19.05.2022 Dieser Ruf bei Demonstrationen und Kundgebungen ist höchst aktuell. Gerade in diesen Tagen gab und gibt es verschiedene Gerichtsverfahren in Griechenland und Italien. Angeklagte sind zivile Seenotretter*innen europäischer Gruppen, aber auch Schutzsuchende selbst, die - durch Schlepper gezwungen oder aus eigener Initiative - ein Boot steuerten und versuchten, die Menschen darauf vor dem drohenden Untergang zu bewahren: "Nach übermäßig langer Inhaftierung in Untersuchungshaft werden die meisten der Angeklagten in Gerichtsverfahren, die durchschnittlich gerade einmal eine halbe Stunde dauern, zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Diese Verfahren verstoßen häufig gegen die grundlegenden Standards eines fairen Prozesses: Es gibt keine eingehende Beweisaufnahme, den Angeklagten werden keine Informationen zur Verfügung gestellt, und oft ist die Übersetzung völlig unzureichend. In vielen Fällen werden die Angeklagten innerhalb von nur 15 Minuten für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt."
Pro Asyl stellt heute in seinen News einige der aktuell verhandelten Fälle zusammen:
Skandalöse Gerichtsprozesse an Europas Grenzen gegen Schutzsuchende und ihre Unterstützer*innen
An den EU-Außengrenzen werden Schutzsuchende und ihre Unterstützer*innen systematisch kriminalisiert. Griechenland: Ein Vater verliert bei einem Bootsunglück seinen kleinen Sohn und wird mit 10 Jahren Haft bedroht. Italien: Freiwillige, die dem Sterben im Mittelmeer nicht tatenlos zusehen wollen, müssen sich ab Samstag vor Gericht verantworten.
Es ist einer der skandalösesten Bausteine der Festung Europa: Schutzsuchende, die über den gefährlichen Weg über das Mittelmeer nach Europa fliehen müssen, werden nach ihrer Ankunft wegen angeblichen Menschenschmuggels inhaftiert und angeklagt. Zivile Seenotretter*innen, die Menschen im Mittelmeer aus Seenot retten, werden immer wieder für ihre lebensrettende Arbeit vor Gericht gestellt.Am gestrigen Mittwoch fand ein Prozess auf der griechischen Insel Samos gegen zwei Überlebende eines Bootsunglücks statt. Bereits im November 2020 hat PRO ASYL hat gemeinsam mit rund 70 zivilgesellschaftlichen Organisationen in dem Aufruf Free the Samos2 die Freilassung der zwei Angeklagten gefordert. Dem alleinerziehenden Vater haben zehn Jahre Haft wegen Kindeswohlgefährdung gedroht, weil er seinen sechsjährigen Sohn mit auf die Flucht genommen hatte. Und Hasan, dem wegen »Beihilfe zur illegalen Einreise« Mitangeklagten, der das Boot gesteuert hatte, nachdem die Schlepper von Bord gegangen waren, drohten alleine aufgrund dieses Vorwurfs 10 Jahre Haft pro transportierter Person – in dem Fall also 230 Jahre Haft.
Das Urteil fiel nun überraschend milde aus: Der Vater des verstorbenen Kindes wurde freigesprochen, der angebliche Schlepper zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt.
Trotz des milden Urteils verdeutlicht der Fall die Gefahr, der Schutzsuchende zusätzlich ausgesetzt sind, nachdem sie die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer überlebt haben: Ein Vater, der ein Leben in Sicherheit für seinen Sohn sucht, wurde mit zehn Jahre Haft wegen Kindeswohlgefährdung bedroht. Dabei ist bekannt, dass die griechische Küstenwache über den Notfall informiert worden war, es jedoch mehrere Stunden dauerte, bis sie vor Ort eintraf, und sie selbst dann keine Rettungsversuche unternahm. Der Vater selbst, der seinen Namen nicht nennen möchte, sagte vor dem Prozess: «Sie waren wirklich grausam zu mir. Ich habe meinen Sohn verloren. Er ist im Wasser ertrunken. Obendrein haben sie mich in dieser schrecklichen Situation verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Sie sagen, das sei das Gesetz. Das kann nicht das Gesetz sein. Das ist unmenschlich. Das muss illegal sein. Wollen sie mir wirklich die Schuld für den Tod meines Sohnes geben? Er war alles, was ich hatte. Ich bin eigentlich nur wegen meines Sohnes hierhergekommen.«
»Sie waren wirklich grausam zu mir. Ich habe meinen Sohn verloren. Er ist im Wasser ertrunken. Obendrein haben sie mich in dieser schrecklichen Situation verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Sie sagen, das sei das Gesetz. Das kann nicht das Gesetz sein.«
Auch Hasan war die Fassungslosigkeit vor dem Prozess anzumerken: «Das muss ein Ende haben. Ich kümmere mich um meine Familie und muss sie unterstützen, denn meine Mutter ist gelähmt, ich habe eine sehr junge Schwester und mein Bruder hat psychische Probleme. Ich muss wirklich bei ihnen sein, ich bin ihre einzige Bezugsperson.»
