30.08.2023 "Das ist nicht das Leben" ist eine aktuelle Studie überschrieben, die Unicef Deutschland und das Deutsche Institut für Menschenrechte jetzt vorlegte.
Sie beleuchtet die Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen in Unterkünften für geflüchtete Menschen in Deutschland. Die Studie lässt vor allem geflüchtete Kinder und Jugendliche selbst zu Wort kommen.
Aus ihren Schilderungen, die im Kontrast zu ihren Rechten stehen, leiten UNICEF Deutschland und das Deutsche Institut für Menschenrechte Empfehlungen an Bund, Länder und Kommunen ab.
Hier zum Download Größe: 104 Seiten, 1,67 MB, Veröffentlichung: 08/2023
Wir zitieren
POLITISCHE UND KINDERRECHTLICHE SCHLUSSFOLGERUNGEN
Die Aussagen der Kinder und Jugendlichen, die an dieser Studie teilgenommen haben, zeigen, dass ihre Rechte in Unterkünften für geflüchtete Menschen weiterhin verletzt werden. Ihre Lebensrealitäten sind wesentlich von Ort, Infrastruktur, Art der Unterkunft und Form der Unterstützung vor Ort beeinflusst. Menschenwürdige Bedingungen sind nicht strukturell verankert und werden auch nicht systematisch überprüft. Daher ist auch nur sehr wenig über die Situationen bekannt, in denen Kinder und Jugendliche in Unterkünften - oft jahrelang - leben müssen.
Es ist, wie sie selbst beschreiben, ein Leben, das sie nicht richtig ernst nehmen können. Es sind für sie Monate oder gar Jahre, in denen sie darauf warten, dass ihr Leben endlich losgeht. Dies liegt auch daran, dass geflüchteten Kindern und Jugendlichen nur wenige Möglichkeiten der Beteiligung und auch der Beschwerde eingeräumt werden. Ihre Beteiligung und Teilhabe haben häufig, neben den essentieller erscheinenden (Alltags-)Problemen bei der Unterbringung, wie etwa Obdachlosigkeit zu vermeiden, keine Priorität.
Das Recht auf Gehör und die eigene Meinung hat jedoch weitreichende Auswirkungen darauf, andere Rechte wahrnehmen zu können. Die Verwirklichung der Beteiligung stellt sozusagen die Grundlage für die Teilhabe dar. Die Stimmen der Kinder bleiben aber oft ungehört.
Anders im Ansatz dieser Studie: In den Gesprächen im Rahmen dieser Studie konnten die Kinder und Jugendlichen selbst Schwerpunkte für die Themen setzen. Die Ergebnisse wurden ausführlich hier dargestellt und machen teils die gleichen Mängel in Bezug auf die Umsetzung ihrer Rechte und Beachtung ihrer speziellen Bedarfe sichtbar, wie schon 2017 von UNICEF festgestellt oder 2020 durch UNICEF Deutschland und DIMR sowie durch zahlreiche andere Studien der letzten Jahre. Es gibt einen großen Handlungsbedarf, der seit vielen Jahren besteht und dringend angegangen werden muss. Aus Sicht von UNICEF Deutschland und DIMR darf die Situation für die Kinder und Jugendlichen nicht dem Zufall und dem Engagement einzelner Personen überlassen werden. Die UN-KRK verpflichtet dazu, die darin verbrieften Rechte für jedes Kind umzusetzen. Die Bundesregierung, Länder und Kommunen müssen daher dafür Sorge tragen, dass diesen Verpflichtungen nachgekommen wird.
Dafür braucht es eine entschlossene und ressortübergreifend abgestimmte Politik für Kinderrechte auf allen staatlichen Ebenen.
Hierfür sind gefestigte, fördernde und rahmengebende Strukturen sowie konkrete Handlungsleitlinien wie die Mindeststandards zum Schutz geflüchteter Menschen in Flüchtlingsunterkünften notwendig. In den Unterkünften besteht darüber hinaus Bedarf an geschulten und sensibilisierten Fachkräften, die für Kinder und Jugendliche Ansprechpersonen sind, um sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte zu unterstützen bzw. diese sicherzustellen.
UNICEF Deutschland und DIMR ziehen politische und kinderrechtliche Schlussfolgerungen mit
folgenden übergeordneten Empfehlungen:
- Länder und Kommunen sollten Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern bzw. Sorgeberechtigten menschenwürdig, dezentral oder in eigenen Wohnungen unterbringen, unabhängig von Herkunftsland und Aufenthaltsstatus.
- Solange es keine Alternativen zur staatlichen Unterbringung für geflüchtete Menschen gibt, sollten der Bund und die Länder die maximale Verweildauer von Kindern und Jugendlichen in Unterkünften für geflüchtete Menschen so kurz wie möglich halten und Mindeststandards - nicht nur mit Blick auf den Gewaltschutz - zur Einhaltung der Kinderrechte in Unterbringungen verbindlich umgesetzt und regelmäßig überprüft werden.
