03.03.2022 Die MAHNWACHE FÜR MENSCHENRECHTE der Lokalgruppe Bonn der Seebrücke am 2. März war der aktuellen Situation der Menschen in der Ukraine gewidmet, die infolge des kriegerischen Angriffs durch russische Militärs und Bombardierungen jetzt in vieltausendfacher Fluchtbewegung das Land verlassen. Dabei appellierten die Aktivist*innen nachdrücklich, die beachtliche Soliarität auch gegenüber anderen Schutzsuchenden zu zeigen.
Wir dokumentieren hier die Reden von Monika: Flucht aus der Ukraine und ein Aber und von Anne und Rainer: Keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse!
Auch das Totengedenken zum Abschluss der Mahnwache galt an diesem Abend Schutzsuchenden, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet wenige Monate zuvor ums Leben kamen: Ihr seid nicht vergessen! Ebenso wurde der noch ungezählten Todesopfer dieses Krieges gedacht.
1. Flucht aus der Ukraine
Uns allen sitzt der Schock über den Angriff auf die Ukraine noch in den Gliedern. Es wurden Gewissheiten zerbrochen und Wunden aufgerissen. Wir fragen uns, wo das enden wird und sind uns darin einig, dass der Krieg enden soll - so schnell nur irgend möglich.
Wir möchten hier aber nicht die eigene Betroffenheit ausdrücken, sondern die Gedanken auf die Menschen in der Ukraine richten und auf alle, die gewaltsam in diesen Krieg hineingezogen wurden und werden.
Bereits unmittelbar nach Beginn der Angriff auf die Ukraine meldeten Medien, dass sich viele Tausend Menschen auf den Weg in die Nachbarländer machten. Erfreulicherweise machten Ungarn, Polen, die Slowakei und Rumänien ebenso schnell deutlich, dass sie bereit sind, flüchtende Menschen einreisen zu lassen und auch, ggf. in entsprechenden Notunterkünften, unterzubringen.
Ukrainer und Ukrainerinnen sind unter anderem in der EU und der Schweiz von der Visumspflicht befreit. Auch in Bezug auf den erforderlichen biometrischen Pass sendete die EU bzw. die Bundesregierung schnell Signale, dass hier Sonderregelungen gelten sollen. Das ist gut so und soll so bleiben:
So fordern wir mit der Seebrücke und Pro Asyl:
—> Die Grenzen für Schutzsuchende müssen offen bleiben, visafreie Einreise für Menschen aus der Ukraine in die EU muss beibehalten werden.
—> ein eigentlich erforderlicher biometrischer Pass darf jetzt und in Zukunft nicht zur Hürde für Schutzsuchende werden. Ca. 3 Mio Ukrainer verfügen nicht über einen solchen Pass und es ist notwendig, dass, wie es zum Beispiel der Grünenabgeordnete Pahlke sagte, hier eine „schnelle und unbürokratische Lösung geben“* wird.
Die von den angrenzenden Ländern eingeräumten möglichen Aufnahmezahlen lagen zum Teil deutlich über den Kapazitäten, die Hilfsorganisationen als realistisch einschätzten. Die Solidarität insbesondere der angrenzenden Länder war und ist also wirklich überaus hoch. Das ist gut, es ist eine der wirklich wenigen guten Nachrichten in diesen Tagen. Das möchte ich hier erst einmal kurz stehen lassen, bevor - leider - ein Aber folgt.
Das Aber schließt ein, dass wie u.a. die TAZ berichtete, Menschen etwa aus nordafrikanischen Ländern an der polnisch-ukrainischen Grenze von EU Grenzbeamten zurückgeschickt wurden.
—> Wir fordern daher wie Pro Asyl, dass die Grenzen der östlichen EU-Staaten auch für Transitflüchtlinge geöffnet werden und offen bleiben, die bereits vor anderen Konflikten in die Ukraine geflohen sind. Fluchtwege müssen für alle offen sein.
