Ukraine-Geflüchtete: In Ungarn nur zum Zwischenstopp willkommen?

Aus den News von Pro Asyl:

Nicht wirklich willkommen: Ukrainische Geflüchtete in Ungarn

19.07.2022 Ungarn ist für seine brutale Politik gegenüber Schutzsuchenden bekannt. Die Geflüchteten aus der Ukraine werden zwar besser behandelt. Doch die nicht wirklich guten Bedingungen lassen den Schluss zu, dass es der Regierung recht ist, dass viele Ukrainer*innen in andere Länder weiterfliehen. Ein Bericht über Ukrainer*innen in Ungarn.

Ganz im Osten Ungarns liegt Záhony, ein Grenzort mit 4.000 Einwohner*innen. Schon vor dem Krieg war hier der bedeutsamste Grenzübergang zur Ukraine sowohl für Reisende mit dem Auto als auch für die, die mit dem Zug einreisen. Doch Zug-Passagiere gab es vor dem Krieg meist nur wenige, und so verwundert es auch nicht, dass der kleine Bahnhofsladen in Záhony bereits vor Jahren geschlossen wurde.

Ein ganz anderes Bild bot sich jedoch Anfang März 2022, kurz nachdem Russland die Ukraine angegriffen hatte. Aus jedem der aus dem ukrainischen Chop kommenden Züge strömten Hunderte Menschen mit schwerem Gepäck in die kleine Bahnhofshalle in Záhony, die sich innerhalb von Minuten füllte. Darunter waren auffallend viele Frauen mit kleinen Kindern und etliche ausländische Studierende. Viele der Studierenden hatten bereits eine tagelange Odyssee hinter sich. Da Polen Menschen ohne ukrainische Staatsbürgerschaft oder gültiges Visum die Einreise zunächst verweigert hatte, reisten sie nach Ungarn. Denn überraschenderweise war Ungarn bei der  Einreise von Drittstaatenangehörigen weitaus toleranter als Polen. Das hatte sich unter den ausländischen Studierenden schnell herumgesprochen.

Záhony: zunächst nur ein kurzer Zwischenstopp 

Anfang März kamen täglich etwa zwei- bis dreitausend Menschen mit Zügen in Záhony an. Große Organisationen waren in den ersten Wochen des Krieges kaum präsent. Es waren vor allem Ehrenamtliche, die eine Erstversorgung mit Essen und Getränken gewährleisteten. Sogar ein Restaurantbesitzer aus Lindau  war angereist und kochte mit mehreren Helfer*innen Hunderte warme Mahlzeiten täglich.

Trotz der vielen Geflüchteten war die Situation jedoch keineswegs chaotisch. Denn nahezu alle Ankommenden verließen Záhony innerhalb kürzester Zeit wieder: Entweder wurden sie von Freund*innen oder Bekannten abgeholt oder sie fuhren mit dem Zug weiter nach Budapest, wofür an zwei Schaltern kostenfreie Tickets ausgegeben wurden.

Weiterreise zunächst nur mit biometrischem Pass

Mitte Mai hingegen kamen nur noch etwa 500 Kriegsflüchtlinge pro Tag in Záhony an, auf dem Bahnhofsvorplatz stand ein großes Versorgungszelt. Wenn ein Zug aus der Ukraine in den Bahnhof einfuhr, wurden zunächst die Pässe kontrolliert und die meisten Passagiere fuhren wenig später weiter nach Budapest.

Die umgehende Weiterreise wird jedoch nur denjenigen ermöglicht, die einen biometrischen ukrainischen Pass vorlegen können. Alle anderen, auch Drittstaatenangehörige, werden von der ungarischen Polizei in einen abgesperrten Bereich vor dem Bahnhof eskortiert. Dort werden sie registriert und bekommen eine sogenannte »temporary residence permit«. Diese hat eine Gültigkeit von einem bis drei Monate und berechtigt auch dazu, einen Platz in einer Unterkunft für Geflüchtete zu belegen. Im Notfall können Inhaber*innen einer »temporary residence permit« auch medizinische Versorgung in Anspruch nehmen, ansonsten haben sie allerdings kaum Rechte wie zum Beispiel eine Arbeitserlaubnis.

