22.08.2023 Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht die Migration als unheilvolles Problem benannt wird, und populistische "Lösungsvorschläge" veröffentlicht werden, auch aus der selbsternannten Mitte heraus und von Seiten der Regierung. Zwar gibt es schnell auch Widerspruch, doch die Grunddenke bleibt wohl hängen.
Spahn sagte der „Bild am Sonntag“, die Integration von durch Krieg oder Gewalt traumatisierten Menschen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt brauche Zeit und viele Ressourcen. Das könne nur gut gelingen, wenn die Zahl zusätzlicher Asylbewerber sehr stark abnehme. Deutschland brauche eine Pause von dieser -Zitat- völlig ungesteuerten Asyl-Migration, betonte der CDU-Politiker. Die Erfahrung zeige, dass die Zahlen nicht nennenswert über Abschiebungen reduziert werden könnten. Daher brauche es ein klares Signal an der EU-Außengrenze, dass es auf diesem Weg für niemanden weitergehe. Der frühere Gesundheitsminister folgt damit den Thesen seines Parteifreundes Thorsten Frei. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte bereits vor einem Monat angeregt, den individuellen Anspruch von Flüchtlingen auf Schutz durch die bloße Zusage zu ersetzen, eine bestimmte Zahl von schutzbedürftigen Menschen direkt aus den Nachbarstaaten von Kriegsgebieten aufzunehmen.
Gabriel verlangte "eine grundlegende Neuausrichtung" der Flüchtlings- und Asylpolitik - und ging dabei bis zu einer Empfehlung, sich von bisherigen Verpflichtungen des Grundgesetzes und des Völkerrechts zu verabschieden: "Der Versuch, mit einem Individualrecht auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention auf das moderne Phänomen von Massenflucht zu reagieren, wird uns nicht zum Erfolg führen", sagte der ehemalige Vizekanzler Gabriel dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Unsere Regeln aus dem 20. Jahrhundert passen nicht zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts." Gabriel riet seiner Partei, sich stattdessen den restriktiven Kurs der dänischen Sozialdemokraten in der Migrationspolitik zum Vorbild zu nehmen.
Lindner Beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung sagte er [Lindner], in Deutschland sei die Kinderarmut „ganz, ganz deutlich zurückgegangen – bei den ursprünglich deutschen Familien, die schon länger hier sind“. Insgesamt sei die Kinderarmut in der Bundesrepublik aber immer noch vergleichsweise hoch. Doch das liege an „Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland gekommen sind“.
Berichte zu diesen jüngsten Beispielen zitieren wir hier:
SZ Gabriel und Spahn verschärfen die Asyldebatte
Deutschlandfunk CDU-PolitikerSpahn fordert „Pause von dieser völlig ungesteuerten Asyl-Migration“
RND Pro Asyl über Rufe nach „Asyl-Pause“: „Jens Spahn schlägt Rechtsbruch vor“
Zeit Lindners schäbiges Manöver
ZDF "Zusammenhang mit Migration" : Lang widerspricht Lindners Kinderarmuts-These
TAZ Armut kennt keine Herkunft
Gabriel und Spahn verschärfen die Asyldebatte
Süddeutsche, 21. August 2023 CDU-Politiker Jens Spahn fordert, Flüchtlinge an den Außengrenzen abzuweisen.
Der ehemalige SPD-Chef und das CDU-Präsidiumsmitglied fordern nun sogar den Abschied von völkerrechtlichen Verpflichtungen. Aus der Ampelkoalition kommt Widerspruch.
Vorschläge prominenter Politiker und Ex-Politiker, das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen, haben die Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland weiter angeheizt. Sowohl der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel als auch das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn forderten radikale Maßnahmen, um die in diesem Jahr deutlich gestiegene Zahl von Schutzsuchenden aus außereuropäischen Ländern deutlich zu begrenzen, ernteten dafür aber auch Widerspruch.
