04.04.2024 Trotz der nationalen sowie internationalen Rechtsprechung und trotz der sich weiterhin zuspitzenden Gefahren durch Kampfhandlungen und Hunger hat das BAMF die Asylverfahren palästinensischer Schutzsuchender seit dem 9. Januar 2024 auf Eis gelegt. Die Behörde begründet das damit, dass aufgrund des Krieges die Lage vor Ort zu unübersichtlich sei, um die Gefährdung der Schutzsuchenden im Fall einer Rückkehr valide zu bewerten.
"Seit dem brutalen Überfall der Terrororganisation Hamas auf israelische Zivilist*innen tobt in Gaza ein blutiger Krieg, dem bereits über 30.000 Zivilist*innen zum Opfer fielen. Obwohl Gerichte Betroffenen subsidiären Schutz zuerkennen, hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylverfahren palästinensischer Geflüchteter ausgesetzt.", heißt es an späterer Stelle in den News von Pro Asyl, die wir weiter zitieren:
Eigentlich ist die Entscheidungsgrundlage für Asylanträge von Flüchtlingen aus dem Gaza klar: Wenn in einem internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikt Leib und Leben von Zivilpersonen infolge willkürlicher Gewalt individuell und ernsthaft bedroht sind, und für sie keine Möglichkeit besteht, sich sicher in einen anderen Teil des Herkunftslandes zu begeben und dort vor diesem Konflikt sicher zu sein, dann ist ihnen in einem deutschen Asylverfahren nach dem Asylgesetz (AsylG) der sogenannte subsidiäre Schutz zu gewähren (§ 4 AsylG in Verbindung mit § 3e AsylG).
Innerhalb Gazas gibt es keinen sicheren Ort
Das Bundesverwaltungsgericht ist in seiner hierzu bislang ergangenen Rechtsprechung von einem »body-count«-Ansatz ausgegangen. Demnach setzt eine »ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit« voraus, dass es eine Mindestschwelle von zivilen Opfern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung geben muss. Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar den Mindestwert nie exakt beziffert, aber in einem Urteil zum Herkunftsland Irak einmal ausgeführt, dass jedenfalls eine Wahrscheinlichkeit von 1 zu 800 pro Jahr (circa 0,12 Prozent), verletzt oder getötet zu werden, weit unter der erforderlichen Mindestgrenze liege. Aber zugleich hat es festgestellt, dass der subsidiäre Schutz zweifelsfrei bei einer außergewöhnlichen Situation zu gewähren sei, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.
Die Lage in Gaza ist ein trauriges Beispiel für eine solche Situation. Nicht nur besteht für jede in Gaza lebende Person rund um die Uhr eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit, früher oder später Opfer der Angriffe aus der Luft oder am Boden zu werden. Es besteht darüber hinaus für die Zivilbevölkerung – mit Ausnahme weniger schwer Verletzter, denen Ägypten die Einreise gewährt – keinerlei Möglichkeit, sich den Kampfhandlungen im Gazastreifen zu entziehen. Innerhalb des Gazastreifens gibt es keinen sicheren Ort.
Gerichte erkennen Geflüchteten aus Gaza den subsidiären Schutz zu
Dies macht auch das Oberverwaltungsgericht (OVG) des Landes Sachsen-Anhalts in einer Entscheidung deutlich. In seinem Beschluss bereits am 20. November 2023 – und damit zeitlich noch relativ nahe am Beginn des Krieges – wies es eine Berufung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gegen die Zuerkennung subsidiären Schutzes für einen aus Gaza stammenden Palästinenser zurück.
30.000 Todesopfer seit dem 07.10.23
In einer noch aktuelleren Entscheidung des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 07. März 2024, in dem dieses ebenfalls das BAMF anweist, einem palästinischen Geflüchteten den subsidiären Schutz zuzusprechen, heißt es: »Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 hat der israelische Ministerpräsident den Kriegszustand erklärt. Seither ist der Gaza-Streifen Ziel einer breit angelegten israelischen Militäroperation mit Bombardements aus der Luft, vom Boden und von der See, die mit unzähligen zivilen Opfern, massiver Zerstörung der zivilen Infrastruktur und einer Binnenvertreibung von ca. 85 % der Bevölkerung des Gaza-Streifens einhergeht. Zivilisten können im Gaza-Streifen nicht in Sicherheit leben. Allein seit dem 07.10.2023 sind – wenn auch auf der Grundlage von seitens des Hamas-Gesundheitsministeriums zur Verfügung gestellten Daten – mehr als 30.000 Todesopfer und mehr als 70.000 Verletze unter den überwiegend zivilen palästinensischen Opfern des Krieges gezählt worden […]. In einem Zeitraum von ca. fünf Monaten sind damit ca. 4,5 % der Bevölkerung von Gaza (ca. 2,2 Mio. Einwohner) getötet oder verletzt worden, mehrheitlich dabei Zivilisten. Und auch die Binnenvertreibung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung macht die Betroffenen zu zivilen Konfliktopfern«.