Systematische Kriminalisierung und rechtsstaatlich fragwürdige Gerichtsprozesse
Es ist nicht unüblich, dass Geflüchtete wie Hasan von Schleusern dazu gezwungen werden, ein Boot zu navigieren und dann in Europa deshalb im Gefängnis landen. «Wie viele Geflüchtete als Schlepper angeklagt oder verurteilt in griechischen Gefängnissen sitzen, lässt sich nicht genau beziffern. Weder das griechische Justizministerium noch das Migrationsministerium waren zu einem Interview bereit«, heißt es in einem ausführlichen Bericht des Deutschlandfunk über den aktuellen Fall der beiden auf Samos angeklagten Männer. Den letzten offiziellen Zahlen des griechischen Justizministeriums aus dem Jahr 2019 zufolge stellen Asylsuchende, die wegen Menschenschmuggels verurteilt wurden, die zweitgrößte Kategorie von Inhaftierten in Griechenland dar.
Der Verein Bordermonitoring hat den Kampf gegen vermeintliche Schleuser auf den griechischen Inseln ausführlich untersucht. Dabei wird deutlich, dass die griechischen Gesetze gegen Schleuserei am stärksten Schutzsuchende selbst treffen, die die Boote bei der Überquerung von der Türkei nach Griechenland steuern. «Häufig sind sie von der Gesellschaft marginalisiert und rassistisch ausgegrenzt und finden deshalb kaum Rückhalt oder Unterstützung», heißt es in einer Studie. Und weiter: «Verurteilungen basieren oft auf der Aussage einer einzigen Person – häufig ein Offizier der Küstenwache, der erklärt, den Angeklagten bei einem viele Monate zurückliegenden Ereignis erkannt zu haben. Die Richter*innen berücksichtigen kaum die persönlichen Umstände der Angeklagten (…) Zudem haben die Gerichte in allen Fällen davon abgesehen, die von den Angeklagten erhobenen Vorwürfe der gewaltsamen Übergriffe durch die Küstenwache oder die griechische Polizei zu untersuchen. Darin zeigt sich, dass die Umsetzung der Anti-Schleuserei-Gesetzgebung auf den griechischen Inseln von der Festnahme bis in den Gerichtssaal durch grobe Grundrechtsverletzungen gekennzeichnet ist.»
Nach übermäßig langer Inhaftierung in Untersuchungshaft werden die meisten der Angeklagten in Gerichtsverfahren, die durchschnittlich gerade einmal eine halbe Stunde dauern, zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. Diese Verfahren verstoßen häufig gegen die grundlegenden Standards eines fairen Prozesses: Es gibt keine eingehende Beweisaufnahme, den Angeklagten werden keine Informationen zur Verfügung gestellt, und oft ist die Übersetzung völlig unzureichend. In vielen Fällen werden die Angeklagten innerhalb von nur 15 Minuten für schuldig befunden und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
Prozess gegen die Samos2 ist kein Einzelfall
Tatsächlich ist der Prozess um die Samos2 keine Ausnahme, und in den meisten Fällen geht es für die Angeklagten nicht so gut aus wie für Hasan und den Vater: Anfang Mai wurden die Paros3, die syrischen Familienväter Abdallah, Mohamad und Kheiraldin, zu insgesamt 439 Jahren Haft verurteilt. Abdallah hat Familie in Österreich, Mohamad in Deutschland, Kheiraldin in Deutschland und Finnland. Kheiraldin beschloss, seine beiden Kinder und seine Frau in der Türkei vorübergehend zurückzulassen und sich selbst auf die gefährliche Reise übers Meer zu machen, weil seine zweijährige Tochter eine Operation benötigt, die sie in der Türkei nicht bekommen kann. Er hoffte, in Europa Asyl zu beantragen und seine Tochter nachholen zu dürfen. An Heiligabend 2021 sank das Boot in der Nähe der Insel Paros. Nun muss er genau wie die beiden anderen in den Knast, weil sie versuchten, das Boot zu steuern. Zwar erkannte das Gericht auf der griechischen Insel Syros an, dass die drei Syrer keine Schmuggler sind, denen es um Profit ginge, und die Anklage wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung wurde fallengelassen. Doch diese drakonische Strafe erhielten sie, weil sie »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« leisteten.