Gabriel verlangte "eine grundlegende Neuausrichtung" der Flüchtlings- und Asylpolitik - und ging dabei bis zu einer Empfehlung, sich von bisherigen Verpflichtungen des Grundgesetzes und des Völkerrechts zu verabschieden: "Der Versuch, mit einem Individualrecht auf Asyl und der Genfer Flüchtlingskonvention auf das moderne Phänomen von Massenflucht zu reagieren, wird uns nicht zum Erfolg führen", sagte der ehemalige Vizekanzler Gabriel dem Redaktionsnetzwerk Deutschland: "Unsere Regeln aus dem 20. Jahrhundert passen nicht zu den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts." Gabriel riet seiner Partei, sich stattdessen den restriktiven Kurs der dänischen Sozialdemokraten in der Migrationspolitik zum Vorbild zu nehmen.
Wie realistisch ist Gabriels Vorschlag?
Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 ist das grundlegende Dokument des völkerrechtlichen Flüchtlingsschutzes. Sie verbietet es, einen Flüchtling in Gebiete "auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde".
Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, Sozialdemokrat wie Gabriel, lehnte dessen Vorstoß als wenig hilfreich ab. Mehr als drei Viertel der Menschen, die nach Deutschland kämen, genössen ein Schutzrecht und könnten gar nicht abgeschoben werden, sagte er der Nordwest-Zeitung. "Bei den anderen gibt es viele Menschen, deren Identität wir nicht klären können oder die von den Herkunftsstaaten nicht zurückgenommen werden", erklärte er. Tatsächlich erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) fast 73 Prozent der Schutzgesuche an, über die es 2022 inhaltlich entschied.
Ähnlich wie Gabriel argumentierte auch der Bundestagsabgeordnete Spahn. "Deutschland braucht eine Pause von dieser völlig ungesteuerten Asyl-Migration", sagte Jens Spahn der Bild am Sonntag. Auch der Christdemokrat forderte, Flüchtlinge an den Grenzen abzuweisen: "Daher braucht es ein klares Signal an der EU-Außengrenze: Auf diesem Weg geht es für niemanden weiter."
SPD-Politiker widersprechen Gabriel
Der frühere Gesundheitsminister folgt damit den Thesen seines Parteifreundes Thorsten Frei. Der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hatte bereits vor einem Monat angeregt, den individuellen Anspruch von Flüchtlingen auf Schutz durch die bloße Zusage zu ersetzen, eine bestimmte Zahl von schutzbedürftigen Menschen direkt aus den Nachbarstaaten von Kriegsgebieten aufzunehmen.
Politiker der Ampelkoalition lehnen diese Forderungen ab. Die grüne Innenpolitikerin Lamya Kaddor sagte der Zeitung Welt, es könne "keine Lösung sein, Menschenrechte auszusetzen, um Migration zu begrenzen". Der SPD-Innenpolitiker Sebastian Hartmann warnte, nationale Abschottung und ungeregelte Verhältnisse an den EU-Außengrenzen seien keine Alternative.
In den ersten sieben Monaten dieses Jahres haben laut Bamf bisher etwa 175 000 Menschen einen Erstantrag auf Asyl gestellt. Im gesamten Jahr 2022 waren es 212 000.
CDU-PolitikerSpahn fordert „Pause von dieser völlig ungesteuerten Asyl-Migration“
Der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Spahn, hat Änderungen im Bereich der Asylpolitik angemahnt.
20.08.2023 Deutschlandfunk
Spahn sagte der „Bild am Sonntag“, die Integration von durch Krieg oder Gewalt traumatisierten Menschen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt brauche Zeit und viele Ressourcen. Das könne nur gut gelingen, wenn die Zahl zusätzlicher Asylbewerber sehr stark abnehme. Deutschland brauche eine Pause von dieser -Zitat- völlig ungesteuerten Asyl-Migration, betonte der CDU-Politiker. Die Erfahrung zeige, dass die Zahlen nicht nennenswert über Abschiebungen reduziert werden könnten. Daher brauche es ein klares Signal an der EU-Außengrenze, dass es auf diesem Weg für niemanden weitergehe.