—> Das Aber schließt auch ein, dass wir in den vergangenen Monaten Zeug*innen von Menschenrechtsverletzungen und brutalen Zurückschiebungen Flüchtender an der polnisch-belarussischen Grenze wurden. Mindestens 21 Menschen sind im vergangenen Jahr an der polnisch-belarussischen Grenze gestorben und Polen ließ keine humanitäre Hilfe zu. Auch und insbesondere Ungarn unter der Führung von Viktor Orban hat sich der
Aufnahme flüchtender Menschen in den vergangenen Jahren stets verweigert. Ich möchte hier die Forderung von Pro Asyl zitieren: „Polen hat in eklatanter Verletzung von Menschenrechten die Grenzen für Flüchtlinge dichtgemacht. Jetzt müssen die Grenzzäune zurückgebaut werden. Wenn es um Gefahren für Leib und Leben geht, müssen Menschen Grenzen überschreiten dürfen. Die osteuropäischen Staaten müssen zurückkehren zur Einhaltung von Menschenrechten, Völkerrecht und Europarecht.“
Und tatsächlich war kürzlich in einem Spiegel-Artikel die Hoffnung zu lesen, dass die nun signalisierte Aufnahmebereitschaft osteuropäischer Staaten für ukrainische Schutzsuchende ein Ansatzpunkt für die Neudefinition europäischer Migrationspolitik sein könnte. Darauf müssen wir hartnäckig beharren.
Zu dem Aber gesellt sich noch ein Und: Auch Deutschland soll sich an der Aufnahme von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, beteiligen. Bund und Länder haben hier Signale gesendet, aber es wurde auch viel auf die gemeinsame Europäische Verpflichtung verwiesen. Etwa vom Geschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebund Gerd Landsberg, aber auch von Außenministerin Baerbock. Diese hat kürzlich während eines Treffens mit dem slowenischen Außenminister den Nachbarländern der Ukraine zugesichert, dass auch Deutschland mit Hilfe bereitstehe. Jedoch sagte sie auch, es gehe darum, den fliehenden Menschen direkt an der Grenze zu
helfen und sie dann weiter "in alle europäischen Länder" zu bringen.
Wir meinen: Viele Fliehende werden in Deutschland Verwandte haben und es soll ermöglicht werden, Familien und sich nahe stehende Menschen in dieser schweren Zeit zusammenzubringen. Für den wahrscheinlichen Fall, dass ein Großteil Schutzsuchender zumindest zunächst in den osteuropäischen Staaten verbleiben wird, kann es auch eine
wichtige Rolle Deutschlands sein, die Türen für Schutzsuchenden aus andern Gebieten dieser Erde zu öffnen.
Die Solidarität, die dieser Tage mit den Menschen in der Ukraine und mit allen auf beiden Seiten unter diesem Krieg leidenden Menschen, zu sehen, zu hören und zu spüren ist, ist ein Lichtblick, sie ist gut und richtig und eine menschliche Reaktion auf den Schrecken und die Not, die mit Krieg einhergeht.
Diese Wahrnehmung ist nicht neu. Wir haben die riesige Hilfsbereitschaft von gemeinnützigen Organisationen, Bürgerinnen und Bürgern gegenüber Menschen, die vor dem Krieg und vor Verfolgung in Syrien flohen, erlebt.
Wir haben erst vor wenigen Monaten eine große Welle der Solidarität mit den Menschen in Afghanistan erlebt und auch die Entrüstung darüber, dass so viele Menschen im Stich gelassen wurden.
Die Berichterstattung in den Medien war jedes Mal umfassend und international wahrnehmbar.
Und doch haben die Entrüstung, Anteilnahme und Solidarität immer wieder nachgelassen. Das ist sicher auch menschlich - es geschehen die nächsten Unglücke, es drohen die nächsten Katastrophen, es kam eine Pandemie - die übrigens auch in den ersten Monatenzu großen Solidaritätsbekundungen führte, inzwischen aber sogar Familien oder Freundschaften spalten kann.
Ich frage daher mich immer wieder, wie die anfängliche Gewissheit, die vielzitierte uneingeschränkte Solidarität sich mitunter in Zweifel, Gleichgültigkeit oder sogar Scham verwandeln kann.
Die Schnelllebigkeit und Vielfalt der Ereignisse ist es meines Erachtens nicht allein. Die Wellen der Solidarität in der Bevölkerung wurden auch von verantwortlichen Stellen ausgesessen, von anders Denkenden gezielt und nachhaltig angegriffen und in den Medien leider oft sehr schnell relativiert und zynisch hinterfragt.
Manchmal scheint es fast so, als wären wir angreifbar, durch die Angst naiv zu sein. Wer auch immer die Bezeichnung „Gutmensch“ als abwertendes Label ins Spiel gebracht hat, wird genau darauf gebaut haben. Und darauf, dass Kritik und Verhöhnung von Solidarität zur Vereinzelung führen und die Stärke der Gemeinschaft brechen.
Das sollten wir nicht zulassen.
