Verantwortungslose Abschiebungspraxis nach Nigeria: »Selbst Kinder und psychisch Erkrankte«

11.08.2023 Interview. Aus den News von Pro Asyl:

 

Rex Osa ist Aktivist und Gründer des Vereins Refugees4Refugees in Deutschland und des Migration Information Points in Nigeria. Im Interview mit PRO ASYL spricht er über Traumata und Gewalt bei Abschiebungen nach Nigeria, Unterstützung von Abgeschobenen und Erwartungen der Familien, denen die Rückkehrer*innen ausgesetzt sind.

Die Sicherheitslage in Nigeria ist sehr problematisch: Korruption benachteiligt große Teile der Bevölkerung und Menschen, die sich gegen die Eliten wenden, drohen Haft und sogar Ermordung. Viele Menschen versuchen, Nigeria zu verlassen, sogar unter Lebensgefahr. Wohin gehen sie?

Zunächst suchen viele innerhalb von Nigeria eine neue Perspektive. Ist das nicht erfolgreich, gehen viele in die Nachbarländer wie Togo oder Ghana. Finden sie auch dort keine Sicherheit, machen sich manche, die körperlich und finanziell dazu in der Lage sind, auf den Weg nach Nordafrika und schließlich auch nach Europa.

Wenn sie in Deutschland ankommen: Was sind die größten Herausforderungen für nigerianische Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen?

Das ist ein ganz großer Teil meiner Arbeit vor Ort in Nigeria: Aufklärung über die wirkliche Situation für Asylsuchende in Deutschland. Viele Nigerianer*innen glauben nur allzu gerne dem Europa-Bild, das  in die Welt transportiert wird, von einem friedlichen, sicheren, freien und wohlhabenden. Aber das ist eine Illusion. Wenn Menschen ihr Leben riskieren, in der Wüste, im Mittelmeer, in libyschen Gefängnissen und dann in Deutschland erkennen, dass ihre Vorstellung nichts mit der Realität zu tun hat, werden nicht wenige Menschen psychisch krank. Niemand, dem es gut geht, riskiert sein Leben auf einem Schlauchboot. Wir wollen, dass sie aufgeklärt sind und wissen, auf was sie sich einlassen. Wir können sie auf den Realitätsschock vorbereiten.

»Es ist ein Teufelskreis: Du riskierst dein Leben, wirst zum Beispiel gefoltert und vergewaltigt in Libyen, geschlagen und bedroht in Tunesien, hast Todesangst auf dem Mittelmeer, siehst Kinder ertrinken und endest am Ende deiner Reise im Lager in Deutschland, fernab vom gesellschaftlichem Leben.«  Rex Osa

Normalerweise fühlen sich Nigerianer*innen in Italien dann viel wohler als in Deutschland, aber sie finden dort keine Arbeit und gehen Richtung Norden weiter. Deutschland bedeutet aber für viele Isolation, Arbeitsverbote, Leben im Lager. Das frustriert und macht krank. So gut wie alle Menschen aus Nigeria in Deutschland wollen eigentlich arbeiten. Es ist ein Teufelskreis: Du riskierst dein Leben, wirst zum Beispiel gefoltert und vergewaltigt in Libyen, geschlagen und bedroht in Tunesien, hast Todesangst auf dem Mittelmeer, siehst Kinder ertrinken und endest am Ende deiner Reise im Lager in Deutschland, fernab vom gesellschaftlichem Leben. Je schlimmer dein Fluchtweg war, desto wahrscheinlicher kehrst du nicht einfach zurück, auch wenn es furchtbar für dich in Deutschland ist. Denn dann wären alle Qualen völlig umsonst gewesen.

Die Schutzquote für Menschen aus Nigeria beträgt nur zwölf Prozent. Somit droht vielen die Abschiebung. 

Ja, die absolute Katastrophe ist dann die Abschiebung. Häufig werden Menschen, auch psychisch Erkrankte und Familien mit kleinen Kindern oder Jugendlichen, nach vielen Jahren Leben in Deutschland abgeschoben. Das Problem ist, dass du in Nigeria stigmatisiert bist, wenn du abgeschoben wirst. Nicht selten wollen Familie und Freund*innen dann nichts mehr mit dir zu tun haben. Viele kehren nach der Abschiebung in ihre Dörfer zurück, werden dort komplett isoliert, werden krank und sterben einfach. Allein. Je länger du in Deutschland bist, desto mehr erwarten die Verwandten, dass du es zu etwas bringst. Desto stigmatisierter bist du nach der Abschiebung. Du sitzt in der Falle.

Woher weißt du das alles?

Erstens betreue ich Geflüchtete in Abschiebehaft. Außerdem bin ich manchmal vor Ort in Nigeria, wenn Abschiebflüge ankommen. Ich und meine Mitarbeiter*innen nehmen die Menschen in Empfang und versuchen, sie zu unterstützen. Zudem spreche ich mit vielen Abgeschobenen per Telefon und Zoom.