Wenn der Grenzschutz funktioniere, könne Europa über Kontingente sicher auch bis zu 500.000 Flüchtlinge im Jahr aufnehmen und verteilen. Aus Spahns Sicht sollte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen auswählen, wer kommen könne. Aktuell gelte das Recht des Stärkeren, es kämen fast nur junge Männer.
Pro Asyl über Rufe nach „Asyl-Pause“: „Jens Spahn schlägt Rechtsbruch vor“
21.08.2023 RND CDU-Politiker Jens Spahn hat gefordert, die Zahl der Asylbewerber in Deutschland zu senken und bereits an der EU-Außengrenze ein klares Stopp-Signal zu senden: Es brauche eine Pause von „ungesteuerter Asyl-Migration“. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl widerspricht: Was Spahn da fordert, wäre illegal.
Berlin. Die deutsche Debatte über Migration und Asyl nimmt an Schärfe zu. Nachdem CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn eine stärkere Beschränkung der Einwanderung nach Deutschland und eine Art Asyl-Pause gefordert hatte, springt ihm Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff bei: „Wir übernehmen uns gerade mit der Integration, auch was die zwingend notwendige Integration in den Arbeitsmarkt betrifft“, sagte der CDU-Politiker der „Bild“-Zeitung. „Jetzt braucht es Konsequenzen aus dieser Einsicht. Mehr Geld allein kann die Lage nicht verbessern.“
Spahn hatte zuvor der „Bild am Sonntag“ gesagt: „Deutschland braucht eine Pause von dieser völlig ungesteuerten Asyl-Migration.“ Die Erfahrung zeige, so Spahn: „Wir können die Zahlen nicht nennenswert über Abschiebungen reduzieren. Daher braucht es ein klares Signal an der EU-Außengrenze: Auf diesem Weg geht es für niemanden weiter.“
Pro Asyl: Spahn befeuert Stimmung gegen Geflüchtete
Dem widerspricht nun die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl. „So wie Krisen und Verfolgung keine Pause einlegen, kann auch das Recht auf Asyl keine Pause einlegen“, sagte ihr flüchtlingspolitischer Sprecher, Tareq Alaows, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Der einzige Weg, eine sogenannte Pause einzulegen, wäre, entweder Menschen an den Außengrenzen zurückzuweisen oder das individuelle Recht auf Asyl auszusetzen oder abzuschaffen“, so Alaows. „Beide Wege sind illegal und das zeigt uns, dass Herr Spahn im Kern nichts anderes als einen Rechtsbruch vorschlägt und mit solchen realitätsfernen Vorschlägen die Stimmung gegen Geflüchtete weiter befeuert.“ Die meisten Menschen, die in Deutschland ankommen, erhielten einen Schutzstatus, betonte er.
Mit Blick auf die angeführte Überlastung der Kommunen verwies der Pro-Asyl-Experte auf eine neue Analyse des Mediendienstes Integration. Sie zeige, „dass erstens die Kommunen nicht alle überlastet sind, sondern ein ‚atmendes System‘ vieles abzufangen vermag“, sagte er dem RND. Außerdem kritisierte er rechtliche Hürden, die die bestehende Knappheit vergrößere: „Die Wohnverpflichtung in Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften oder die Wohnverpflichtung für anerkannte Flüchtlinge stellen große Hürden dar, wegen denen selbst Geflüchtete mit privaten Wohnmöglichkeiten nicht aus den Unterkünften ausziehen können“, erklärte Alaows. „Vieles von der Überlastung ist also hausgemacht.“
Spahn hatte dafür plädiert, in Europa 300.000 bis 500.000 Flüchtlinge im Jahr aufzunehmen und zu verteilen. Auswählen sollte die Menschen das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen. Die Integration von durch Krieg oder Gewalt traumatisierten Menschen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt brauche Zeit und viele Ressourcen, begründete der frühere Bundesminister. „Das nur gut gelingen, wenn die Zahl zusätzlicher Asylbewerber sehr stark abnimmt.“ Deutschland brauche „gezielte Fachkräfteeinwanderung in Arbeit“, so Spahn.
