich kaum auf öffentlichen Plätzen aufhalten und müssen sich mindestens mit einem Hidschab verhüllen. Das sind nur einige der Verbote und Diskriminierungen, denen Mädchen und Frauen in Afghanistan ausgesetzt sind – einzig, weil sie weiblich sind.
In Europa setzt sich mehr und mehr die Einsicht durch, dass Mädchen und Frauen in Afghanistan aufgrund der Verfolgung durch die Taliban grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden muss. Nachdem die schwedische Asylbehörde schon seit Dezember 2022 so entscheidet, hat nun Ende Januar 2023 auch die Europäische Asylagentur (EUAA) eine entsprechende Einschätzung abgegeben. Auch Dänemark erkennt Frauen und Mädchen aus Afghanistan seit dem 30. Januar dieses Jahres allein auf Grund ihres Geschlechts die Flüchtlingseigenschaft zu.
Keine klare Haltung bisher vom BAMF zu afghanischen Frauen
In Deutschland fehlt bislang eine solche klare Haltung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). In einem Schriftsatz des BAMF an das Verwaltungsgericht Berlin Ende Dezember letzten Jahres heißt es etwa, die Klägerin habe
»‚nur´ die allgemeinen Einschränkungen, denen Frauen und Mädchen in Afghanistan unterliegen und die generell frauen- und bildungsfeindliche Einstellung der Taliban geschildert. Diese Schilderungen sind – für sich allein betrachtet – nicht ausreichend für eine Schutzgewährung«.
So ist es nicht verwunderlich, dass Frauen und Mädchen aus Afghanistan hierzulande im ersten Halbjahr 2022 nur in 34 Prozent der Fälle die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen bekamen. In sechs Prozent der Fälle erhielten sie den geringeren subsidiären Schutz und in 61 Prozent lediglich Abschiebungsverbote. Auch wenn afghanische Frauen und Mädchen bislang mithin nicht gänzlich ungeschützt sind: Die Flüchtlingseigenschaft steht ihnen allen zu und geht mit besseren Rechten, etwa beim Familiennachzug, einher.
Rechtlich gesehen geht es bei der Frage, ob alle Mädchen und Frauen aus Afghanistan grundsätzlich als verfolgt anzusehen sind, um zwei Fragen. Zum einen, ob die vielen Diskriminierungen und Einschränkungen grundlegender Menschenrechte für Frauen in Afghanistan zusammen genommen (also kumulierend) vom Schweregrad her als Verfolgung im Sinne der Flüchtlingsdefinition zu sehen sind. Zum anderen, ob ein Verfolgungsgrund im Sinne der Flüchtlingsdefinition vorliegt – hier wegen des Geschlechts.
Die Möglichkeit, kumulative Diskriminierungen als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen, ist in Art. 9 Absatz 1 Buchstabe b der EU-Qualifikationsrichtlinie – umgesetzt in § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG – vorgesehen. Der Ansatz, eine Flüchtlingszuerkennung allein auf Grund der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht vornehmen zu können, findet sich in § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Fügt man diese beiden Ansätze zusammen, muss also – etwas vereinfacht gesagt – eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen zu verzeichnen sein, die so gravierend ist, dass eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten zu verzeichnen ist, die als Verfolgung qualifiziert werden kann und die allein an das Geschlecht anknüpfen. Dies ist in Afghanistan in Bezug auf Mädchen und Frauen eindeutig der Fall.
Machtübernahme der Taliban: Wahrgewordener Albtraum für Mädchen und Frauen in Afghanistan
Als die Taliban im August 2021 Kabul einnahmen und damit erneut die Herrschaftsgewalt über das gesamte afghanische Staatsgebiet innehatten, gaben sich anfangs noch manche der Hoffnung hin, dass sie sich – anders als zur Zeit ihrer Herrschaft in den Jahren 1996 bis 2001 – gegenüber der Bevölkerung gemäßigter verhalten würden. Tatsächlich versprachen die Taliban anfangs eine integrativere und weniger repressive Führung in Afghanistan und die Achtung der Menschenrechte. Viele dieser Versprechen betrafen die Wahrung der Rechte der Frauen. Die dadurch geweckten Hoffnungen stellten sich schon bald als Trugschluss heraus.
Gleich zu Beginn ihrer erneuten Herrschaft schlossen die Taliban Mitte September 2021 das Frauenministerium und ersetzten es durch das »Ministerium für Gebet und Orientierung sowie zur Förderung der Tugend und zur Verhinderung von Lastern«. Damit verloren die afghanischen Frauen und Mädchen jedwede politische Vertretung ihrer Anliegen im Land. Weiter ging es mit massiven Einschränkungen in allen Lebensbereichen wie Bildung, Bewegungsfreiheit und Erwerbstätigkeit, wie auch eine Auflistung der BBC in Farsi zeigt (hier in deutscher Übersetzung).