Genau deshalb fand vergangenen Samstag eine Kundgebung mit dem Namen Don’t forget Afghanistan auf dem Münsterplatz statt und deshalb werden wir auch weiterhin jeden 1. und 3. Mittwoch hier unsere Mahnwache für Menschenrechte abhalten. Die Solidarität mit den Menschen, die unter dem Krieg in der Ukraine leiden, ist momentan
sehr groß und wir hoffen, dass es uns dieses Mal gelingt, sie zu erhalten.
(Monika)
2. Keine Flüchtlinge erster und zweiter Klasse!
Seit Beginn des Krieges in der Ukraine vor 6 Tagen sind mehr als 500.000 Menschen auf der Flucht, um den Kampfhandlungen zu entkommen. Laut UNHCR von Montag dieser Woche hätten schon 281.000 Menschen Polen erreicht, mehr als 84.500 Ungarn, etwa 36.400 Moldau, 32.500 Rumänien und 30.000 die Slowakei – und diese Zahlen sind in den letzten beiden Tagen weiter gestiegen!
Die EU will unbegrenzt Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen. Auch Polen öffnet die Grenzen, ein Großteil der Flüchtenden kommt dort an, viele mit der Absicht, erstmal zu bleiben. Die polnische Regierung sagt allen Menschen aus der Ukraine zu, dass sie hereingelassen werden und bleiben dürfen. Auch die Zivilbevölkerung wird zur Mithilfe aufgerufen und viele Menschen bringen Spenden an die Grenze, bieten Wohnraum und Transportmöglichkeiten.
All dies ist richtig und gut so. Die große Welle an Solidarität gegenüber Vertriebenen aus der Ukraine ist bemerkenswert. Dennoch kommen wir nicht umhin, den großen Kontrast im Umgang mit Flüchtenden aus anderen
Herkunftsländern zu bemerken. Noch vor wenigen Monaten wurde an der polnisch – belarussischen Grenze eine Sperrzone eingerichtet und 10.000 Soldaten in das Gebiet entsandt. Ein fünfeinhalb Meter hoher Stahlzaun, ausgestattet mit Bewegungsmeldern und Wärmebildkameras ist noch in der Bauphase. Aus Grenzschutzfahrzeugen erklingen Lautsprecherdurchsagen in verschiedenen Sprachen: „Die polnische Grenze ist geschlossen. Dies ist das Ende ihrer Reise... Gehen Sie zurück nach Minsk. Von dort werden Sie nach Hause gebracht..“. Das ganze Projekt soll 350 Millionen Euro kosten. Eine Summe, die auch in ein Aufnahme- und Asylsystem hätte investiert werden können.
Woher kommen diese dramatischen Unterschiede im Umgang mit Menschen, die alle ihre Heimat hinter sich lassen mussten, weil sie dort nicht mehr sicher waren, die sich alle einen sicheren Ankunftsort und ein Leben in Frieden und Würde wünschen?
Warum werden die einen voller Mitgefühl willkommen geheißen, während die anderen durch eine militarisierte Grenze abgeschreckt werden sollen, und in der Kälte des Winters zwischen zwei Ländern ausharren müssen?
Die Sprecherin der Hilfsorganisation Ocalenie, die sich für Migrant*innen an der belarussischen Grenze einsetzt, und nun auch den Ukrainer*innen hilft, sagt dazu folgendes: „Zur Ukraine fühlen die Polen eine enge Verbundenheit, außerdem ist dieser Krieg nicht weit weg, sondern direkt an unserer Grenze. Aber leider hat der unterschiedliche Umgang auch mit rassistischen Vorurteilen zu tun.“ Ukrainerinnen und Ukrainern wurden in den letzten Tagen wiederholt von europäischen Politikern als im Verhältnis zu anderen Flüchtenden höher qualifiziert, gebildet und „gesünder“ beschrieben.
Viele Stimmen äußern sich schockiert, dass es zu einem Krieg in einem „zivilisierten“ Land gekommen ist.
Der Rassismus, der hinter solchen Aussagen steht, trifft auch nicht weiße Menschen/PoC, die jetzt aus der Ukraine fliehen. Dazu gehören zahlreiche Student*innen aus afrikanischen Ländern, die sich in der Ukraine aufhalten. Viele von ihnen berichten von Rassismus-Erfahrungen an Grenzübergängen. In den Sozialen Netzwerken finden sich Videos, wie schwarzen Menschen der Zugang zu Fahrzeugen, die Menschen aus der Ukraine über die Grenze bringen sollen, verwehrt wird. Auch gibt es Berichte von Zurückweisungen an der polnischen Grenze. Einige sprechen von den Grenzbeamten ausgehender Gewalt.
