14.07.2022 Zu einer Erkundung reiste Elisa Reinheimer von Pro Asyl in den Osten Polens. Sie berichtet vom Elend der Schutzsuchenden in der gefährlichen Zone, die unter Naturliebhaber*innen als Paradies gilt, und den erschöpften Ativist*innen, nach Monaten des freiwilligen Einsatzes: ».. wie kann man den Wald genießen und sich erholen, wenn so schreckliche Dinge geschehen? Also habe ich mich entschieden, zu helfen«
Unterwegs in Europas letztem Dschungel
Schutzsuchende aus aller Welt versuchen weiterhin, über Belarus nach Polen in die EU zu gelangen. Trotz der knapp sechs Meter hohen Mauer, die Polen Anfang Juli fertiggestellt hat, gelingt das einigen. Sie harren tage- oder wochenlang im Urwald von Białowieża aus. Elisa Rheinheimer von PRO ASYL berichtet über die Lage vor Ort.
Alte Holzhäuser mit Giebeldächern, die den Eindruck erwecken, als sei die Zeit hier vor fünfzig Jahren stehen geblieben, säumen die Feld- und Wiesenwege von Podlachien. In dieser Region im Osten von Polen bin ich gemeinsam mit einer Kollegin sowie polnischen Anwältinnen unterwegs. Rund zwanzig Kilometer sind es bis zur belarussischen Grenze. Ruhig und friedlich wirkt es hier, doch die Idylle trügt: In den riesigen Wäldern verstecken sich nach wie vor Flüchtlinge, die versuchen, die EU zu erreichen, in der sie sich in Sicherheit wähnen. Das Drama an der Ostgrenze der EU ist zwar aus den Schlagzeilen verschwunden, aber noch lange nicht vorbei. Täglich versuchen Menschen über diesen Weg die EU zu erreichen, täglich werden sie von polnischen Einheiten aufgegriffen, inhaftiert oder unmittelbar nach Belarus abgeschoben. Viele von ihnen erleiden durch die polnischen Pushbacks Gewalt oder werden danach misshandelt: Hämatome und Knochenbrüche zeugen von der Gewalt belarussischer Soldat*innen. Von einem »Albtraum« sprach die Anwältin Marta Górczyńska im vergangenen Jahr im Interview mit PRO ASYL.
Der Białowieża ‑ Nationalpark ist der letzte Urwald Europas; hier leben unter anderem Bisons und Wölfe. Das Paradies für Naturliebhaber*innen ist für Geflüchtete eine gefährliche, teils tödliche Zone. In der Gegend, in der wir unterwegs sind, hat im Dezember eine schwangere Frau ihr ungeborenes Baby verloren, es ist im Mutterleib gestorben. Kurz danach ist auch die Mutter verstorben, weil sie nicht rechtzeitig medizinische Hilfe erhielt. Mindestens 21 Menschen sind alleine im polnisch-belarussischen Grenzgebiet schon ums Leben gekommen – die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen.
Anfang Juli hat die polnische Regierung die Mauer fertiggestellt, die sie gegen die Flüchtlinge errichtet hat. Fünfeinhalb Meter ist diese hoch, stacheldrahtbewehrt, über 180 Kilometer lang. Die Mauer macht die Flucht nach Polen nicht unmöglich, aber wesentlich gefährlicher. Einige Schutzsuchende schaffen es, sie zu überwinden, andere weichen auf die verbleibenden rund 200 Kilometer der Grenze zwischen Belarus und Polen aus, die (noch) nicht mit einer Mauer abgeschirmt sind – entweder, weil es so sumpfig ist, dass dies unmöglich ist, oder weil es sich um besonders geschützte Abschnitte des Nationalparks handelt. In einem solchen Gebiet befinden wir uns.
Die Aktivist*innen sind erschöpft – und viele psychisch am Ende
Eines der Häuser am Rande des Waldes ist ein Rückzugsort für Aktivist*innen, die Geflüchteten helfen. Wo genau es steht, soll aus Sicherheitsgründen geheim bleiben. Wer mithilft, tut dies ehrenamtlich. In einem anderen Leben, in einer anderen Welt, in der man im Café einen Latte Macchiato trinkt und über die letzte Party redet, arbeiten die Menschen, die hier zusammenkommen, in unterschiedlichen Berufen, etwa als Grafikdesignerin oder Lehrer. Wann immer sie Zeit haben, kommen sie hierher, um zu helfen – einige alle paar Monate für ein paar Tage, andere eine Woche pro Monat. So ist es keine feste Gruppe, die in dem geräumigen Haus mit den Vierbettzimmern unterkommt, sondern wechselnde Gesichter. Sie kommen hier als Grupa Granica zusammen, einem Bündnis polnischer Hilfsorganisationen und Aktivist*innen. Die Gruppe wird auch von Organisationen wie der Helsinki Foundation for Human Rights oder der Stiftung Ocalenie unterstützt.
