07.12.2022 Die News von Pro Asyl zitiert:
Auf dem EU-Innenministertreffen soll Kroatiens Schengen-Beitritt beschlossen werden. Eine Zustimmung von Bundesinnenministerin Faeser würde das Versprechen des Koalitionsvertrags brechen, Pushbacks an den EU-Außengrenzen zu beenden. Das Centre for Peace Studies und PRO ASYL fassen die Menschenrechtsverletzungen an Kroatiens Grenzen zusammen.
Auf dem EU-Innenminister*innentreffen am 8. und 9. Dezember steht die Abstimmung über den Beitritt Kroatiens in den Schengen-Raum, der letzte Schritt in dem Aufnahmeverfahren, auf der Tagesordnung. Im Falle einer Zustimmung könnten ab dem 1. Januar 2023 die ersten Grenzkontrollen zu anderen Schengen-Staaten wegfallen.
Parallel zu dem Aufnahmeprozess wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Berichte über Menschenrechtsverletzungen und extreme Polizeigewalt gegen Schutzsuchende an den kroatischen EU-Außengrenzen öffentlich. Aktivistische Netzwerke, Menschenrechtsorganisationen, internationale Medien und zwischenstaatliche Organisationen und Schutzsuchende selbst haben seit 2016 fortlaufend illegale Grenzschutzmaßnahmen dokumentiert.
Parallel zu dem Aufnahmeprozess wurden Berichte über Menschenrechtsverletzungen und extreme Polizeigewalt gegen Schutzsuchende an den kroatischen EU-Außengrenzen öffentlich.
Systematic Human Rights Violations at Croatian Borders Bericht von Dezember 2022
Bericht: Systematische Menschenrechtsverletzungen an Kroatiens Grenzen
Diese Chronik der Gewalt haben nun die kroatische NGO Centre for Peace Studies und PRO ASYL in dem gemeinsamen Bericht »Systematische Menschenrechtsverletzungen an Kroatiens Grenzen« zusammengefasst. Die Organisationen zeichnen nach, dass seit einigen Jahren Pushbacks das Fundament des kroatischen Grenzschutzes bilden.
Für Kroatiens Schengen-Beitritt beschränkt die EU-Kommission ihre Forderungen an die kroatische Regierung auf die Einrichtung eines unabhängigen Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus. Der Geschichte und der Unzulänglichkeit des bisherigen »unabhängigen Beobachtungsmechanismus« in Kroatien widmet der Bericht ein eigenes Kapitel.
Auch weil die Einsatzkräfte keine Konsequenzen zu befürchten haben, werden die Pushbacks mit extremer Brutalität durchgeführt – auch, um Schutzsuchende von weiteren Grenzübertritten abzuschrecken. Eine Fallstudie über einen Pushback im Oktober 2020 an der kroatisch-bosnischen Grenze verdeutlicht die Gewaltexzesse, die diese illegale Praxis der kroatischen Einsatzkräfte annehmen kann.
Pushbacks und Misshandlungen: Schritt für Schritt in den Schengen-Raum
Trotz der umfassend belegten Menschenrechtsverletzungen ging die Schengen-Aufnahme Kroatiens ungehindert voran. Ein Rückblick: Die EU-Kommission gab im Oktober 2019 ihr »grünes Licht«, obwohl sich die Berichte über Menschenrechtsverletzungen an den kroatischen Grenzen bereits häuften. Die EU-Innenminister*innen verständigten sich auf dem Ratstreffen im Dezember 2021, obwohl Kroatien kurz zuvor von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen eines Pushbacks verurteilt wurde, bei dem ein sechsjähriges Mädchen ums Leben gekommen war.
Zuletzt stimmte das Europaparlament im November 2022 mit großer Mehrheit für den Beitritt, obwohl die Pushbacks und Misshandlungen in Kroatien weder personelle oder strukturelle Konsequenzen nach sich gezogen haben noch juristisch aufgearbeitet wurden.
Die EU-Kommission bekräftigte im November 2022 ihre Unterstützung von Kroatiens Aufnahme in den Schengen-Raum. In ihrer Erklärung lobt sie explizit die Erfüllung ihrer Forderung nach Einrichtung eines »unabhängigen Beobachtungsmechanismus« durch die kroatische Regierung. Dabei war der bisherige Mechanismus eine Farce und bietet nur noch mehr Gründe, dem kroatischen Innenministerium gegenüber skeptisch zu sein.