Mehr als 1,6 Millionen Kriegsflüchtlinge nach Ungarn eingereist 

Bis Anfang Juli sind etwa 1,6 Millionen Kriegsflüchtlinge nach Ungarn eingereist. Davon etwa 900.000 über einen der fünf Grenzübergänge, die an der 140 Kilometer langen Grenze zwischen Ungarn und der Ukraine existieren. Etwa 700.000 reisten über die fast 450 Kilometer lange Grenze aus Rumänien nach Ungarn ein. Da Rumänien, im Gegensatz zu Ungarn, nicht Teil des Schengenraums ist, gibt es an dieser Grenze Grenzkontrollen und somit auch exakte Zahlen. Auch ukrainische Staatsangehörige, die keinen biometrischen Pass haben, können an der rumänisch-ungarischen Grenze einreisen – nicht jedoch Drittstaatenangehörige, die zuvor in der Ukraine waren und kein Visum für den Schengenraum besitzen. Letztere können nur direkt aus der Ukraine nach Ungarn einreisen.

Die Weiterreise ukrainischer Geflüchteter aus Ungarn in andere EU-Staaten ist in der Regel unproblematisch. Dies betrifft sowohl diejenigen, die mit dem eigenen Auto eingereist sind, als auch die Menschen, die mit dem Zug nach Ungarn gekommen sind. Letztere erhalten in Ungarn gegen Vorlage eines ukrainischen Passes ein kostenfreies Ticket für die Weiterreise und fahren normalerweise zunächst nach Budapest.

Regierung verbannt Hilfsangebote von Budapester Bahnhöfen

Doch anders als noch Anfang März existiert an den beiden Budapester Bahnhöfen nur noch eine rudimentäre Infrastruktur zur Versorgung und Information der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Am 21. März hatte die ungarische Regierung alle Unterstützungsaktivitäten an den Bahnhöfen untersagt. Seitdem werden diese zentralisiert in einer großen Halle in der Nähe eines Fußballstadions angeboten. Regierungskritische Organisationen haben keinen Zugang zu dieser Halle, weshalb nur wenige Informationen darüber nach außen dringen, was genau dort vor sich geht.

Ganz offensichtlich ist der ungarischen Regierung daran gelegen, Bilder wie im Sommer 2015 zu vermeiden, als Tausende Geflüchtete an der Weiterreise aus Ungarn gehindert wurden. Damals spielte sich vor dem Budapester Bahnhof Keleti eine humanitäre Katastrophe ab, die weltweit Beachtung fand. Zwar hätte diese Katastrophe damals sicherlich vermieden werden können, sie passte jedoch in das politische Kalkül der Orbán-Regierung, um die anderen EU-Staaten in der Flüchtlingsfrage unter Druck zu setzten. Nun ist die Regierungsstrategie offensichtlich eine andere, und die Regierung scheint vor allem daran interessiert zu sein, dass der Großteil der Geflüchteten aus der Ukraine schnell und lautlos weiterreist.

Nur wenige bleiben dauerhaft in Ungarn

Doch einige wollen auch in Ungarn bleiben, seit Beginn des Krieges bis Juli haben etwa 25.000 Ukrainer*innen den temporären Schutz in Ungarn beantragt. Dieser gilt zunächst bis März 2023. Zuständig ist die ungarische Migrationsbehörde, die auch Asylanträge prüft und vor einigen Jahren in den Polizeiapparat integriert wurde. Es reicht in der Regel, einen Antrag auszufüllen, ein Interview findet nicht statt. Über den Antrag soll innerhalb von 55 Tagen entschieden werden.

Auch Ukrainer*innen, die keinen biometrischen Reisepass haben und daher zunächst eine »temporary residence permit« bekommen, können einen Antrag stellen. Dies gilt darüber hinaus für in der Ukraine anerkannte Flüchtlinge und Familienangehörige von in Ungarn als schutzberechtigt anerkannten Personen. Explizit von der Antragstellung ausgeschlossen sind jedoch Drittstaatenangehörige, die sich vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine aufgehalten haben – wie zum Beispiel die internationalen Studierenden.

Rom*nja werden oft schlechter behandelt

Es ist davon auszugehen, dass sich tatsächlich mehr Geflüchtete aus der Ukraine in Ungarn aufhalten als bisher Anträge gestellt wurden. Zum einen, weil in der an Ungarn grenzenden Region Transkarpartien viele Menschen die ukrainische und die ungarische Staatsbürgerschaft besitzen und deswegen sowieso ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Ungarn haben. Zum anderen scheint es so zu sein, dass viele Ukrainer*innen, die sich in Ungarn aufhalten, bisher noch keinen Antrag gestellt haben.

