03.08.2022 "Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter," erklärte Außenministerin Baerbock vor wenigen Tagen beim Besuch in Griechenland. "Mittelfristig muss diese Aufgabe [Seenotrettung] wieder zu einer staatlichen Aufgabe werden."
Das klingt - abgesehen vom dehnbaren Begriff mittelfristig - vielversprechend. So wie frühere Äußerungen, als sie noch Oppositionspolitikerin war und scharfe Kritik an den Pushbacks der libyschen Küstenwache übte. "Man kann keine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache machen, einem Regime, einem Terrorregime, in deren Lagern gefoltert, vergewaltigt wird, wo Menschen draus fliehen." sagte sie 2018. Wo bleibt der angekündigte Paradigmenwechsel, weg von der brutalen Abschottungspolitik? Den heftigen Kontrast zwischen früheren Worten der Oppositionspolitikerin und jetzigem Regierungshandeln untersuchte Monitor im Beitrag am 28.07.2022 Flüchtlingsdrama im Mittelmeer - Wortbruch der Bundesregierung, dessen Text wir hier zitieren:
Georg Restle: "Und jetzt zu einem anderen europäischen Drama. Eines, das es kaum noch in die Nachrichten schafft, obwohl es uns eigentlich täglich den Schlaf rauben müsste. Fast 1.000 Tote allein in diesem Jahr. 1.000 Menschenleben – ertrunken in den Fluten des Mittelmeers auf ihrer Flucht nach Europa. Wen kümmert das noch in diesem Land, außer denen, die auch in den letzten Wochen wieder Hunderte aus ihren wackeligen Booten gerettet haben. Wie bei dieser Rettungsaktion auf dem Mittelmeer Ende Juni als ein kleines Kind nur noch durch Wiederbelebungsaktionen gerade noch vor dem Tod gerettet werden konnte. Gerettet auch vor einer libyschen Küstenwache, die Flüchtlinge in internationalen Gewässern aufgreift und in die Folterknäste ihres Landes verfrachtet. Das alles sollte eigentlich ein Ende haben, hatte die Ampelkoalition versprochen. Und vor allem diese Frau hatte solche Rückführungen nach Libyen immer wieder scharf kritisiert und ein Ende der Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache gefordert. Damals als sie noch in der Opposition war. Und jetzt? Jetzt ist Annalena Baerbock Außenministerin – und plötzlich sieht das alles ganz anders aus. Lara Straatmann, Elke Brandstätter und Julius Baumeister."
Jagdszenen auf dem Zentralen Mittelmeer – Ein Holzboot mit dutzenden Flüchtlingen versucht zu entkommen. Es fallen Schüsse. Es sind die Männer der libyschen Küstenwache, die auf die Flüchtlinge schießen. Und sie bringen das Boot fast zum Kentern, so belegen es Luftaufnahmen der Organisation Sea Watch.
O-Ton: "Haben sie Stöcke auf sie geworfen?"
O-Ton: "Ich glaube, sie haben sie jetzt! Sie haben sie."
Solche Verfolgungsjagden sind Alltag auf dem Mittelmeer. Wie auch diese Ende Juni. Die Menschen auf dem Holzboot fliehen aus Libyen – sie sind weit in internationalen Gewässern. Die libysche Küstenwache aber will sie abfangen. Ausgerüstet hat sie dafür Europa. Der Auftrag: Die Menschen zurückzwingen – in ein Land, indem sie eingesperrt und misshandelt werden. In der Opposition fand die heutige Außenministerin dafür noch klare Worte:
Annalena Baerbock, B’90/Grüne, damalige Bundesvorsitzende, 29.06.2018: "Wer auf Rückweisung auf hoher See setzt, Menschen an die libysche Küstenwache zu überführen, der bricht mit dem Völkerrecht."
Bruch mit dem Völkerrecht – Im Koalitionsvertrag versprach die Ampel-Koalition deshalb:
Zitat: "Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden."
Illegale Zurückweisungen, die durch die Europäische Union mit Unterstützung Deutschlands erst ermöglicht wurden. Denn die von Europa aufgebaute Küstenwache erhielt die Verantwortung für eine riesige Such- und Rettungszone – kurz SAR- im Zentralen Mittelmeer. Weit hinein ins internationale Gewässer.
Marie Manteuffel, Ärzte ohne Grenzen: "Die libysche Seenotrettungszone ist eingerichtet worden; eindeutig mit dem Hintergrund, die europäische Abschottungspolitik weiter zu betreiben. eindeutig mit dem Ziel, Menschen durch die libysche Küstenwache auf dem Mittelmeer abfangen zu können und nach Libyen zurückzubringen, das heißt sie genau davon abzuhalten, dass sie an einen sicheren Ort in einem europäischen Küstenstaaten kommen können."