»Unabhängiger Beobachtungsmechanismus« in Kroatien nur ein Feigenblatt
Schon beim Halbjahresbericht des Beobachtungsmechanismus gab es einen peinlichen Zwischenfall für die kroatische Regierung. Eine Arbeitsversion des Berichts wurde am 3. Dezember 2021 auf der Website des Gesundheitsministeriums hochgeladen und einen Tag später wieder herunter genommen.
Am 10. Dezember wurde der offizielle Bericht auf der Website des Innenministeriums veröffentlicht – mit geschönten Angaben, wie das Centre for Peace Studies zeigt: In der Arbeitsversion vom 3. Dezember hieß es, dass die Polizei »illegale Abschreckungsmaßnahmen (Pushbacks)« ausgeführt habe. In der endgültigen Version waren daraus »zulässige Abschreckungsmaßnahmen« geworden, nur in einigen minenverdächtigen Gebieten habe es in Einzelfällen Pushbacks gegeben. Das Centre for Peace Studies fasst die Unterschiede ironisch zusammen: »In der ersten Dezemberwoche wurden Pushbacks durchgeführt, in der zweiten Woche nur noch in minenverdächtigen Gebieten und in Einzelfällen.«
Nach Veröffentlichung des ersten Jahresberichts am 1. Juli 2022 hat das Centre for Peace Studies erneut dessen strukturelle Unzulänglichkeiten herausgearbeitet: Der Mechanismus ist ineffektiv, da darin keine unangekündigten Kontroll-Missionen an die »grüne Grenze« vorgesehen sind, wo Pushbacks in der Regel durchgeführt werden.
Anfang November 2022 veröffentlichte die kroatische Regierung die Vereinbarung für einen neuen Beobachtungsmechanismus. Nun sollen auch unangekündigte Kontroll-Missionen an die »grüne Grenze« möglich sein. Angesichts der bisherigen Geschichte des sogenannten unabhängigen Beobachtungsmechanismus in Kroatien gibt es große Zweifel, ob dieser neue Mechanismus in der Praxis durchsetzungsfähig sein wird.
Menschenrechtsverletzungen sind bestens dokumentiert. Woran es mangelt: juristische und politische Konsequenzen.
Zudem gibt es bereits ein Monitoring der kroatischen Grenze: Zivilgesellschaftliche und zwischenstaatliche Organisationen haben die Menschenrechtsverletzungen bestens dokumentiert. Woran es jedoch mangelt sind juristische und politische Konsequenzen. Dabei ist eine effektive Strafverfolgung eine notwendige Voraussetzung für die präventive Wirkung, die ein unabhängiger Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus entfalten soll.
Doch die EU-Institutionen vertrauen trotz allem weiter auf das kroatische Innenministerium und damit auf ihre Strategie, den Bock zum Gärtner zu machen. Wie hingegen ein effektiver und unabhängiger Menschenrechtsbeobachtungsmechanismus aufgebaut sein muss, haben Expert*innen, auch mit Unterstützung von PRO ASYL, im Mai 2022 in einer ausführlichen Studie vorgestellt.
Scholz: »Schengen ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union«
Ende August 2022 bekräftigte auch Bundeskanzler Olaf Scholz seine Unterstützung für den Schengen-Beitritt Kroatiens und pries an der Karls-Universität zu Prag den Schengen-Raum: »Zu einer funktionierenden Migrationspolitik gehört ein Außengrenzschutz, der wirksam ist und unseren rechtstaatlichen Standards gerecht wird. Der Schengen-Raum, das grenzenlose Reisen, Leben und Arbeiten, steht und fällt mit diesem Schutz. Schengen ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union, und wir sollten sie schützen und ausbauen.«
Rechtsstaatliche Standards im kroatischen Außengrenzschutz? Die Menschenrechtsverletzungen ignoriert Scholz komplett.
Rechtsstaatliche Standards im kroatischen Außengrenzschutz? Die Menschenrechtsverletzungen ignoriert Scholz komplett. Dabei heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung: »Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.« Ob diesen Worten Taten folgen, wird sich auch anhand von Bundesinnenministerin Nancy Faesers Abstimmungsverhalten auf dem Ratstreffen am morgigen Donnerstag zeigen.
(dm)