UNHCR in Libyen gibt EU Tipps zur "Verhinderung gefährlicher Reisen" und regt Verstärkung repressiver Maßnahmen an

15.03.2023 Bei der Oscar-Verleihung trugen zahlreiche Filmstars demonstrativ eine blaue Schleife an der Abendgarderobe. Damit unterstützten sie die Kampagne #WithRefugees des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR.

"Das Tragen der blauen #WithRefugees-Schleife auf dem roten Teppich sendet die kraftvolle visuelle Botschaft, dass jede:r das Recht hat, Sicherheit zu suchen - wer auch immer, wo auch immer, wann auch immer er oder sie sich wo befindet", schrieb das UNHCR in einer Presseerklärung.

Am selben Tag lese ich: "Seenotretter und Geflüchtete kritisieren, das UNHCR unterstütze die Abschottungspolitik der EU. Deren Grenzbehörde weiß, wo Menschen in Not sind, hilft aber nicht." (nd, 13.03.2023)

Hintergrund und Anlass für die Kritik u. a. von SEAWATCH ist eine Präsentation des UNHCR in Libyen: "Darin werden die EU-Mitgliedstaaten mit Informationen zur »Verhinderung gefährlicher Reisen« aus Libyen versorgt. Zugleich wird in dem Papier eine Verstärkung repressiver Maßnahmen angeregt. Um Menschenhandel und -schmuggel zu bekämpfen, solle etwa die Grenzagentur Frontex mehr Daten »mit relevanten Ländern in Afrika« teilen. Europäische Behörden müssten gemeinsame Ermittlungen »unter Einbeziehung libyscher Behörden« durchführen, heißt es weiter."

Im Folgenden der Beitrag von Mathias Monroy und ein weiterer über Frontex Frontex: Schutz der Festung Europa statt Leben, der ebenfalls am 13.03.2023 im nd erschien.

 

Erfolgreiche Überfahrt in die EU: Frage des Geldes

UN-Flüchtlingskommissar gibt EU-Staaten Tipps zur »Verhinderung gefährlicher Reisen« aus Libyen

von Matthias Monroy

Eigentlich ist es Aufgabe des Hohe Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sicherzustellen, dass Schutzsuchende ihr Recht auf Asyl durchsetzen und eine sichere Zuflucht finden, nachdem sie vor Gewalt, Verfolgung, Krieg oder Katastrophen fliehen mussten. In Libyen scheint die Organisation dieses Ziel aber aus den Augen zu verlieren.

Dieser Eindruck entsteht bei der Lektüre einer Präsentation des UNHCR. Darin werden die EU-Mitgliedstaaten mit Informationen zur »Verhinderung gefährlicher Reisen« aus Libyen versorgt. Zugleich wird in dem Papier eine Verstärkung repressiver Maßnahmen angeregt. Um Menschenhandel und -schmuggel zu bekämpfen, solle etwa die Grenzagentur Frontex mehr Daten »mit relevanten Ländern in Afrika« teilen. Europäische Behörden müssten gemeinsame Ermittlungen »unter Einbeziehung libyscher Behörden« durchführen, heißt es weiter.

Das Dokument hat die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch online gestellt. Als mutmaßlichen Autor nennt sie den UNHCR-Sonderbeauftragten für die Mittelmeerregion, Vincent Cochetel. Die Präsentation fand demnach am 13. Januar in der Arbeitsgruppe zum »Mechanismus der operativen Koordinierung für die externe Dimension der Migration« (Mocadem) der EU-Mitgliedsstaaten statt. Sie wurde zur gemeinsamen Steuerung der EU-Migrationspolitik in Ländern von »besonderem Interesse« eingerichtet. Zu diesen Ländern gehören Libyen, Ägypten, Tunesien und Niger. Seit ihrer Gründung vor zwei Jahren gibt Mocadem regelmäßig Dossiers heraus. Diesen Papieren, die ebenfalls von Statewatch veröffentlicht werden, ist zu entnehmen: Wenn die afrikanischen Regierungen bei der EU-Migrationskontrolle helfen, erhalten sie dafür viele Millionen Euro und mit etwas Verhandlungsgeschick günstigere Bedingungen bei der Visavergabe oder für die Arbeitsmigration.

Die Zahlen, die das UNHCR in der EU-Sitzung präsentierte, haben es in sich. Demnach gab es im vergangenen Jahr 78 676 Seeabfahrten von Libyen aus, eine Steigerung von rund 13 Prozent gegenüber 2021. Mit 53 173 Bootsinsassen haben es viele Menschen nach Italien geschafft, einige Hundert auch nach Malta. Etwa ein Drittel der Boote wurde der Zählung zufolge von der libyschen Küstenwache abgefangen, was einem Rückgang von 23,5 Prozent entspricht.