Bevor wir über deine Arbeit in Nigeria sprechen noch eine Frage: Viele Menschen, die abgeschoben werden, haben bei Ankunft große psychische Probleme und haben Polizeigewalt erlebt. Gibt es für sie irgendeine Möglichkeit, dies nach Ankunft in Nigeria dokumentieren zu lassen?

Nein, das gibt es nicht. Die nigerianische Grenzpolizei versucht einfach, die Leute schnell durchzuchecken, aber niemand kümmert sich um sie. Dabei haben viele von ihnen Gewalt durch deutsche Polizei erlebt oder mit angesehen, auch Frauen und Kinder, und kommen verstört, ärgerlich oder total verängstigt in Nigeria an. Sie machen ihrer Verzweiflung Luft, wollen erzählen, was ihnen passiert ist, aber die nigerianische Polizei hört nicht zu. Es läuft chaotisch, und während es dann Konflikte zwischen nigerianischer Polizei und den Abgeschobenen gibt, macht sich die deutsche Bundespolizei mitsamt Flugzeug und Personal aus dem Staub und hat nichts mehr mit der ganzen Sache zu tun.

Wie häufig gibt es nach deiner Beobachtung Polizeigewalt bei den Abschiebungen?

Sehr regelmäßig. Und zum Teil sehr brutal. Doch die Verantwortung für die Gewalt wird hin und her geschoben. Wenn wir uns zum Beispiel bei den Ausländerbehörden beschweren, sagen sie, sie sind nur zuständig für die Abholung. Am Flughafen übernimmt die Bundespolizei, die Abschiebung an sich dann speziell geschulte Beamt*innen. Es gibt keine Information, wer die Beamten sind, die die Abschiebung begleiten und für wen sie arbeiten. Sicher ist, dass sie extrem brutal vorgehen. Das berichten alle Abgeschobenen, mit denen wir sprechen.

Nach einem der letzten Flüge erzählte uns eine Mutter von vier Kindern, die sich gewehrt hatte, nach vielen Jahren in Deutschland abgeschoben zu werden, wie sie von mehreren Polizeibeamten auf den Boden gedrückt wurde, um ihr Handschellen anzulegen und ihre Hände an einen Gürtel zu fesseln. Sie war danach nicht mehr fähig, aufzustehen, so dass sie im Rollstuhl zum Flugzeug gebracht werden musste. Vor den Augen ihrer Kinder. Bei einem Flug im vergangenen Mai wurde zwei 17-Jährigen, die wenige Wochen vor ihrem Schulabschluss standen, Handschellen angelegt. Viele Kinder entwickeln nach den Abschiebungen Angstzustände und Panikgefühle, wenn sie weiße Menschen sehen oder werde anderweitig psychisch krank.

»Mit vielen Kindern und Jugendlichen, mit denen ich nach der Abschiebung spreche, spreche ich in Deutsch. Sie haben viele Jahre in Deutschland verbracht, wurden in Europa geboren, sind hier zur Schule gegangen, hatten Freund*innen, ein Leben, eine Zukunft.«  Rex Osa

Für Kinder und Jugendliche ist es besonders hart?

Mit vielen Kindern und Jugendlichen, mit denen ich nach der Abschiebung spreche, spreche ich in Deutsch. Sie haben viele Jahre in Deutschland verbracht, wurden in Europa geboren, sind hier zur Schule gegangen, hatten Freund*innen, ein Leben, eine Zukunft. Es ist furchtbar zu sehen, wie es ihnen nach der Abschiebung geht. Ich finde es sarkastisch, dass in Deutschland über Kindeswohl gesprochen wird. Bei Abschiebungen gibt es kein Kindeswohl.

Wir haben jetzt viel über das Projekt DERS gesprochen. Aber was genau macht  ihr in eurem anderen Projekt Migration Info Point?

Die Volunteers des Projekts in Nigeria und ich tun unser Bestes, die Menschen aufzufangen, zu unterstützen, zu vernetzen, zu beraten und ihnen einfach zuzuhören. Das lokale Netzwerk gibt es seit 2016, DERS seit 2019. Es geht um Erfahrungsaustausch, Reflektionen und Diskussionen über Migration aus unserer Perspektive, nicht um die europäische.

Ich arbeite mit Netzwerken vor Ort, wir informieren in unseren Beratungsstellen, machen Veranstaltungen und versuchen, Kenntnisse über Migration und Abschiebungen zu vermitteln und das Bewusstsein für europäische Propaganda zu schärfen. Wir versuchen, Menschen nicht als Abgeschobene oder Zurückkehrende zu benennen, sondern als Menschen mit Migrationserfahrung. Wir binden ihre Expertisen und ihr Wissen in unsere Netzwerke ein, um einen Perspektivwechsel zu ermöglichen. Nur so kann auch politische Arbeit zu Migration in Nigeria stattfinden, unabhängig vom Framing Europas.

Rex Osa hat die Vereine Refugees4Refugees und den Migration Information Point in Nigeria gegründet.

(nb/wr)