Weiterhin Gewalt und Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze

12.02.2024 "Die Krise der Menschenrechte an der Grenze zwischen Polen und Belarus ist weitestgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Dabei sind Gewalt, Pushbacks und die systematische Inhaftierung von Schutzsuchenden weiterhin gängige Praxis in Polen. Auch die neue polnische Regierung hat daran bisher nichts geändert." Mit diesen Feststellungen beginnt ein Beitrag in den News von Pro Asyl, den wir hier zitieren.

In Polen gilt er als der erfolgreichste Film des vergangenen Jahres: Der Spielfilm »Green Border« der renommierten polnischen Regisseurin Agnieszka Holland erzählt eindrücklich von der Gewalt gegen Schutzsuchende an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Eine syrische Familie versucht 2021, über die Grenze nach Polen und dann zu ihren Verwandten in Schweden zu gelangen.

Agnieszka Holland, die auch den Film »Hitlerjunge Salomon« drehte, ist Enkelin von Holocaust-Opfern sowie Tochter einer Kämpferin des Warschauer Aufstands von 1944. Während der damalige polnische Justizminister den Film als »Nazi-Propaganda« verunglimpfte, war die Regisseurin 2023 wegen Hass-Kampagnen gegen sie vorübergehend auf Personenschutz angewiesen.

 

Seit wenigen Tagen läuft »Green Border« auch in deutschen Kinos. Was er zeigt, ist leider nach wie vor grausame Realität an der östlichen Außengrenze der Europäischen Union. Seit August 2021 stecken immer wieder Menschen auf der Flucht in einer Art Niemandsland zwischen den beiden Zäunen fest; humanitäre Organisationen können ihnen nicht helfen, weil ihnen verboten wird, den Streifen zu betreten. Während Polen unter Einsatz von Gewalt versucht, die Schutzsuchenden von der Einreise abzuhalten, drängen belarussische Grenzbeamt*innen die Menschen mit Hunden und Schlagstöcken immer wieder Richtung Polen.

Als Reaktion auf EU-Sanktionen gegen Belarus hatten belarussische Behörden 2021 begonnen, die Einreise von Menschen aus dem Irak, Afghanistan und Ländern des Nahen Ostens und Afrikas über ihre Grenzen zu Polen, Litauen und Lettland zu organisieren. Polen stilisierte Geflüchtete daraufhin zur »hybriden Gefahr« und berief sich auf einen »Ausnahmezustand«, um brutale Gewalt, die Militarisierung der Grenze und Scheinlegalisierungen von rechtswidrigen Pushbacks zu rechtfertigen. Seitdem wird das geopolitische Armdrücken auf dem Rücken von Schutzsuchenden ausgetragen.

Flucht durch einen der letzten Urwälder Europas

Auch 2023 reisten Menschen mit russischen oder belarussischen Visa weiter an die polnische Grenze und versuchten, diese zu überwinden, allerdings deutlich weniger als in 2021. Viele stecken dann im Białowieża Wald, einem der letzten Urwälder Europas, fest, der mit seinen Sümpfen und Mooren lebensgefährlich ist – im Winter umso mehr. Aktivist*innen der Initiative Grupa Granica stießen in den vergangenen Monaten immer wieder auf Geflüchtete mit Erfrierungen, denen eine Amputation drohte.

Allein in der ersten Jahreshälfte 2023 erhielt Grupa Granica 4600 Anrufe von im Grenzraum in Not geratenen Menschen. Die Betroffenen kamen vor allem aus Kriegs- und Konfliktländern wie Syrien, Afghanistan, Äthiopien, dem Sudan oder Eritrea und damit aus Ländern, deren Bürger*innen normalerweise internationalen Schutz in Europa erhalten – vorausgesetzt, sie erreichen die Europäische Union (EU).

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Unterwegs in Europas letztem Dschungel

Mit scharfer Munition gegen Schutzsuchende

Die Gewalt gegen Schutzsuchende an der polnisch-belarussischen Grenze ist weiterhin massiv, zuletzt wurde sogar scharfe Munition eingesetzt: Anfang November schossen polnische Grenzbeamt*innen einem 22-jährigen Mann aus Syrien, dem es gelungen war, die Grenze zu überwinden, in den Rücken. Die Staatsanwaltschaft teilte mit, es handele sich um einen »unglücklichen Unfall«, der Soldat sei »gestolpert«. Das Opfer wurde im Krankenhaus operiert, es bestand die Gefahr einer Lähmung.