Zahl der Abschiebungen aus Deutschland gestiegen
Die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland war zuletzt gestiegen - im ersten Halbjahr 2023 um mehr als ein Viertel. 7861 Menschen wurden abgeschoben, knapp 27 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Das geht aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linken hervor. Zuerst hatte die „Neue Osnabrücker Zeitung“ (Samstag) berichtet.
Von den Abgeschobenen waren 1664 Frauen und 1375 Minderjährige. Am häufigsten wurden demnach Menschen mit georgischer Staatsangehörigkeit abgeschoben (705), dahinter folgen Nordmazedonier (665), Afghanen (659) und Türken (525).
Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wird oder deren Visum oder Aufenthaltstitel abgelaufen ist, müssen Deutschland verlassen. Tun sie das nicht und es liegen keine Hinderungsgründe wie etwa eine Krankheit oder andere Duldungsgründe vor, muss die Ausländerbehörde sie abschieben.
Immer wieder scheitert dies jedoch. So mussten den Angaben zufolge im ersten Halbjahr 520 Abschiebeversuche abgebrochen werden. Häufigste Gründe waren Widerstand der Betroffenen, Weigerung des Piloten oder der Fluggesellschaft und eine Übernahmeverweigerung der Bundespolizei.
RND/dpa
Kommentar Zeit online 21.08.2023
Lindners schäbiges Manöver
Kinderarmut sei vor allem ein Problem von ausländischen Familien, suggeriert Christian Lindner. Das ist nicht nur perfide, sondern auch kurzsichtig.
Seit Monaten tobt in Deutschland der Streit um die Kindergrundsicherung. Ebenso lange präsentiert sich Bundesfinanzminister Christian Lindner dabei als eiserner Kassenwart. Die neue Sozialleistung soll aus seiner Sicht zwar digitaler und einfacher zugänglich sein als die bisherigen Hilfen für Kinder. Zugleich soll sie allerdings zu möglichst wenigen neuen Ausgaben für den Finanzminister führen.
Jetzt, wo es endlich konkret wird und nach langer Debatte ein Beschluss des Gesetzes bevorsteht, greift der FDP-Vorsitzende in die Kiste der schmutzigen Tricks. Kinderarmut sei doch gar nicht so sehr ein Problem deutscher Familien, behauptet er. Vielmehr sei sie so indiskutabel hoch, "wegen der Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind." Das ist allerdings bestenfalls ein bisschen richtig und zudem ziemlich perfide: Scheint Lindner dabei doch vor allem auf jene zu zielen, die ohnehin finden, dass man für ausländische Kinder kein zusätzliches Geld ausgeben müsse. Verfangen wird dieses Argumentationsmuster vor allem am rechten Rand der Gesellschaft, aber längst nicht nur dort.
Lindner würde sich – anders als die Politiker der AfD – nie hinstellen und fordern, dass es höhere Sozialleistungen nur für Deutsche geben dürfe. Stattdessen kleidet er seine Bedenken in den Deckmantel der Besorgnis: Würde man migrantischen Kindern nicht viel mehr helfen, wenn man bessere Integrationsangebote für Eltern machen oder die Sprachförderung an Kitas stärken würde, statt den Eltern mehr Geld zu überweisen?
Migrationsberatung gekürzt
Tatsächlich ist Kinderarmut – und an diesem Punkt hat Lindner recht – ein komplexes Phänomen. Direktzahlungen können, egal ob sie an Eltern mit oder ohne Migrationshintergrund gehen, immer nur eines von mehreren Mitteln sein, um sie zu bekämpfen. Doch diese nun gegen andere sinnvolle Maßnahmen auszuspielen, ist schon insofern verlogen, als ja nicht zu erwarten ist, dass Lindner anstelle der Verbesserungen bei der Kindergrundsicherung bereit wäre, ein großes Paket an besseren Integrationsmaßnahmen zu finanzieren. Im Gegenteil: Ausgerechnet die Beratung von Migranten bei Sprachkursen, der Arbeitssuche oder der Kinderbetreuung soll im kommenden Jahr um ein Drittel gekürzt werden.