Wir fragen beim von Baerbock geführten Auswärtigen Amt nach. Halten Sie dennoch an diesem System fest? Das Ministerium erklärt uns:
Zitat: "Libyen ist völkerrechtlich verpflichtet, Seenotrettung in seinem Verantwortungsbereich zu organisieren und zu koordinieren."
Und ausdrücklich betont das Auswärtige Amt:
Zitat: "Der Verantwortungsbereich Libyens umfasst die libysche SAR-Zone."
Das Ministerium erkennt also tatsächlich die libysche Such- und Rettungszone an. Eine Zone, in der Menschen im internationalen Gewässer abgefangen und nach Libyen gebracht werden.
Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler Universität Kassel: "Die libysche Such- und Rettungs-Zone erfüllt in keinster Weise die völkerrechtlichen Anforderungen an eine ordentliche Seenotrettung. Und das grün geführte Auswärtige Amt hätte hier eindeutig Stellung beziehen müssen und wenn geduldet wird, dass die libysche Küstenwache weiterhin in ihrer Such- und Rettungs-Zone Menschen nach Libyen verbringt, dann setzt sich diese menschenrechtswidrige Politik im Mittelmeer weiter fort."
Kritik daran kommt auch aus den eigenen Reihen. Etwa vom grünen Bundestagsabgeordneten Max Lucks, Obmann im Ausschuss Menschenrechte:
Max Lucks, B’90/Grüne, Bundestagsabgeordneter: "Die Bundesregierung weiß auch von der dramatischen Situation, für die die libysche Küstenwache verantwortlich ist. Deshalb erwarte ich auch von der Bundesregierung, dass sie sich klar und in verschiedenen Formaten auch dafür einsetzt, dass die Kooperation der libyschen Küstenwache so, wie sie bisher geschehen ist, nicht vorangetrieben wird."
Und die grüne Außenministerin? Betont aber bei einem Besuch in Griechenland, die Menschenrechte an der Außengrenze müssten eingehalten werden.
Annalena Baerbock, B’90/Grüne, Außenministerin: "Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter, und es geht hier oft um die Schwächsten, es geht um Männer und Frauen, die jahrelang auf der Flucht sind, es geht um kleine Kinder."
Frauen, Männer und Kinder, die auch in solchen libyschen Lagern eingesperrt werden, nachdem sie von der libyschen Küstenwache abgefangen wurden. Selten dringen aktuelle Aufnahmen wie diese an die Öffentlichkeit – in Haft sind die Menschen oft Gewalt und Willkür ausgesetzt. Das bestätigt ein aktueller Bericht der UN. In den staatlichen Haftlagern droht Flüchtlingen nach wie vor:
Zitat: "Mord, Verschwindenlassen, Folter, Versklavung, sexuelle Gewalt, Vergewaltigung ..."
Der Chef der UN Mission fordert angesichts dieser Verbrechen Konsequenzen:
Nidal Jurdi, Leiter UN-Fact-Finding, Mission Libyen: "Das bringt eine internationale Verantwortung mit sich. Jeder Staat oder jede Gruppe von Staaten, die diese Institutionen unterstützen, die im Moment an weit verbreiteten oder systematischen Angriffen auf Migranten beteiligt sind, unterstützen die Täter. Das muss sich ändern."
Keine Zusammenarbeit also - etwa mit der libyschen Küstenwache. So sah es Baerbock früher auch:
Annalena Baerbock, B’90/Grüne, damalige Bundesvorsitzende, 29.06.2018: "Man kann keine Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache machen, einem Regime, einem Terrorregime, in deren Lagern gefoltert, vergewaltigt wird, wo Menschen draus fliehen."
Und heute? Plädiert ihr Ministerium für den "Aufbau einer professionellen Küstenwache" nach internationalen Verpflichtungen. Dazu passt: Ein deutscher Besuch in Libyen Anfang Juli. Treffen der Bundespolizei mit Vertretern der Küstenwache. Man habe nur Informationen ausgetauscht, erklärt die Bundespolizei. Die Libyer hätten den Wunsch nach besserer Ausrüstung geäußert. Die werden sie bekommen: Europa rüstet die libysche Küstenwache in diesem Jahr weiter auf. Etwa mit fünf Schnellbooten. So können noch mehr Menschen abgefangen werden. Und auch in den nächsten Jahren stellt Europa Millionen bereit. Das geht es aus einem internen EU-Bericht hervor: Mehr als 200 Millionen Euro fließen künftig jährlich nach Nordafrika. Als Ziele zuvorderst genannt: Grenzschutz, Seenotrettung und der Kampf gegen Migrantenschleusung in Libyen.