Das EU-Grenzregime tötet auf vielfältige Art und Weise, etwa durch direkte Gewalt, Vernachlässigung, die Kriminalisierung von Hilfe oder das Errichten von Mauern, sodass Fluchtrouten gefährlicher werden: Anfang November wurde ein weiterer syrischer Mann, der bereits seit einer Woche gesucht worden war, tot im Grenzgebiet aufgefunden. Und im August starb die 20-jährige Somalierin Sadia Mohamed Mohamud, nachdem sie zuvor zweimal gewaltsam zurückgeschoben worden war und fast einen Monat lang in dem schmalen Streifen Land zwischen dem polnischen und dem belarussischen Grenzzaun hatte ausharren müssen.

Mindestens 60 Tote und Hunderte Vermisste an der polnisch-belarussischen Grenze

Die polnische NGO Helsinki Foundation for Human Rights, die 2022 gemeinsam mit der polnischen Anwältin Marta Górczyńska den Menschenrechtspreis der Stiftung PRO ASYL erhielt, zählt mindestens 60 bestätigte Tote auf beiden Seiten der Grenze. Polnische Medien berichten zudem von über 300 Menschen, die seit 2021 im Grenzgebiet verschwunden seien. Aktivist*innen sind sich jedoch sicher, dass die tatsächliche Zahl der Toten und Vermissten um einiges höher ist.

Die Familien der Toten und Vermissten erhalten bisher keine systematische Unterstützung, um ihre Angehörigen zu finden, zu identifizieren und falls möglich eine Überführung zur Bestattung zu organisieren. An dem Punkt setzt die Helsinki Foundation for Human Rights mit einem neuen Projekt an. Die NGO weist darauf hin, dass polnische Behörden zum Teil direkt und indirekt zu dem Verschwinden(lassen) der Menschen beitragen.

Gewaltsame Pushbacks durch polnische Grenzbeamte

Rechtswidrige Zurückschiebungen sind weiterhin gewaltsame Realität an der Grenze: Die Initiative Protecting Rights at Borders (PRAB), die illegale Pushbacks in Europa dokumentiert und in Polen unter anderem mit der NGO Stowarzyszenie Interwencji Prawnej kooperiert, verzeichnete allein zwischen Mai und August 2023 ganze 3.346 Pushbacks zwischen Belarus und Polen. Einige der Betroffenen hätten berichtet, mehrfach rechtswidrig zurückgeschoben worden zu sein.

Viele der Schutzsuchenden geben an, Gewalt durch polnische oder belarussische Kräfte erfahren zu haben. Betroffene berichteten unter anderem von Beleidigungen und Verhöhnungen, Schlägen, dem Einsatz von Tränengas, vollständigem Entkleiden, Verweigerung des Zugangs zu Toiletten oder Essen sowie der Zerstörung von Kleidung, Schuhen, Telefonen und Lebensmitteln.

Auch Pushbacks von Kindern und Jugendlichen sind in Polen gängige Praxis, wie ein aktueller Bericht von terre des hommes zeigt. Immer wieder werden mit den rechtswidrigen Zurückschiebungen auch Familien getrennt.

Schwere Verletzungen: Mit Stacheldraht gegen Schutzsuchende

Viele der Schutzsuchenden sind in einem schlechten gesundheitlichen Zustand, wenn sie die polnische Seite erreichen. NGOs und Medien berichten immer wieder von Personen, die zurückgelassen und rechtswidrig auf die andere Seite der Grenze zurückgedrängt wurden, ohne zuvor eine (angemessene) medizinische Behandlung zu erhalten. Ärzte ohne Grenzen berichten, dass sie zum Teil Menschen mit schweren Verletzungen behandeln müssen, die durch die fünf Meter hohe und mit Stacheldraht gesicherte Mauer zwischen Polen und Belarus verursacht wurden.

Diese 185 Kilometer lange Mauer war im Sommer 2022 an der EU-Außengrenze zu Belarus auf polnischem Territorium fertiggestellt worden. Die Barriere ist mit Stacheldraht verstärkt und zusätzlich mit Überwachungstechnologien wie Kameras, Bewegungsmeldern und seismischen Sensoren ausgestattet. Doch auch sie hält Menschen offensichtlich nicht davon ab zu versuchen, Schutz in der EU zu erhalten. Seit dem Bau kommt es jedoch häufiger zu schweren Verletzungen: gebrochene Becken und Beine oder schwere Gehirnerschütterungen.

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Militarisierung: Mehr Soldaten im Grenzgebiet

Protecting Rights at Borders (PRAB) spricht von einer zunehmenden Militarisierung der Grenze zu Belarus seit Juni 2023. Die polnische Regierung hatte im August 2023 angekündigt, Tausende Soldat*innen an die Grenze zu Belarus verlegen zu wollen, von denen etwa 4.000 den Grenzschutz unterstützen sollten.