Die meisten Geflüchteten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, stammen derzeit aus Bangladesch, Ägypten und Syrien. Die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Überfahrt liegt laut dem UNHCR bei im Schnitt 67 Prozent. Ob es die Menschen schaffen, ist dabei auch eine Frage des Geldes, heißt es in dem UNHCR-Dokument: 83,5 Prozent der Menschen aus Bangladesch erreichen demnach Italien oder Malta, für Personen aus Mali liegt die Quote hingegen nur bei 43 Prozent. Das UNHCR bezeichnet dies als »Schutz, den man sich leisten kann«.

Die Präsentation bestätigt indes Beobachtungen, die auch schon von Seenotrettungsorganisationen zu hören waren: In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 nahmen die Abfahrten großer Gruppen aus Ostlibyen deutlich zu. Der Landesteil steht nicht unter der Kontrolle der Regierung.

Und noch eine Statistik lässt aufhorchen: Laut UNHCR ist die Zahl der Toten im Mittelmeer 2021 gegenüber 2021 um 200 auf 1358 zurückgegangen, obwohl es mehr Abfahrten gab. Die Angaben unterscheiden sich von denen der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die für 2022 von 1417 Toten im zentralen und über 2400 Toten im Mittelmeer insgesamt spricht. Darauf machte ein Sprecher der zivilen Rettungsorganisation Sea-Watch gegenüber dem »nd« aufmerksam. Er betonte, dass auch gegenüber der IOM-Statistik die Dunkelziffer der unentdeckten Überfahrten und damit der unbekannten Todesfälle noch hoch sein dürfte.

"Durch die finanzielle Abhängigkeit von den Geldern der Staaten ist das UNHCR Teil eines neokolonialen Polizeisystems geworden." Gruppe Solidarity with Refugees in Libya

Sea-Watch kritisiert das UNHCR grundsätzlich. »Statt Fürsprecherin für Flüchtende zu sein, beobachten wir vielmehr öffentliches Schweigen in Bezug auf staatliche Abschottungspolitik und ihre Folgen«, erklärte die Organisation. Das UNHCR müsse sich auch mit Geflüchteten in Libyen solidarisieren. Tausende von ihnen hatten vor einem Jahr vor dem Sitz des UNHCR in Tripolis campiert, um gegen die menschenrechtswidrige Behandlung in libyschen Lagern zu protestieren. Viele wurden verhaftet.

Auch die Strukturen der Geflüchteten selbst und ihre Unterstützer kritisieren das UN-Hochkommissariat. Es neige dazu, »für oder über Menschen auf der Flucht zu sprechen, anstatt deren Stimmen zu verstärken«, moniert die Gruppe Solidarity with Refugees in Libya gegenüber »nd«. »Anstatt zuzuhören, kritisiert das UNHCR die Proteste der Flüchtlinge und schweigt angesichts der brutalen Vertreibungen und Inhaftierungen, die für viele bis heute andauern«. Ein Grund dafür liege in der finanziellen Abhängigkeit des UNHCR von westlichen Staaten, vermutet Solidarity with Refugees in Libya. Dadurch werde das UNHCR »Teil eines neokolonialen Polizeisystems zur Steuerung von Migration«. Dies gelte auch für das Büro in Libyen.

Dass man in Tripolis die Rolle als Unterstützer der Belange von Schutzsuchenden nicht ausfüllt, ist dem UNHCR offenbar bewusst. Man sei »für das, was was wir tun, und was wir nicht tun«, einer immer stärkeren Kritik der »von Flüchtlingen und Migranten geleiteten Organisationen« sowie Nichtregierungsorganisationen ausgesetzt, heißt es in der Präsentation. Diesen »erhöhten Reputationsrisiken« will das Büro jedoch nicht mit einer besseren Politik für Geflüchtete begegnen, sondern mit einer »besseren Abstimmung unserer jeweiligen Kommunikationsstrategien«.