Aktuell droht jederzeit der Beginn der selbst von den USA als engstem Verbündeten Israels abgelehnten Bodenoffensive im Süden des Gazastreifens in und um Rafah. Dorthin waren nach der Offensive im Norden zu Beginn des Konflikts etwa 1,4 Millionen Menschen geflohen. Es ist zu erwarten, dass die Offensive weiter zu einer immensen Zahl ziviler Opfer führen wird.
Auch die katastrophale humanitäre Situation ist asylrechtlich relevant
Doch nicht nur die kriegerischen Auseinandersetzungen als solche stellen eine ernsthafte Bedrohung der Unversehrtheit und des Lebens der Menschen in Gaza dar, sondern auch die katastrophale humanitäre Situation, die das Verwaltungsgericht Sigmaringen in der zitierten Entscheidung ebenfalls als entscheidungsrelevant anführt:
»Auch die humanitäre Situation ist derzeit und auf unabsehbare Zeit unbeschreiblich katastrophal. Im Gaza-Streifen sind konfliktbedingt aktuell mehr als 70.000 Wohneinheiten zerstört und mehr als 290.000 beschädigt. Die Bevölkerung ist komplett von – derzeit völlig unzureichenden – Hilfslieferungen abhängig. In der Integrated Food Security Phase Classification (IPC-Skala) wird für alle 2,2 Mio. Einwohner des Gaza-Streifens derzeit eine akute Nahrungsmittel- und Lebensunterhaltskrise (Phase 3) festgestellt, für 1,17 Mio. Menschen sogar Phase 4 (humanitärer Notfall) und für mehr als eine halbe Million Menschen Phase 5 (Hungersnot / humanitäre Katastrophe). Nur eine von drei Wasserleitungen aus Israel ist in Betrieb, allerdings nur mit 47 % ihrer Kapazität. 83 Prozent der Grundwasserbrunnen sind außer Betrieb, 132 Brunnen sind zerstört oder beschädigt. Zwei der drei großen Meerwasseraufbereitungsanlagen sind nur teilweise funktionsfähig. Das Abwassersystem ist zusammengebrochen. Nurmehr 12 Krankenhäuser funktionieren in sehr eingeschränktem Umfang. Es gibt keinen elektrischen Strom […]«.
»Auch die humanitäre Situation ist derzeit und auf unabsehbare Zeit unbeschreiblich katastrophal. Im Gaza-Streifen sind konfliktbedingt aktuell mehr als 70.000 Wohneinheiten zerstört und mehr als 290.000 beschädigt. […]« Verwaltungsgericht Sigmaringen
Die humanitäre Situation verschlechtert sich Tag für Tag. Seit Wochen warnen Hilfsorganisationen, dass Hilfsabwürfe aus der Luft oder vereinzelte Lieferungen per Schiff eine Hungersnot im Gazastreifen nicht abwenden können. Ein am 18. März 2024 veröffentlichter Bericht mehrerer UN-Organisationen bestätigte, dass von den rund zwei Millionen Menschen im Gazastreifen derzeit 677.000 Menschen unter »katastrophalem Hunger« leiden – das ist die höchste Warnstufe in der dem Bericht zugrunde liegenden IPC-Analyse von Nahrungskrisen (Integrated Food Security Phase Classification). Binnen Wochen könnte die Zahl auf mehr als eine Million steigen, eine Hungersnot könne im abgeriegelten Norden schon ab März eintreten. US-Außenminister Blinken betonte etwa zeitgleich, dass »100 Prozent der Bevölkerung in Gaza unter schwerwiegender akuter Ernährungsunsicherheit« litten. »Das ist das erste Mal, dass eine ganze Bevölkerung so eingestuft wurde«.