Zsolt Szekeres vom ungarischen Helsinki Komitee, dessen Mitarbeiter*innen in den vergangenen Monaten viele Unterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine besucht haben, kritisiert, dass viele Geflüchtete bisher schlichtweg nicht darüber informiert wurden, wie und wo sie einen Antrag stellen können. Weiterhin berichtet er davon, dass Rom*nja oft separiert von anderen ukrainischen Geflüchteten unter deutlich schlechteren Bedingungen untergebracht sind.

Kaum Informationen über Sammelunterkünfte

Die Unterkünfte werden sowohl von großen ungarischen Wohlfahrtsorganisationen als auch von der Stadt Budapest, dem Innenministerium und der »Nationalen Generaldirektion für Katastrophenmanagement« betrieben. Letztere ist auch befugt, Gebäude zu beschlagnahmen. Ein Anspruch auf Unterbringung besteht für alle geflüchteten Ukrainer*innen, auch nach Zuerkennung des temporären Schutzes. Darüber hinaus haben auch Inhaber*innen der »temporary residence permit« – und damit auch Drittstaatenangehörige, die vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine gelebt haben – und  Geflüchtete mit ungarischer Staatsangehörigkeit ein Recht auf Unterbringung. Für jede untergebrachte Person bekommen die Betreiber der Unterkünfte elf Euro pro Tag vom ungarischen Staat erstattet, wobei dies in der Praxis nicht immer reibungslos zu funktionieren scheint.

Es sind keine genauen Informationen darüber verfügbar, wie viele Unterkünfte aktuell existieren und wie viele Menschen dort untergebracht sind. Dies liegt einerseits sicherlich an der Vielzahl der involvierten Akteure. Andererseits ist festzuhalten, dass der ungarische Staat nur spärlich Informationen zur Verfügung stellt. Diese Zurückhaltung mag ihre Ursache auch darin haben, dass Ministerpräsident Viktor Orbán vor einigen Monaten in einem Schreiben an die Europäische Kommission zusätzliche Gelder für die Versorgung der Geflüchteten forderte. Insofern dürfte die ungarische Regierung wenig Interesse an der Veröffentlichung von Zahlen haben, die belegen, dass sie tatsächlich nur einen Bruchteil der Geflüchteten versorgen muss, die über Ungarn in die EU eingereist sind.

Wenig Unterstützung für Geflüchtete

Neben dem Anspruch auf Unterbringung können erwachsene Ukrainer*innen, die den temporären Schutz erhalten haben, eine staatliche Zuwendung von 60 Euro monatlich beantragen. Minderjährige erhalten 35 Euro pro Monat. Der Zuschuss wird jedoch nur im Falle der Arbeitslosigkeit gewährt. Zudem verwirken Personen über 16 Jahren, die ein Jobangebot des Arbeitsamtes ablehnen, ihren Anspruch. Die monatlich ausgezahlten Leistungen liegen deutlich unter jenen in den anderen Nachbarstaaten der Ukraine, wo diese nicht vom Staat, sondern vom UNHCR finanziert beziehungsweise ausgezahlt werden.

Sowohl Antragsteller*innen als auch diejenigen, denen der temporäre Schutz gewährt wurde, haben uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang. Weiterhin haben sie eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsversorgung, wenn also etwa dringender Behandlungsbedarf besteht oder eine chronische Erkrankung wie Krebs behandelt werden muss. Überdies haben Minderjährige, denen der temporäre Schutz zugesprochen wurde, Zugang zu Kindergärten, Grundschulen und weiterführender Bildung.

Nur Stellwände bringen etwas Privatsphäre

Bei einem Besuch von drei Unterkünften in Budapest, Gödöllő und Tatabánya Mitte Juni stellte sich heraus, dass die Lebensumstände ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Ungarn alles andere als leicht sind. Zwar dürfen fremde Organisationen die Unterkünfte nicht betreten, zahlreiche  Bewohner*innen berichteten aber mit Hilfe einer Übersetzerin von ihrem Leben in den Unterkünften.

In der Unterkunft in Budapest leben die Geflüchteten auf zwei separierten Etagen einer riesigen Obdachlosenunterkunft am Stadtrand. In jedem Zimmer sind 20 bis 25 Menschen untergebracht, wobei lediglich Stellwände für etwas Privatsphäre sorgen.