 

Frontex: Schutz der Festung Europa statt Leben

Obwohl die EU-Grenzagentur Flugzeuge, Drohnen und Satelliten im Einsatz hat, ertrinken weiter Menschen im Mittelmeer

von Matthias Monroy

Vor zwei Wochen ertranken 72 Menschen, unter ihnen 28 Kinder, vor der Küste der süditalienischen Kleinstadt Crotone im Mittelmeer. Insgesamt rund 200 Menschen hatten sich mit einem Boot von der Türkei nach Europa aufgemacht und wurden von rauher See überrascht. Bereits im Ionischen Meer zwischen Griechenland und Italien Stiefelspitze waren sie von Frontex geortet. Ausweislich einer Meldung der EU-Grenzagentur erfolgte dies über das Aufspüren eines Satellitentelefons an Bord des Bootes. Diese Form der elektronischen Aufklärung wurde in den vergangenen Jahrzehnten vorwiegend von Militär und Geheimdiensten genutzt. Heute ist sie laut dem Rüstungskonzern Airbus auch in Drohnen von Frontex eingebaut.

Neue Miniatursatelliten und das Unternehmen SpaceX von Elon Musk machen es möglich, Telefone aus dem Weltall zu orten. Unter dem Titel »Erkennung von Satellitenfunk-Sendern für die maritime Situationsanalyse« hat Frontex dazu 2019 einen Rahmenvertrag mit HawkEye 360 abgeschlossen. Die US-Firma ist auf die sogenannte raumbezogene Aufklärung spezialisiert. Als einer der ersten kommerziellen Anbieter hat sie eine Serie Kleinsatelliten ins All gebracht, mit der die gesamte Erdoberfläche auf Hochfrequenzsignale abgetastet werden kann. Das Mittelmeer ist eine der ersten Regionen, in denen die Technologie zum Einsatz kam; Frontex gehörte zu den ersten Kunden des Dienstes.

Nach der ersten Peilung des Unglücksbootes von Crotone schickte Frontex das Flugzeug »Eagle1« zu dessen weiterer Verfolgung los. Früher war die Behörde darauf angewiesen, dass Mitgliedstaaten Kapazitäten zur Luftüberwachung beisteuern. Seit 2017 hat Frontex selbst einen »Überwachungsflugdienst« aufgebaut und seitdem über 200 Millionen Euro für gecharterte Flugzeuge ausgegeben. Derzeit hat die Grenzagentur außerdem eine große Militärdrohne in Malta und eine weitere auf Kreta stationiert.

Die Bilder des Flugdienstes speist Frontex in das europaweite Überwachungssystem Eurosur ein. Darin erstellt die Behörde regelmäßige Lagebilder des »Grenzvorbereichs« der Europäischen Union. Auch die nationalen Eurosur-Kontaktstellen, etwa in Malta und Italien, erhalten diese Informationen. Dafür entsenden die Staaten jeweils eigene Mitarbeiter in ein Lagezentrum von Frontex in Warschau. Auch im Falle des vor Crotone gesunkenen Bootes waren italienische Behörden mit Hilfe der Frontex-Aufklärung in Echtzeit über dessen Zustand informiert. Berichten zufolge hatten sowohl die italienische Küstenwache als auch die Guardia di Finanza einen Beamten dazu in ein »Frontex Situation Centre« nach Warschau abgeordnet.

Für Eurosur werden auch im Weltall aufgenommene Bilder genutzt. Seit 2014 beobachtet Frontex die Außengrenzen mit optischen und radarbasierten Satelliten aus dem EU-Programm »Copernicus«. Jetzt will die Grenzbehörde diese hochfliegende »Überwachungsfähigkeit« mit Plattformen in der Stratosphäre ausweiten. In 20 Kilometern Höhe sollen sie die Lücke zwischen den bereits genutzten Flugzeugen, Drohnen und Satelliten schließen.

Indes steht Frontex vor dem Problem, wie die vielen Daten und Ereignismeldungen sinnvoll verarbeiten werden können. Hierzu nutzt die Agentur unter anderem Anwendungen der israelischen Firma Windward, die auf »maritime Analyse« spezialisiert ist. Sie erhielt von Frontex bereits Aufträge über rund 2,7 Millionen Euro. Ihre Anwendungen führen die Eurosur-Aufklärung mit Positionsdaten von Schiffen, Angaben über Schiffseigentümer und Wetterinformationen zusammen.

Die Grenzüberwachung ist gleichwohl weiter eine vorwiegend nationale Angelegenheit. Die Mittelmeeranrainer verfügen hierfür über eigene Fähigkeiten zusätzlich zu denen von Frontex. Damit ist das Mittelmeer wohl eines der am besten überwachten Gewässer weltweit. Dass die vor Crotone Ertrunkenen nicht gerettet wurden, ist deshalb ein Skandal.