BAMF legt Asylverfahren von Palästinenser*innen auf Eis
Vor diesem Hintergrund völlig unverständlich ist: Trotz der nationalen sowie internationalen Rechtsprechung und trotz der sich weiterhin zuspitzenden Gefahren durch Kampfhandlungen und Hunger hat das BAMF die Asylverfahren palästinensischer Schutzsuchender seit dem 9. Januar 2024 auf Eis gelegt. Die Behörde begründet das damit, dass aufgrund des Krieges die Lage vor Ort zu unübersichtlich sei, um die Gefährdung der Schutzsuchenden im Fall einer Rückkehr valide zu bewerten (siehe die Antwort des Innenministeriums auf eine Frage der Linken-Abgeordneten Clara Bünger, S. 19575) und beruft sich dabei auf § 24 Absatz 5 AsylG. Dieser Absatz ermöglicht, Asylverfahren auszusetzen, wenn »im Herkunftsstaat eine vorübergehend ungewisse Lage« besteht. Normalerweise gilt nach Absatz 4 des gleichen Paragrafen, dass das BAMF in der Regel innerhalb von sechs Monaten – bei besonderen, tatsächlich oder rechtlich komplexen Fragen oder einer besonders großen Anzahl von Asylanträgen spätestens innerhalb von 15 Monaten – über Asylanträge zu entscheiden hat.
Jedoch ist die Situation in Gaza bei der Frage nach der Zuerkennung subsidiären Schutzes keineswegs »ungewiss«, sondern im Gegenteil so klar, wie wohl nie seit Bestehen dieses Schutzstatus. Damit liegen die Voraussetzungen für eine längerfristige Aussetzung der Asylverfahren keineswegs vor. Das drängt den Verdacht auf, dass das BAMF lediglich auf Zeit spielt, um nach Beendigung der Kriegshandlungen die offenen Asylanträge abzulehnen. Der Verweis auf § 24 Absatz 5 AsylG wäre in diesem Fall missbräuchlich.
Die Lage in Gaza ist nicht ungewiss, sondern eindeutig katastrophal
In einer Entscheidung vom 13. März 2024 hat das Verwaltungsgericht Hannover zu Recht darauf hingewiesen, dass im Falle sich über Monate hinweg intensivierender Kämpfe (hier im Sudan) nicht von einer »ungewissen Lage« im Sinne des § 24 Absatz 5 AsylG gesprochen werden kann. In der Entscheidung wird in aller Deutlichkeit hervorgehoben:
»Die Möglichkeit der Aussetzung der Entscheidung wegen vorübergehend ungewisser Lage im Herkunftsstaat dient nicht dazu, die Realisierung absehbar bestehender Anerkennungsansprüche zu verhindern«.
Das Gleiche gilt natürlich auch für die Situation in Gaza, die von nunmehr über fünfmonatigen intensiven Kampfhandlungen geprägt ist. Die Untätigkeit des BAMF ist dabei nicht nur rechtswidrig, sondern sie ist auch deswegen nicht nachvollziehbar, als es sich bei den Schutzsuchenden aus Gaza nur um ein paar wenige hundert Menschen handeln kann: Ende Februar 2024 gab es insgesamt 1.108 offene Asylverfahren beim BAMF, davon 1.058 Erst- und 50 Folgeverfahren. Wohlgemerkt sind das sämtliche Asylverfahren von Palästinenser*innen aus allen palästinensischen Gebieten, nicht nur derjenigen aus Gaza – also auch von Schutzsuchenden aus der Westbank oder Ostjerusalem (eine Statistik von Asylverfahren nur von Palästinenser*innen aus Gaza existiert nicht).
Es lässt sich anhand dieser Zahlen daher nicht feststellen, aus welchen Gebieten die Geflüchteten jeweils stammen, aber es ist sicher, dass nur ein Teil dieser Personen aus Gaza stammt.
Das BAMF muss Schutz erteilen!
PRO ASYL fordert das BAMF auf: Die Prüfung der Asylanträge von aus Gaza stammenden Palästinenser*innen muss unverzüglich wieder aufgenommen werden und dem gesamten Personenkreis muss Schutz gewährt werden – wenn nicht aus individuellen Gründen die Flüchtlingseigenschaft anerkannt werden kann, ist wegen der alle Menschen in Gaza betreffenden ernsthaften Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit der subsidiäre Schutz zu gewähren.
Betroffenen Schutzsuchenden rät PRO ASYL, nach Ablauf der Regelentscheidungsfrist von sechs Monaten nach Asylantragstellung eine Untätigkeitsklage nach § 24 Absatz 4 AsylG zu erheben. Hierfür sollten sich Betroffene an kompetente Beratungsstellen und Rechtsanwält*innen wenden.
(pva)