Hinzu kommt: Wenn Lindner so tut, als ob das deutsche Problem der Kinderarmut in erster Linie durch Zuwanderung hervorgerufen werde, argumentiert er an der Realität im Land vorbei. Auch wenn es richtig ist, dass etwa der Anteil der ausländischen Kinder im Bürgergeldbezug zuletzt durch den Zuzug von Flüchtlingen gestiegen ist, so gibt es doch nach wie vor mehr deutsche Kinder, die ebenfalls vom Bürgergeld abhängig sind. 935.000 Kinder ohne deutschen Pass stehen 1,03 Millionen deutschen Kindern gegenüber, die Bürgergeld beziehen.
Viele deutsche Kinder gelten zudem allein deshalb als nicht mehr als von Armut bedroht, weil durch die Zuwanderung der vergangenen Jahre das sogenannte mittlere Einkommen, an dem eine Armutsgefährdung gemessen wird, gesunken ist. Sie sind also aus der Statistik gefallen, ohne dass sie einen Euro mehr hätten. Eine Glanzleistung der Politik ist dieser Rückgang also nicht.
Armut ist für alle gleich schlimm
Neben den ausländischen Kindern gibt es also nach wie vor mehr als genug deutsche Kinder, die dringend auf eine Verbesserung ihrer Situation angewiesen sind. Doch diese Unterscheidung überhaupt zu betonen, ist falsch und gefährlich. Armut ist schließlich für alle Kinder gleich schlimm, die Frage nach der Herkunft darf und sollte da keine Rolle spielen. Jedes in Deutschland lebende Kinder hat vielmehr verdient, dass der Staat wenigstens Mindeststandards der sozialen Teilhabe sichert – dazu gehören etwa Vereinsaktivitäten, ebenso die Möglichkeit, ein Geschenk zu einem Kindergeburtstag mitzubringen. Mehr kann und will die im Vergleich zu ursprünglichen Plänen auch so schon stark eingedampfte Kindergrundsicherung ohnehin nicht erreichen. Der dringende Bedarf dafür müsste auch einem auf die Schuldenbremse fokussierten Finanzminister eines Landes, in dem jedes fünfte Kind von Armut bedroht ist, offensichtlich sein.
Gute Entwicklungschancen für alle Kinder sollten dem deutschen Staat aber auch aus purem Eigeninteresse wichtig sein. Denn aus jenen Kindern, die heute die Grundsicherung empfangen würden, werden nur dann die Fachkräfte von morgen, wenn Familien neben guten staatlichen Bildungs- und Betreuungsmöglichkeiten auch das Geld haben, ihren Kindern ein Minimum an Förderung zukommen zu lassen. Finanzielle Armut – das hat eine Studie gezeigt – hat von allen Faktoren die größten Auswirkungen auf den Bildungserfolg von Kindern. Deshalb ist Lindners Argumentation nicht nur schäbig, sondern auch kurzsichtig.
Höchste Zeit, dass der Bundeskanzler seinen Finanzminister in die Schranken weist und eine Einigung im Streit um die Kindergrundsicherung herbeiführt – eine Lösung, die die beschämende Lage armer Kinder in Deutschland wenigstens ein bisschen verbessert.
ZDF Datum: 21.08.2023
"Zusammenhang mit Migration" : Lang widerspricht Lindners Kinderarmuts-These
Streit in der Ampel: Finanzminister Lindner sieht einen Zusammenhang zwischen der Migration seit 2015 und Kinderarmut. Grünen-Chefin Lang widerspricht.
Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang hat die Aussagen von Finanzminister Christian Lindner (FDP) zur Kinderarmut gekontert. "Verschiedene Zahlen zeigen uns, dass wir ein Problem mit verfestigter Kinderarmut schon seit längerer Zeit hier in Deutschland haben", sagte Lang ZDFheute. Deswegen sei es auch wichtig, sich noch in diesem Monat auf eine Kindergrundsicherung zu einigen.
