Rücktritt Leggeri: Chance auf Neuanfang?

06.05.2022 Pro Asyl beurteilte den längst überfälligen Rüchtritt von Frontex-Chef Leggeri und die mögliche Entwicklung der EU-Behörde.

Chance auf Neuanfang? Zum Rücktritt von Frontex-Chef Fabrice Leggeri

Fabrice Leggeri stand bereits seit langer Zeit in der Kritik. Der Druck stieg zuletzt insbesondere durch Ermittlungen des EU-Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) sowie aufgrund von Investigativrecherchen europäischer Medien zu illegalen Pushbacks mit Frontex-Beteiligung. Doch bei seinem Rücktritt allein darf es nicht bleiben.

Das verflixte siebte Jahr – auch Fabrice Leggeri kann nun ein Lied davon singen. Am vergangenen Freitag bot der bisherige Chef der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex), der seit Januar 2015 im Amt war, seinen Rücktritt an. Der Verwaltungsrat von Frontex bestätigte diesen noch am gleichen Abend.

Die EU-Agentur Frontex mit Sitz in Warschau wurde 2004 gegründet, um den europäischen Grenzschutz zu koordinieren und die Mitgliedsstaaten bei der immer weiter fortschreitenden Abschottung der EU-Außengrenzen zu unterstützen. Frontex wird mit EU-Geldern finanziert und steht inzwischen sinnbildlich für den unmenschlichen Umgang mit Menschen an unseren Grenzen.

Der Rücktritt Leggeris war keine echte Überraschung und längst überfällig. Vorausgegangen waren die Berichte eines Untersuchungsausschusses im EU-Parlament zu Menschenrechtsverletzungen an den Grenzen und zuletzt die umfassenden Recherche des SPIEGEL und weiterer europäischer Medien, welche die Verwicklungen von Frontex in illegale Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen offenbarten. Bis zuletzt hatte die Agentur die Beteiligungen immer wieder abgestritten und trotz erdrückender Beweislage behauptet, keine Kenntnis über die völkerrechtswidrigen Pushbacks gehabt zu haben.

»Es ist skandalös, dass der Direktor einer EU-Behörde Menschenrechtsverletzungen jahrelang vertuschte, Beweise manipulierte und teils selbst an schwersten Straftaten beteiligt war und damit ungeschoren davon kam«

Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von PRO ASYL.

Jahrelange Praxis

Dass Frontex über Jahre Berichte fälschen und die Menschenrechtsverletzungen decken konnte, ist auch der Tatsache geschuldet, dass führende Politiker*innen die Wahrheit über die Situation an den Außengrenzen nicht wahrhaben oder bewusst verschleiern wollen und seit langem auf Abschottung setzen. Die EU hat Frontex über Jahre massiv aufgebaut und mit immer weitreichenderen Befugnissen ausgestattet. Das Budget wurde fortlaufend erhöht, auf aktuell rund 750 Millionen Euro, und auch die Anzahl an Mitarbeiter*innen und eigenen Einsatzkräften wurde stetig ausgeweitet.

Seit Jahren dokumentieren PRO ASYL und Partnerorganisationen vor Ort die Eskalation an den EU-Außengrenzen: Griechische Beamte setzen Menschen auf Rettungsbooten im Mittelmeer aus, die mit EU-Mitteln finanziert wurden. Kroatische Polizisten prügeln Geflüchtete mit Schlagstöcken, gekauft von europäischen Steuergeldern. Gegen das EU-Mitgliedsland Ungarn laufen diverse Vertragsverletzungsverfahren wegen der illegalen Zurückweisung von Schutzsuchenden.

Nur die Spitze des Eisbergs

Der Rücktritt des Frontex-Direktors reicht aber nicht aus, er darf nur ein erster Schritt bei der Reformierung der Grenzschutzagentur sein. Für einen wirklichen Neuanfang bedarf es weitaus mehr. Die Agentur darf in Zukunft nicht mehr völlig intransparent und im Verborgenen agieren, sie muss demokratisch und parlamentarisch kontrolliert werden. Dafür braucht es eine unabhängige Überwachung von Frontex, um sicherzustellen, dass die EU-Behörde im Einklang mit dem Völkerrecht und der EU-Grundrechtecharta agiert. Und das immense Budget muss zugunsten einer Seenotrettungsmission reduziert werden, bestehende Machtkompetenzen müssen zurückgeschraubt werden.

Neben der Vertuschung und dem Manipulieren von Beweisen ist die Grenzschutzagentur auch aktiv an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. So trägt Frontex etwa durch die Luftüberwachung dazu bei, Flüchtlingsboote im Mittelmeer zu erkennen und übermittelt Echtzeitdaten an die sogenannte »libysche Küstenwache«. In der Folge werden die flüchtenden Menschen in die Folter- und Vergewaltigungslager Libyens zurückgeschickt. Leggeris Rücktritt muss zum Anlass genommen werden, all das nun offen auf den Tisch zu bringen!

Aktuelle Studie als Chance für Neuanfang

Die am 4. Mai von der Stiftung PRO ASYL und anderen veröffentlichte Studie » Feasibility Study on the setting up of a robust and independent human rights monitoring mechanism at the external borders of the European Union« ist genau vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklungen an den EU-Außengrenzen entstanden. Sie macht deutlich, dass die erhebliche Ausweitung der Befugnisse und Mittel für Frontex auf Kosten der Achtung der Grundrechte von Flüchtlingen geht, die die Außengrenzen der EU zu überschreiten versuchen.

Die ausführliche Studie

INTERVIEW Zur Studie »Wir brauchen einen gemeinsamen europäischen Rechtsschutz an den Grenzen«

Die Studie untersucht Kriterien und Grundsätze, die zu einer wirksamen Menschenrechtsüberwachung an den Grenzen beitragen sollte. Zum Beispiel die Unabhängigkeit der Überwachungsstellen, ihr angemessenes Mandat, ihre Finanzierung und ihre Befugnisse sowie eine transparente Kommunikation. Das Ergebnis kann somit als Basis für konkrete Handlungsempfehlungen dienen.

(jo/lse)