Marie Manteuffel, Ärzte ohne Grenzen: "Die Ampelkoalition wird sich entscheiden müssen. Wollen Sie die Abschottungspolitik der letzten Jahre weiterführen oder meinen Sie es ernst mit dem Paradigmenwechsel, der im Koalitionsvertrag steht? Dann heißt es ganz eindeutig ein Ende der Finanzierung von genau der libyschen Küstenwache."
Auf unsere Nachfrage kommt vom Auswärtigen Amt kein Wort der Kritik am Millionenpaket. Wir bitten um ein Interview, doch weder die Außenministerin, noch ein Staatssekretär, noch ein Sprecher des Ministeriums haben Zeit. Vielleicht auch deshalb, weil man nicht an Baerbocks frühere Äußerungen erinnert werden will.
Annalena Baerbock, B’90/Grüne, damalige Bundesvorsitzende, 29.06.2018: "Wer auf Rückweisung auf hoher See setzt, Menschen an die libysche Küstenwache zu überführen, der bricht mit dem Völkerrecht."
Als Außenministerin sieht Baerbock das jetzt offenbar anders. Man werde sich für menschenwürdige Bedingungen einsetzen, heißt es in den libyschen Flüchtlingslagern. Keine guten Aussichten für die Menschen auf dem Mittelmeer.
Georg Restle: "'Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter.' Gut möglich, dass wir Annalena Baerbocks künftig auch an diese Worte noch häufiger erinnern werden."
Zur Vervollständigung fügen wir den Tagesschau-Bericht zum Griechenlandbesuch an. Wie Restle schon sagte: Wir werden sie daran erinnern!
Baerbock will Vorwürfe gegen Frontex klären
Stand: 28.07.2022 18:29 Uhr
Der EU-Grenzschutzagentur Frontex wird vorgeworfen, das Zurückdrängen von Flüchtlingen auf dem Meer durch die griechische Küstenwache zu ignorieren. Außenministerin Baerbock sagte bei ihrem Besuch in Athen, dies sei "mit EU-Recht nicht vereinbar".
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock hat in Griechenland die illegale Zurückweisung von Flüchtlingen an der EU-Außengrenze kritisiert und eine systematische Aufklärung gefordert. "Wenn wir da wegschauen, dann gehen unsere Werte im Mittelmeer unter", sagte sie nach einem Besuch eines Flüchtlingslagers nahe Athen und der Grenzschutzagentur Frontex am Hafen von Piräus.
Auch an der EU-Außengrenze müssten die europäischen Werte gelten. "Es geht hier oft um die Schwächsten: Es geht um Männer und Frauen, die seit Jahren auf der Flucht sind, es geht um kleine Kinder", betonte Baerbock.
Baerbock: "Menschenrechte rund um die Uhr einhalten"
Hilfsorganisationen kritisieren seit Jahren, dass griechische Grenzschützer Migranten systematisch zurück in die Türkei drängen, damit sie in Griechenland kein Asyl beantragen. Auch Medienberichte zu solchen sogenannten Pushbacks gibt es immer wieder, in denen auch Frontex eine Verwicklung vorgeworfen wird.
Ein geheimer EU-Bericht wirft nach Informationen des "Spiegel" der EU-Grenzschutzagentur Frontex das bewusste Wegsehen beim Zurückdrängen von Flüchtlingen auf dem Meer durch die griechische Küstenwache vor. Auf 129 Seiten dokumentiere der Bericht, "wie die EU-Grenzschutzagentur Frontex in die illegalen Machenschaften der griechischen Küstenwache verwickelt war", schreibt der "Spiegel". Die Grenzschützer setzen demnach in der "Ägäis Asylsuchende systematisch antriebslos auf dem Meer aus".
Baerbock sagte weiter, die EU müsse "noch stärker sicherstellen können, dass natürlich auch an der europäischen Außengrenze die Menschenrechte rund um die Uhr eingehalten werden". Das Zurückdrängen von Flüchtlingen über die EU-Außengrenzen sei "mit europäischem Recht nicht vereinbar", stellte sie klar.
Gemeinsame Seenotrettung
Die Außenministerin warb auch für mehr Unterstützung Griechenlands bei der Sicherung der EU-Außengrenze und für eine gemeinsame europäische Seenotrettung, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu bewahren, die versuchen über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Derzeit übernehmen Hilfsorganisationen diese Aufgabe. Sie forderte aber: "Mittelfristig muss diese Aufgabe wieder zu einer staatlichen Aufgabe werden."
Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR gelang seit Jahresbeginn rund 6250 Menschen der Grenzübertritt in Nordostgriechenland oder die Überfahrt per Boot von der türkischen Westküste zu den griechischen Inseln. Dabei gab es auch immer wieder Bootsunglücke und Tote. Athen und Ankara schieben sich für diesen Zustand gegenseitig die Schuld zu...."