Dabei hängt die Frage, ob man etwas gegen Kinderarmut tun sollte, für mich nicht von der Herkunft ab. Ricarda Lang, B'90/Die Grünen
Lindner sieht Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Migration
Lindner hatte am Wochenende gesagt, die Kinderarmut in Deutschland sei deutlich zurückgegangen "bei den ursprünglich deutschen Familien." Insgesamt sei sie aber "indiskutabel hoch wegen der Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind als Geflüchtete oder aus anderen Gründen." Lindners Fazit:
Es gibt also einen ganz klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut. Christian Lindner, FDP-Vorsitzender
Woher kommen Lindners Zahlen?
Lindner hatte gesagt, er wolle gerne diskutieren, wie man diesen Kindern und Jugendlichen am besten helfen könne. Vielleicht helfe man ihnen am besten, wenn man in die Sprachförderung, Integration und Beschäftigungsfähigkeit der Eltern investiere. Auch eine bessere Ausstattung von Kitas und Schulen könne besser sein, als Eltern mehr Geld zu überweisen.
ZDFheute hat Christian Lindner gefragt, welche Zahlen er verwende. Ein Sprecher seines Ministeriums antwortet, Lindner berufe sich auf eine Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Dort will man die Schlussfolgerung Lindners, also einen Zusammenhang zwischen Migration und Kinderarmut, nicht kommentieren. Eine Sprecherin verweist aber auf folgende Zahlen:
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Im Jahr 2015 haben etwa 1,5 Millionen Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit Hartz IV bezogen.
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Im März 2023 waren es nur noch circa 1,02 Millionen Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit (aus Hartz IV ist inzwischen das Bürgergeld geworden).
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Im Jahr 2015 haben 366.000 Kinder mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit Hartz IV bezogen.
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Im März 2023 hat sich deren Anzahl auf 933.000 erhöht.
Widerspruch von Fratzscher
Laut dem Ökonomen Marcel Fratzscher belegen diese Zahlen aber nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen Migration und Kinderarmut gebe. Schließlich sei statistisch gesehen arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Weil aber seit 2015 "noch ärmere Menschen hinzugekommen sind", sinkt das mittlere Einkommen.
Die Tatsache, dass einige 'ursprünglich deutsche Familien' seit 2015 aus der Armut gekommen sind, ist teilweise rein statistisch und kausal die Konsequenz der Zuwanderung. Marcel Fratzscher, Ökonom
Fratzscher kritisiert Lindner für seine Aussagen vom Wochenende: "Armut ist Armut. Es ist moralisch, wirtschaftlich und sozial irrelevant, welche Hautfarbe, Herkunft etc. ein von Armut betroffenes Kind hat", schreib Fratzscher auf X, dem früheren Twitter. Die Herkunft eines betroffenen Kindes ändere auch nichts an der Notwendigkeit, dessen Armut zu bekämpfen. "Bessere Kitas, Schulen und Chancen im Arbeitsmarkt sind kein Ersatz für ausreichende finanzielle Hilfen."
Linke: "Eine Unverschämtheit"
Kritik an Lindner kommt auch von Linken-Parteichefin Janine Wissler. Das Problem der Kinderarmut in Deutschland sei nicht importiert, wie der Finanzminister nahelege. In Deutschland sei jedes fünfte Kind armutsgefährdet. Besonders betroffen seien die Kinder von Alleinerziehenden, so Wissler am Montag in Berlin.
Lindners Argumentation gegen die Kindergrundsicherung lege nah, dass Eltern das Geld selbst benutzen und es nicht den Kindern zugute kommen lassen würden. Das sei eine Unverschämtheit gegenüber den Eltern. Wissler forderte die Ampel auf, die versprochene Kindergrundsicherung schnell einzuführen.
Bei diesem Thema streitet die Ampel seit Monaten. Vergangene Woche hatte Familienministerin Lisa Paus (Grüne) ein Gesetz von Finazminister Christian Lindner (FDP) blockiert und an die Einführung der Kindergrundsicherung geknüpft. Anders als Lindner fordert Paus insgesamt mehr Geld für arme Kinder. Der Streit in der Ampel ist bisher nicht gelöst. Und die Spannungen in der Ampel haben durch Lindners Aussage am Wochenende noch einmal zugenommen.