Im Eingangsbereich des Hauses hängt die Hausordnung, in einem Raum daneben stehen dutzende Paar Gummistiefel und Wanderschuhe in verschiedenen Größen für die Einsätze der Aktivist*innen im Wald. In einem weiteren Raum lagern Powerbanks, warme Pullover, Shirts und Unterwäsche, die an die Flüchtlinge verteilt werden. Finanziert wird das durch Spenden.
Jeden Tag um 10 Uhr versammeln sich alle Anwesenden um einen großen Holztisch im Wohnzimmer und planen den Tag. Auf dem Tisch steht eine große Schale mit Haferbrei, außerdem Brot und Tee, dazwischen eine Karte des Nationalparks und aufgeklappte Laptops. Ewa, die unermüdlich in der Küche steht und erschöpften Mitstreiter*innen auch mal eine Massage anbietet, ist schon dabei, das Mittagessen vorzubereiten. Zur morgendlichen Runde setzt sie sich mit an den Tisch. Agatha moderiert: Wer geht raus in die Wälder zu den Flüchtlingen? Wer packt die Rucksäcke mit den Essensrationen, warmer Kleidung und Schuhen? Wer bleibt im Haus und hilft beim Aufräumen? Wer bereitet das Essen vor? Wer kann neu ankommende Aktivist*innen mit dem Auto vom Bahnhof abholen? Wer putzt Küche und Bad?
Die Menschen aller Altersgruppen, die um den Esstisch sitzen, befinden sich seit Monaten permanent im Ausnahmezustand. Seit die polnische Regierung den Krieg gegen Geflüchtete erklärt hat, die Grenze militarisierte und Schutzstandards eindampfte, werden sie mehr denn je gebraucht. »Viele von uns sind zutiefst erschöpft«, berichtet Agatha. »Wir haben nicht genug Leute. Die meisten, die jetzt helfen, waren schon im letzten Herbst mit dabei. Das ist psychisch sehr anstrengend auf die Dauer.« Der Sprint ist zum Langstreckenlauf geworden, Agatha ist selbst seit Oktober 2021 dabei. »Manchmal fühle ich mich wie ein Roboter. Ich höre von den schrecklichen Dingen, die im Wald geschehen, oder erlebe sie mit, aber ich fühle es nicht mehr. Es kommt nicht mehr an mich ran«, sagt sie und klingt müde. »Schlimme Situationen, die ich im Winter erlebt habe, realisiere und verarbeite ich erst jetzt.«
»Manchmal fühle ich mich wie ein Roboter. Ich höre von den schrecklichen Dingen, die im Wald geschehen, oder erlebe sie mit, aber ich fühle es nicht mehr. Es kommt nicht mehr an mich ran« Agatha, Aktivistin
Dann kommen zwei Hilferufe rein, eine Gruppe von vier Geflüchteten aus dem Kongo, und eine weitere Gruppe überwiegend mit Menschen aus Indien. Schnell werden die Rucksäcke mit überlebenswichtigen Dingen für die Schutzsuchenden gepackt, dann geht es los.
»Wir können uns nicht einfach zurücklehnen«
Ich bin unterwegs mit drei Männern, was ungewöhnlich ist: Die meisten im Haus der Aktivist*innen sind Frauen. Chris, 29, ist ein Journalist aus Krakau, Michal, 41, ist Fahrradpädagoge aus Lublin, und Wojtek, 42, kommt aus der Region. Michal und Wojtek sind seit einem dreiviertel Jahr engagiert bei der Stiftung Ocalenie. Beide hatten zuvor nichts mit der Flüchtlingsszene zu tun. Aber dann kam der Sommer 2021 und mit ihm die Krise Europas, die Belarus‘ Diktator Lukaschenko ausnutzte und Schutzsuchende an die EU-Außengrenze brachte. Wojtek wollte sich nach einem Burn-Out eigentlich im Nationalpark entspannen, wandern gehen, Fahrradfahren. »Aber wie kann man den Wald genießen und sich erholen, wenn so schreckliche Dinge geschehen? Also habe ich mich entschieden, zu helfen«, erzählt er.
»Ich befürchte, wir haben das Schlimmste noch vor uns«, sagt Michal. »Jetzt mit der Mauer wird es noch mehr Tote geben, und vermutlich weitet die Regierung auch die Notstandszone wieder aus, sodass Helfern der Zutritt verboten wird. Darum müssen wir weitermachen. Wir können uns nicht einfach zurücklehnen.« Mit seinen Eltern kann Michal nicht über die Nothilfe sprechen, die er hier in den Wäldern leistet. »Sie sind sehr konservativ und glauben der Regierungspropaganda. Ich möchte eine gute Beziehung zu meinen Eltern haben, also reden wir nicht über die Flüchtlinge«, sagt er. Auch Wojtek kennt das Gefühl der Zerrissenheit. »In meinem Dorf sind die Menschen sehr engstirnig und rechtsgerichtet. Aber das Leben in Warschau, wo ich lange war, hat mich verändert. Ich habe linke Ideen aufgeschnappt. Darüber kann ich mit denen daheim nicht sprechen. Hier in der Gruppe bin ich auf offene Menschen gestoßen, die so ticken wie ich. Das ist eine Bereicherung.«
Auch Chris ist häufig vor Ort, unterstützt die Aktivist*innen und berichtet für eine linksgerichtete, christliche polnische Zeitung über die Lage. »Diejenigen Einheimischen, die sich 2017 in der Umweltbewegung für den Erhalt des Nationalparks eingesetzt haben, engagieren sich heute für Flüchtlinge«, erklärt er.