Als Begründung wurde auf Aktivitäten russischer Wagner-Söldner in Belarus und die Flucht von Schutzsuchenden über das Nachbarland verwiesen. Die verstärkte Militärpräsenz vor Ort macht es für Geflüchtete nun noch schwieriger, Polen und damit die EU zu erreichen, ohne Opfer von rechtswidrigen Pushbacks zu werden. Bereits vor 2021 hatte Polen auf rechtswidrige Pushbacks gesetzt, für die es im Jahr 2020 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilt wurde.

Der EGMR hat sich bereits mehrfach mit der Inhaftierung von Schutzsuchenden in Polen befasst und jedes Mal eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit oder des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens festgestellt.

Systematische Inhaftierungen von Asylsuchenden

Polen besteht laut Protecting Rights at Borders darauf, dass Asylanträge nur an den offiziellen Grenzübergangsstellen entlang der Grenze angenommen werden könnten. Dies sei in der Praxis jedoch schwierig, sodass die meisten Personen, die irregulär nach Polen einreisten, effektiv keinen Zugang zu Asylverfahren erhielten, da ihre Asylanträge nicht registriert würden.

Schutzsuchende, die Polen über Belarus erreichen und nicht rechtswidrig zurückgeschoben werden, werden in der Regel in geschlossenen Haftanstalten, sogenannten »Guarded Centers for Foreigners«, inhaftiert – auch Jugendliche und Kinder, die besonders unter der Freiheitsentziehung leiden.

Die Bedingungen in diesen gefängnisähnlichen Einrichtungen entsprechen nicht völkerrechtlichen Standards. So wird etwa der Raum, der einer inhaftierten Person zugestanden wird, auf 2m² begrenzt, was EU- und international festgelegten Mindeststandards widerspricht. Unabhängigen Psychotherapeut*innen wird der Zugang regelmäßig verwehrt, und auch beim Zugang zu medizinischer Versorgung bestehen gravierende Mängel.

Der EGMR hat sich bereits mehrfach mit der Inhaftierung von Schutzsuchenden in Polen befasst und jedes Mal eine Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit oder des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens festgestellt.

Polnische Gerichte gegen die Scheinlegalisierung von Pushbacks 

In Polen wurden im Jahr 2021 mit Verweis auf einen vermeintlichen »Ausnahmezustand« zwei nationale Gesetze eingeführt, die versuchen, Pushbacks zu »legalisieren« und damit zu legitimieren. Trotz des offensichtlichen Bruchs internationalen und europäischen Rechts sind diese weiterhin in Kraft. Sie sollen ermöglichen, dass Anträge auf internationalen Schutz nicht berücksichtigt werden müssen und betroffene Personen zurückgeschoben werden dürfen, wenn sie unmittelbar nach dem irregulären Überqueren einer Grenze aufgegriffen werden.

Doch seit Inkrafttreten dieser Gesetze haben polnische Gerichte immer wieder »erhebliche Rechtsverstöße« festgestellt und den Grenzschutz wegen Verstößen gegen EU-Konventionen, die Verfassung der Republik Polen und nationales Recht verurteilt.

 

Doch seit Inkrafttreten dieser Gesetze haben polnische Gerichte immer wieder »erhebliche Rechtsverstöße« festgestellt und den Grenzschutz wegen Verstößen gegen EU-Konventionen, die Verfassung der Republik Polen und nationales Recht verurteilt.

So etwa im Fall eines irakischen Ehepaars mit vier Kindern und dem Bruder der Frau, die auf die belarussische Seite zurückgedrängt worden waren. Das Provinzverwaltungsgericht in Białystok urteilte, dass dabei der Grundsatz der Nichtzurückweisung missachtet und die individuelle Situation aller betroffenen Personen nicht geprüft worden sei. Die Zurückschiebung entbehre zudem jeglicher Rechtsgrundlage.

Vor dem EGMR sind derzeit mindestens elf Verfahren zu polnischen Pushbacks anhängig. In der Vergangenheit hatte der EGMR Polen bereits mehrfach wegen der rechtswidrigen Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze zu Belarus verurteilt. Doch die damalige Regierung ignorierte die Rechtsprechung des EGMR.

Einschüchterung und Kriminalisierung von humanitärer Hilfe

Polnische Gerichte stoppen die Kriminalisierungsversuche durch polnische Behörden regelmäßig und sprechen Aktivist*innen frei, dennoch gehen die Repressionen weiter, sowohl gegen Einzelpersonen als auch gegen Organisationen, die im polnisch-belarussischen Grenzgebiet humanitäre Hilfe leisten.

Die PRO ASYL Partnerorganisation Helsinki Foundation for Human Rights stellt Personen, die aufgrund ihrer Hilfe an der polnisch-belarussischen Grenze Repressionen durch polnische Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt sind, Rechtsbeistand zur Verfügung. Eine Freiwillige, die wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt angeklagt und vorübergehend festgenommen worden war, konnte so im November 2023 freigesprochen werden. Das Regionalgericht Bialystok bestätigte in dem Zusammenhang erneut, dass humanitäre Hilfe legal sei.