Endlich wird erkannt: Afghanische Frauen haben ein Recht auf Flüchtlingsschutz!
All diese Restriktionen zusammengenommen führen dazu, dass Mädchen und Frauen in Afghanistan alleine auf Grund ihrer Geschlechtszugehörigkeit Verfolgung erleiden und sie deshalb als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden müssen, wenn sie einen Asylantrag stellen.
So stellte am 6. Dezember 2022 die schwedische Migrationsbehörde fest, dass sämtliche afghanische Frauen auf Grund der oben beschriebenen Situation generell als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anzuerkennen sind. In dem rechtlichen Standpunkt der schwedischen Migrationsbehörde heißt es:
»Der Migrationsrat ist der Ansicht, dass es wahrscheinlich ist, dass Frauen und Mädchen in Afghanistan im Allgemeinen, einschließlich Frauen und Mädchen in von Männern geführten Haushalten, durch eine Kumulierung verschiedener Maßnahmen Gefahr laufen, in einem solchen Ausmaß diskriminiert und in ihren Grundrechten und ‑freiheiten so stark eingeschränkt zu werden, dass dies bei einer vorausschauenden Bewertung einer Verfolgung gleichkommt, vgl. Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie.
Dies bedeutet, dass eine asylsuchende Frau oder ein asylsuchendes Mädchen aus Afghanistan aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, d.h. aufgrund ihres Geschlechts, […] als Flüchtling eingestuft werden muss«.
In ihrem am 25. Januar 2023 veröffentlichten »Country guidance« zu Afghanistan hat sich nun auch die Europäische Asylagentur EUAA, die die Aufgabe hat, die praktische Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich zu stärken, dieser Auffassung angeschlossen. Wörtlich heißt es darin:
»Die Anhäufung verschiedener von den Taliban eingeführter Maßnahmen, die die Rechte und Freiheiten von Frauen und Mädchen in Afghanistan beeinträchtigen, kommt einer Verfolgung gleich. Diese Maßnahmen beeinträchtigen den Zugang zu medizinischer Versorgung, Arbeit, Freizügigkeit, Meinungsfreiheit, das Recht der Mädchen auf Bildung und vieles mehr. Einige Frauen und Mädchen in Afghanistan können auch anderen Formen von Misshandlungen ausgesetzt sein, die einer Verfolgung gleichkommen (z. B. Zwangsverheiratung, z. B. Kinderehe, Gewalt aus Gründen der Ehre).
Bei Frauen und Mädchen in Afghanistan ist eine begründete Furcht vor Verfolgung generell substantiiert«.
Die Empfehlungen der EUAA sind für die Mitgliedstaaten zwar nicht verbindlich. Sie stellen aber ein starkes Signal an die Mitgliedstaaten dar, ihre nationale Asylentscheidungspraxis anzupassen.
Am 30. Januar 2023 hat nun auch Dänemark unter Bezugnahme auf die Empfehlungen der EUAA angekündigt, afghanischen Frauen auf Grund der verheerenden Bedingungen unter dem Taliban-Regime allein wegen ihres Geschlechts die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Spannend für die weitere Entscheidungspraxis in der EU wird auch ein sogenanntes Vorabentscheidungsverfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), der über die Auslegung von europäischem Recht entscheidet. Denn der Österreichische Verwaltungsgerichtshof hat bereits mit Beschluss vom 14. September 2022 dem EuGH die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob die kumulierte Diskriminierung von afghanischen Frauen und Mädchen generell zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie führen muss. Bejaht der EuGH diese Frage, so ist diese Auslegung des Europarechts für alle Mitgliedstaaten verbindlich.
Schon zur Zeit der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001, in der Mädchen und Frauen vergleichbaren Diskriminierungen ausgesetzt waren, wurde in Österreich nach einer Entscheidung des damals zuständigen unabhängigen Bundesasylsenat vom 5. November 2001 davon ausgegangen, dass die massiven Diskriminierungen von Frauen in Afghanistan allein an das Element der Geschlechtszugehörigkeit anknüpften und für sich genommen bereits ausreichend waren, »um eine asylrelevante Bedrohungssituation der Gruppe der Frauen in Afghanistan anzunehmen«.
PRO ASYL fordert vor diesem Hintergrund das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dazu auf, sämtlichen im Asylverfahren befindlichen afghanischen Mädchen und Frauen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Betroffenen, denen vor der Machtübernahme der Taliban der Flüchtlingsschutz versagt blieb und denen nur subsidiärer Schutz oder gar nur ein Abschiebungsverbot zugesprochen wurde, muss aufgrund der radikal geänderten Situation im Herkunftsstaat im Falle der Stellung eines Asylfolgeantrags die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden.
(pva)