Streit über Kindergrundsicherung: Armut kennt keine Herkunft
Im Streit über die Kindergrundsicherung irritiert Christian Lindner mit Aussagen über Kinderarmut im Zusammenhang mit Migration.
TAZ, 22.08.2023
BERLIN taz | Wie bei einem Boxkampf in der zehnten Runde sehnt man sich einfach nur noch nach dem Ende. Seit Monaten stehen sich in der einen Ecke des Rings die grüne Familienministerin Lisa Paus und in der anderen der freidemokratische Finanzminister Christian Lindner gegenüber. Abwechselnd fügen sie sich Schläge zu. Erst wollte Lindner der Familienministerin für die Kindergrundsicherung nicht so viel Geld zugestehen, wie sie verlangt hatte, vergangene Woche dann blockierte Paus wiederum das Wachstumschancengesetz des Finanzministers, welches Steuererleichterungen für Unternehmen vorsieht.
In einer Kampfpause am Wochenende irritierte Lindner nun mit Aussagen über Kinderarmut. Beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung sagte er, in Deutschland sei die Kinderarmut „ganz, ganz deutlich zurückgegangen – bei den ursprünglich deutschen Familien, die schon länger hier sind“. Insgesamt sei die Kinderarmut in der Bundesrepublik aber immer noch vergleichsweise hoch. Doch das liege an „Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland gekommen sind“.
Laut Zahlen der Bertelsmann Stiftung ist mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht. In diese Kategorie fallen all jene Kinder, die in einem Haushalt leben, der über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ordnet Lindners Aussagen ein: Bei Kindern ohne Migrationshintergrund habe man seit 2014 bei den Armutszahlen eine „ganz leichte Tendenz des Rückgangs, ob das deutlich ist, darüber kann man streiten“.
Allerdings sei die Zahl bei Kindern mit Migrationshintergrund seit 2012 von 25 Prozent auf fast 40 Prozent gestiegen. Dies sei jedoch „nicht verwunderlich“, da allein etwa eine Million Ukrainer*innen nach Deutschland gekommen seien und sich darunter viele Frauen mit Kindern befinden. Für diese sei es „besonders schwierig, ein Einkommen oberhalb der Armutsschwelle“ zu generieren.
Möglicherweise 3,5 Milliarden statt 12 Milliarden Euro
Die Kindergrundsicherung soll fünf bestehende Leistungen zusammenfassen. Lindner positionierte sich gegen höhere Geldleistungen für von Armut betroffene Familien. Er wolle lieber „Sprachförderung, Integration, Beschäftigungsfähigkeit der Eltern“ und Bildungschancen verbessern.
Grabka zufolge müsse beides geschehen: Geldleistungen seien eine „Symptombekämpfung, keine Ursachenbekämpfung“. Der häufig kolportierte Vorwurf, mit dem auch Lindner spielt, dass prekär lebende Eltern das Geld für sich selbst statt für ihre Kinder ausgeben würden, ist für Grabka „wissenschaftlich nicht belastbar“.
Der Streit um die Höhe der von Paus geplanten Kindergrundsicherung schwelt schon lange. Ursprünglich wollte Familienministerin Paus 12 Milliarden Euro dafür veranschlagen. Lindner will ihr nur einen Bruchteil davon gewähren – 2 Milliarden Euro.
Am vergangenen Freitag erklärte Paus, der Gesetzentwurf sei nun fertiggestellt. Laut Zeit Online sollen die Kosten dort auf 3,5 Milliarden Euro angesetzt sein. Obwohl Paus deutlich weniger Geld zur Verfügung stehen wird, sei die Kindergrundsicherung laut Grabka trotzdem „ein gutes Instrument, wenn Bürokratieabbau und Zusammenlegung von verschiedenen familienpolitischen Leistungen angegangen wird“. Anders sah das die Linken-Parteivorsitzende Janine Wissler bei einer Pressekonferenz am Montag: „Mit dieser Summe kann man Kinderarmut in diesem Land nicht bekämpfen.“
Ende August soll Klarheit herrschen. Auf der anstehenden Kabinettsklausur auf Schloss Meseberg sollen die Details abgestimmt werden.