Kein Geld für Lebensmittel

In einer ehemaligen Schule in Tatabánya sind sechs bis acht Leute in einem Raum untergebracht. Eine Bewohnerin berichtete, dass sie mit ihrem Kind zusammen mit einem anderen Ehepaar mit vier Kindern in einem Raum lebt. Und dies, obwohl in der Unterkunft noch freie Zimmer verfügbar seien. Vor allem die Anwesenheit des fremden Mannes in ihrem Zimmer empfindet sie als problematisch. Weiterhin berichtete sie davon, dass nur das Mittagessen angeliefert wird. Es steht zwar eine Gemeinschaftsküche zur Verfügung, sie hat bisher jedoch kein Geld erhalten, um Lebensmittel zu kaufen. Auch Hygieneprodukte werden kaum zur Verfügung gestellt, weshalb sie die Decken mit Shampoo waschen muss.

In Gödöllő thematisierten die befragten Geflüchteten vor allem, dass ihnen mitgeteilt wurde, dass sie am kommenden Tag verlegt werden sollen – aber nicht, wohin. Zudem wurde kritisiert, dass die Kinder nicht zur Schule gehen und sich mehrere Kinder ein Bett teilen müssen.

Faktische Abschaffung des Asylrechts

Es bleibt abzuwarten, wie viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine trotz der schwierigen Lebensumstände tatsächlich dauerhaft in Ungarn bleiben werden. Bisher ist Ungarn vor allem als Transitland von Bedeutung. Und die ungarische Regierung tut – auch im Vergleich zu den Nachbarstaaten – relativ wenig dafür, akzeptable Lebensbedingungen zu schaffen. Die aggressive Anti-Flüchtlingspolitik, die von der ungarischen Regierung seit Jahren betrieben wird, hat ganz offensichtlich ihre Spuren hinterlassen. Dabei sollte jedoch nicht aus dem Blick geraten, dass die Behandlung der Geflüchteten aus der Ukraine immer noch wesentlich besser ist als die der Geflüchteten, die versuchen, über die Balkanroute nach Ungarn zu gelangen.

Seit 2015 hat die ungarische Regierung das Asylrecht immer weiter verschärft. Spätestens seit Mai 2020 ist es faktisch so gut wie unmöglich, in Ungarn einen Asylantrag zu stellen. Denn seitdem muss, wer einen Asylantrag in Ungarn stellen will, zunächst die Einreise nach Ungarn in den ungarischen Botschaften in Belgrad oder Kiew beantragen. Von Mai 2020 bis Ende 2021 wurde eine derartige Einreisegenehmigung in gerade einmal zwölf Fällen erteilt.

20.000 Pushbacks binnen der ersten 3 Monate in 2022

Trotz Verurteilungen hält Ungarn an Pushbacks fest

Bereits zuvor verabschiedete Gesetzesverschärfungen hatten dazu geführt, dass seit 2015 Tausende Geflüchtete über Monate hinweg in sogenannten »Transitzonen« an der Grenze zu Serbien inhaftiert wurden oder im Zuge von Pushbacks nach Serbien abgeschoben wurden.

Obwohl dies in mehreren Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für rechtswidrig erklärt wurde, hält die ungarische Regierung an den Pushbacks nach wie vor fest und veröffentlicht diesbezüglich sogar exakte Zahlen. Allein in den ersten drei Monaten in 2022 fanden fast 20.000 Pushbacks statt. Diverse Organisationen, darunter auch PRO ASYL, berichten seit Jahren davon, dass diese Rückführungen oft mit massiver Gewaltanwendung einhergehen. Prügel, Hundebisse und der massive Einsatz von Tränengas sind trauriger Alltag an der serbisch-ungarischen Grenze.

Groteskes System: Ukrainer hätten Genehmigung für Einreise gebraucht

Die faktische Abschaffung des Asylrechts wurde während des Ukraine-Krieges nur deswegen nicht zu einem gravierenden Problem, weil ukrainische Staatsangehörige ohne Visum in die EU einreisen dürfen und eine Schutzgewährung jenseits des Asylverfahrens ermöglicht wurde. Wie grotesk das gegenwärtige ungarische Asylsystem ist, zeigt sich daran, dass sich ukrainische Kriegsflüchtlinge andernfalls zunächst die Einreise bei der ungarischen Botschaft in Kiew hätten genehmigen lassen müssen.

Zu fordern ist also nicht nur, dass Ungarn die Lebensbedingungen und Integrationsperspektiven ukrainischer Geflüchteter verbessert, sondern auch, dass sich Ungarn endlich an seine menschenrechtlichen Verpflichtungen hält und wieder ein Asylverfahren einführt, das auch zugänglich ist.

Marc Speer (bordermonitoring.eu)
Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von ukrainischen Geflüchteten in den Nachbarstaaten der Ukraine.