Zwei Beispiele für diese Diskriminierungen: 1.Eine Gruppe nigerianischer Studenten war, nachdem sie mehrfach an der polnischen Grenze abgewiesen wurden, gezwungen, sich erneut auf den Weg zu machen, in der Hoffnung über Ungarn das Land verlassen zu können. 2. Um Bürger*innen seines Landes das Passieren der Grenze gewährleisten zu können, musste sich der südafrikanische Botschafter persönlich zum Grenzübergang begeben.
Die afrikanische Union rief aufgrund der Ereignisse zur Wahrung der UN-Konventionen auf, demnach jeder Mensch auf der Flucht vor Krieg das gleiche Recht auf das sichere Überqueren von Grenzen hat. Die Farbe des Passes oder der Haut dürften hierbei keinen Unterschied machen. Treffend formulierte es auch der Leiter der Europa Abteilung von ProAsyl: Die Bomben machen keinen Unterschied, was Staatsangehörigkeit oder Hautfarbe betrifft, und genauso wenig darf an den Grenzen ein solcher Unterschied gemacht werden!
Deshalb fordern wir zusammen mit ProAsyl:
1. Die leidtragende Zivilbevölkerung flieht in die direkten Nachbarstaaten. Wir fordern deshalb alle östlichen EU-Staaten – Polen, Ungarn, Rumänien und Slowakei – auf, die Grenzen weiter fürFlüchtlinge offenzuhalten. Das muss auch für die Ta u s e n d e n Transitflüchtlinge gelten, die bereits vor anderen Konflikten in die Ukraine geflohen sind. Darunter sind Menschen aus Syrien,Afghanistan, Tschetschenien und Somalia. Die Fluchtwege müssen für alle offen sein. Polen hat in eklatanter Verletzung von Menschenrechten die Grenzen für Flüchtlinge dichtgemacht. Jetzt müssen die Grenzzäune zurückgebaut werden. Wenn es um Gefahren für Leib und Leben geht, müssen Menschen Grenzen überschreiten dürfen. Die osteuropäischen Staaten müssen zurückkehren zur Einhaltung von Menschenrechten, Völkerrecht und Europarecht.
2. Deutschland und die anderen Staaten müssen sich auf das Ankommen einstellen. Auch Deutschland muss sich aktiv an der Aufnahme von Flüchtlingen beteiligen.
3. Zudem muss eine schnelle und unbürokratische Hilfe für Geflüchtete sichergestellt werden. Wo Menschen auf ihrer Flucht stranden, benötigen sie humanitäre Unterstützung: Nahrungsmittel, Unterkünfte, medizinische Versorgung.
4. Die Europäische Union muss einen europäischen Solidarmechanismus installieren, der die Interessen der Schutzsuchenden ins Zentrum rückt. Dazu gehört auch, dass die Schutzsuchenden die Möglichkeit bekommen müssen, zu Familienmitgliedern oder Mitgliedern ihrer Community zu gelangen.
(Anne/Rainer)
3. Ihr seid nicht vergessen!
Das Gedenken gilt den Toten in der Ukraine und den Toten an der polnischen Außengrenze. Namentlich der Todesfälle von Mitte September bis Mitte November 2021:
19.9.2021 - Zwei irakische Geflüchtete,nahe Zubry, wahrscheinlich erfroren: Ahmed Hamid, 29 Jahre aus dem Irak, nahe Dworcysko, eine Frau aus dem Irak, auf belarussischer Seite.
23.9. - Ein Mann aus dem Irak soll an Herzinfarkt gestorben sein, nahe Nowy Dwor, Sokolski, Polen
14.10. - Ein Mann aus Syrien, 24 Jahre, nahe Klimowka
19.10. - Ahmed al-Hasan aus Syrien, ertrunken im Fluss Bug nahe Woroblin
22.10. - Keine näheren Angaben, nahe Kuscince
29.10. - Gylan Diler Ismail, 25 Jahre, Kurde aus dem Irak, Diabetiker, soll durch fehlende Medikamente nach Pushback gestorben sein, Fundort unklar
31.10. - Kurdo Khalid, 34 Jahre, Kurde aus dem Irak, soll an Hirnblutung gestorben sein, Fundort unklar
10.11. - Ein Kurde, 14 Jahre, nahe Kuznica ausf belarussischer Seite
12.11. Ein Syrer, 20 Jahre, nahe Wolka Terehowskavor
8.11. Ein einjähriges Kind, Syrien,Todesursache unklar. Die Familie war 1,5 Monate im Wald.
Quelle: TAZ vom 20./21. November