Heiße Suppe, Tee und Rettungsdecken für die Geflüchteten
Nach einer Weile hält Wojtek das Auto an einem kleinen Waldweg und ich springe mit Michal und Chris heraus, bevor er schnell weiterfährt. Wir rennen in den Wald; niemand soll uns sehen, weder Grenzbeamt*innen, die möglicherweise hier patrouillieren, noch Einheimische, denn längst nicht alle sind den Flüchtlingen gegenüber wohlgesonnen. Einige rufen die Polizei, was für die schutzsuchenden Menschen in den allermeisten Fällen bedeutet, dass sie inhaftiert und zurückgeschickt werden. Andere Einheimische wiederum unterstützten die Menschen auf der Flucht. »Viele Leute hier verstecken Flüchtlinge in ihren Kellern oder Scheunen. Es fühlt sich an wie in Kriegszeiten. Früher haben sie hier in der Gegend Juden versteckt – heute Flüchtlinge. Für mich sind das Helden«, sagt Chris.
»Viele Leute hier verstecken Flüchtlinge in ihren Kellern oder Scheunen. Es fühlt sich an wie in Kriegszeiten. Früher haben sie hier in der Gegend Juden versteckt – heute Flüchtlinge. Für mich sind das Helden« Chris, Aktivist
Schnell hat uns der Wald verschluckt. Wir klettern über umgestürzte Bäume, unter herabhängenden Zweigen hindurch und durch hüfthohe Brennnesseln. Schon nach wenigen hundert Metern im Dickicht habe ich die Orientierung verloren. In der Ferne bellen Hunde – sind die Grenzbeamt*innen in der Nähe? Nach rund einem Kilometer sehen wir sie: Drei Männer und eine Frau, die auf dem Waldboden sitzen, gegen Bäume gelehnt. Sie werden umschwirrt von unzähligen großen Stechmücken. Michal packt die Thermoskannen mit heißem, gesüßtem Tee aus und drückt jedem einen Becher in die Hand. Da die Aktivist*innen bereits am Tag zuvor mit den vier Kongoles*innen in Kontakt standen und deren Schuhgrößen erfragt hatten, erhalten sie nun auch feste Schuhe, außerdem Powerbanks zum Aufladen ihrer Handys, Beutel voller Energie-Riegel, Wasser und goldene Rettungsdecken gegen die nächtliche Kälte. Auch Suppe holt Michal aus seinem großen Trekking-Rucksack. »Esst! Das ist wichtig, es gibt euch Energie«, sagt er zu den Geflüchteten.
Unter ihnen sind auch zwei Minderjährige: Ruth aus der DR Kongo und Glody aus dem Kongo sind erst siebzehn Jahre alt. Besonders in der Nacht haben sie Angst, erzählen die Beiden. Vor wilden Tieren. Und davor, von Grenzbeamt*innen entdeckt zu werden. Kalt sei es nachts, selbst jetzt im Juli. Seit zehn Tagen sind die Vier schon im Urwald unterwegs. Während die Männer psychisch relativ stabil wirken, ist Ruth apathisch. Sie redet kaum, isst nur wenig und klagt über Schmerzen in den Füßen. »Ich fühle mich nicht gut«, wiederholt sie immer wieder. Ihre Augen sind leer, sie lächelt selten. Was sie unterwegs erlebt hat, will sie nicht erzählen, nur so viel sagt sie: Ursprünglich sei sie mit einer anderen Gruppe unterwegs gewesen, doch die habe sie im Dschungel verloren.
Ihre Pläne sind ungewiss. Die Vier hoffen darauf, einen Asylantrag in Deutschland stellen zu können. Doch wie sie dorthin kommen sollen, ist unklar. Keiner von ihnen damit gerechnet hat, in diesem Dschungel zu landen. Und seit die polnische Regierung Pushbacks legalisiert hat, grenzt es fast an ein Wunder, es über die Grenze gen Westen zu schaffen. »Wie kommen wir von hier nach Warschau?«, fragen sie. »Warum gibt uns Polen keinen Schutz?« Und: »Könnt ihr uns helfen, nach Deutschland zu kommen?« Es ist schwierig, diese Fragen auszuhalten, ohne eine Antwort geben zu können.
Dann verabschieden wir uns – und müssen sie zurücklassen. Das beklemmende Gefühl, das damit einhergeht, lässt sich nicht zurücklassen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ihnen viel Glück zu wünschen.
PRO ASYL wird den Schutzsuchenden gemeinsam mit unseren polnischen Partnern weiterhin humanitär und rechtlich beistehen, wo immer dies möglich ist.
(er)