- Die Bundesländer müssen dafür Sorge tragen, dass Kindern und Jugendlichen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland, spätestens aber nach drei Monaten, unabhängig von ihrer Unterbringungsart oder ihres Aufenthaltsstatus, der Zugang zum Regelsystem, wie Kita, Schule und/oder Ausbildung, gewährleistet werden. Zwischenzeitliche unterkunftsinterne Bildungsangebote müssen auf den Unterricht in den Regelschulen durch qualifiziertes Personal vorbereiten.
- Kinder und Jugendliche sind in allen sie betreffenden Maßnahmen anzuhören und ihre Meinung angemessen zu berücksichtigen (z. B. bei der Erarbeitung von Gewaltschutzkonzepten, bei der Raumgestaltung, bei der Erarbeitung von Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre, bei der Planung von Freizeitaktivitäten etc.). Dazu braucht es ein umfassendes Umdenken, damit Kindeswohl nicht nur im Sinne des Schutzes von Kindern verstanden wird, sondern auch vor dem Hintergrund der in der UN-KRK verankerten Förder- und Beteiligungsrechte.
- Der Bund muss allen Kindern und Jugendlichen, die in Unterkünften untergebracht werden, einen unmittelbaren und diskriminierungsfreien Zugang zu umfassenden Gesundheitsdiensten und -vorsorge verschaffen.
- Der Bund sollte sicherstellen, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche von der geplanten Kindergrundsicherung erfasst werden.
- In den Bundesländern und Kommunen muss Kindern und Jugendlichen, die in Unterkünften für geflüchtete Menschen wohnen, ein barrierearmer Zugang zur örtlichen Kinder- und Jugendhilfe geschaffen werden. Sie sollten die Möglichkeit haben, die Leistungen sowiedie durch die Jugend(sozial)arbeit zur Verfügung gestellten Angebote auch außerhalb derUnterkünfte zu kennen und zu nutzen.
- Kinder und Jugendliche sowie ihre Sorgeberechtigten brauchen Online-Zugänge und geeignete Informationen, um sicher online zu handeln, sich selbstbewusst und verantwortungsvoll in digitalen Umgebungen zu bewegen und etwaigen Missbrauch und unangemessene Aktivitäten melden zu können. Bund, Länder und Kommunen sollten dafür entsprechende Strukturen und Angebote schaffen.
Um die Schlussfolgerungen einhalten und die Verwirklichung der UN-KRK mit Blick auf die Rechte von geflüchteten Kindern und Jugendlichen erreichen zu können, braucht es zudem folgende strukturellen Veränderungen in Deutschland:
- Kinderrechte sollten ausdrücklich im Sinne der UN-KRK im Grundgesetz formuliert werden, damit ihre Geltung für alle in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen vom Bundesgesetzgeber klargestellt wird und sie allen Rechtsanwender*innen bekannt werden.
- UNICEF und DIMR empfehlen Bund, Ländern und Kommunen, Kinder und Jugendliche regelmäßig über ihre Rechte in kind- und jugendgerechter Weise und mit Blick auf ihre vielfältigen Lebensrealitäten zu informieren.
- Auf Bundesebene sowie in allen Bundesländern sollten mit der Einrichtung von Beauftragten für Kinderrechte die Interessensvertretung für Kinder und Jugendliche gestärkt sowie Selbstvertretungen von Kindern und Jugendlichen aktiv angeregt und befördert werden.
- Kindern und Jugendlichen sollten unabhängige, wirksame, sichere und zugängliche Mechanismen in den Bundesländern und Kommunen zu Verfügung stehen, damit sie Beschwerden einreichen und Rechtsmittel einlegen können, wenn ihre Rechte verletzt werden. Kinder und Jugendliche müssen wissen, bei wem sie sich beschweren können und wie (in welchem Verfahren) dies zu tun ist.
- Der Bund sollte dafür Sorge tragen, dass die Situation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland unter Berücksichtigung und Anhörung der Meinung der betroffenen Kinder und Jugendlichen durch eine disaggregierte und kinderrechtebasierte Datenerhebung sowie Kinderrechtsindikatoren regelmäßig und dauerhaft überprüft werden.
- Orte in öffentlicher Verantwortung für Kinder und Jugendliche (seien es Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Unterkünfte für Geflüchtete, Krankenhäuser u. v. m.) brauchen verpflichtende Standards, Mechanismen, Personalschlüssel und Budgetierungen.
Bund, Länder und Kommunen sollten einen regelmäßigen ressortübergreifenden Austausch über die Situation der Verwirklichung der UN-Kinderrechtskonvention für Kinder und Jugendliche in Deutschland etablieren.
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