Weder ist Kriminalisierung von Schutzsuchenden ein Einzelfall, noch ist sie auf Griechenland beschränkt: In Italien wurden in den vergangenen Jahren tausende Schutzsuchende als vermeintliche Schlepper verurteilt. In Malta sind im ElHiblu3-Prozess drei Jugendliche angeklagt (siehe auch Interview mit dem Anwalt Neil Falzon).
Verfahren gegen Seenotretter*innen: «Ein juristischer und politischer Schauprozess»
Solche Gerichtsprozesse gegen Schutzsuchende werden in der Öffentlichkeit außerhalb einer menschenrechtlich engagierten Szene kaum wahrgenommen. Anders sieht es aus, wenn Europäer*innen auf der Anklagebank sitzen. Das wird ab Samstag der Fall sein, wenn im italienischen Trapani vier zivile Seenotretter*innen vor Gericht stehen werden. Ihnen wird «Beihilfe zur illegalen Einreise» vorgeworfen. Bis zur Beschlagnahmung ihres Schiffes «Iuventa» im August 2017 rettete die Crew insgesamt 14.000 Menschen aus dem Mittelmeer. Im schlimmsten Fall drohen den Angeklagten bis zu 20 Jahre Haft. Die damalige Einsatzleiterin Kathrin Schmidt sieht darin einen politischen Zweck. «Offensichtlich ist, dass das ein völlig aufgeblasener juristischer und politischer Schauprozess ist. Die Kriminalisierung von Seenotrettung und von Menschen, die sich solidarisch mit Geflüchteten verhalten, soll eine Abschreckungswirkung entfalten», sagt sie im Interview mit PRO ASYL.
Auch der Fall der Iuventa ist kein Einzelfall: So war etwa die Kapitänin Carola Rackete in Italien angeklagt, bevor Italiens oberstes Gericht ihre Freilassung bestätigte. In Griechenland saßen 24 Mitarbeiter*innen der Nichtregierungsorganisation »Emergency Response Center International« auf der Anklagebank, und in Malta wurde Claus-Peter Reisch, ehemaliger Kapitän der «Lifeline», zu einer Geldstrafe verurteilt.
Europas moralischer Kompass hat versagt
All diese Prozesse gegen Geflüchtete und Seenotretter*innen zeigen einmal mehr: in Europa entsteht eine verkehrte Welt, in der nicht die politisch Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, die aufgrund der Militarisierung der Grenzen und der immer schärferen Abschottung das massenhafte Sterben an den EU-Außengrenzen zu verantworten haben – sondern die Schutzsuchenden selbst und ihre Helfer*innen. Europas moralischer Kompass – so es ihn je gab – hat versagt.
PRO ASYL fordert die sofortige Einstellung der Gerichtsverfahren, sowohl im Falle der Iuventa-Crew als auch gegen die ElHiblu3 sowie ähnlicher Fälle. Die Kriminalisierung von Flucht und die Inhaftierung von Schutzsuchenden muss ein Ende haben. Schutzsuchende, die wegen des Steuerns eines Bootes inhaftiert sind, müssen umgehend freigelassen werden. Und: Die Basis für die restriktive nationale Gesetzgebung (etwa in Griechenland) sind die EU-Verordnungen zur Bekämpfung von Schleuserei. Sie lassen den Mitgliedstaaten viel Spielraum bei der Umsetzung und gehören dringend überarbeitet
Anstatt Schutzsuchende und ihre Unterstützer*innen zu kriminalisieren, muss gegen die systematischen Pushbacks und Gewalt gegen Schutzsuchende an Europas Grenzen vorgegangen werden, um das Recht auf Asyl zu verteidigen. Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen müssen untersucht und die Verantwortlichen angeklagt werden. Ein erster Schritt ist die längst überfällige Einrichtung unabhängiger Menschenrechtsbeobachtungsmechanismen.
(er)