Anzeige, weil Essen über die Grenzmauer gereicht wurde 

In einem anderen Fall sprach das Gericht in Siemiatycze eine Gruppe von humanitären Helfer*innen frei, die im Frühjahr 2023 Lebensmittel, Getränke und Kleidung über die Grenzmauer gereicht hatten (ähnlich im Oktober 2023 hier). Der Grenzschutz hatte Anzeige gegen diese Personen erstattet und sie der Begehung von Ordnungswidrigkeiten beschuldigt, nämlich der Missachtung des Verbots, die an die Staatsgrenze angrenzende Zone, den sogenannten »Grenzstreifen«, zu betreten, und des Verbots, Gegenstände über die Grenze zu Belarus zu bringen.

Das Gericht führte in der Urteilsbegründung aus, dass die Mauer nicht an der polnischen Grenze, sondern auf polnischem Staatsgebiet stehe. Ein schmaler Streifen hinter der Mauer sei dementsprechend noch polnisches Hoheitsgebiet. Diese Feststellung könnte auch für Personen relevant sein, die sich direkt an der Grenzmauer befinden und internationalen Schutz suchen. Bisher hatte der Grenzschutz behauptet, diese Personen befänden sich noch auf belarussischem Gebiet und unterlägen daher nicht der polnischen Gerichtsbarkeit.

Die Repressionen dienen der Einschüchterung von Menschen, die sich mit Geflüchteten solidarisch zeigen. Nicht wenige der Freiwilligen, die seit über zwei Jahren an der Grenze aktiv sind, sind inzwischen erschöpft und ausgebrannt.

Die Repressionen dienen der Einschüchterung von Menschen, die sich mit Geflüchteten solidarisch zeigen.

Neue Regierung, neuer Umgang mit Geflüchteten?

Ende letzten Jahres kam es in Polen zum Machtwechsel: Das polnische Parlament wählte den ehemaligen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk (Bürgerkoalition) zum Regierungschef. Am 15. Oktober 2023 hatte die nationalpopulistische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die Polen seit 2015 regiert, keine Mehrheit mehr erhalten. Stattdessen regiert nun eine Koalition aus den liberaldemokratischen und proeuropäischen Parteien Bürgerkoalition (Koalicja Obywatelska, KO), Dritter Weg (Trzecia Droga) und Neue Linke (Nowa Lewica).

In seiner Regierungserklärung mahnte Tusk die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit an und kündigte eine gute Zusammenarbeit seines Landes mit der EU an. Die Eindämmung der »unkontrollierten Migration«, ohne dabei Menschenrechte zu verraten, bezeichnete er als eine der großen Herausforderungen der künftigen Regierung. Der stellvertretende Minister Maciej Duszczyk, der in der neuen Regierung für Migration zuständig ist, erklärte jedoch jüngst in einem Interview, dass die Pushbacks fortgesetzt würden, um »die Grenze zu sichern«, »aber mit einem humanitären Element«.

Anfang Januar appellierten 101 Nichtregierungsorganisationen, darunter Amnesty International und die Helsinki Foundation for Human Rights (HFHR), sowie 550 Einzelpersonen an den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, die Politik der Pushbacks an der polnisch-belarussischen Grenze unverzüglich zu beenden. Doch bisher hat sich auch unter der neuen Regierung nichts an der Situation für Schutzsuchende geändert. Die nationalen Gesetze, die Pushbacks »legalisieren«, sind weiterhin in Kraft.

Am 20. Dezember 2023 haben sich die EU-Mitgliedstaaten, das EU-Parlament und die EU-Kommission auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) geeinigt. PRO ASYL kritisiert die Ergebnisse scharf, da sie den Abbau der Menschenrechte von Geflüchteten in Europa bedeuten.

Die EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten haben sich bei der GEAS-Reform auch auf eine höchst problematische »Krisenverordnung« geeinigt, für die Polen mit seiner Praxis im Sommer 2021 neben anderen Mitgliedsstaaten prominenter Stichwortgeber gewesen ist.

Mit Verweis auf eine »Instrumentalisierung« von Schutzsuchenden durch den belarussischen Diktator Lukaschenko hatte Polen 2021 einen »Ausnahmezustand« ausgerufen, auf dessen Grundlage die massiven Menschenrechtsverletzungen legitimiert wurden. Anstatt gegen die Rechtsbrüche an den östlichen Außengrenzen der EU vorzugehen, brachte die Europäische Kommission im Dezember 2021 den Vorschlag einer »Instrumentalisierungsverordnung« ein, der weitreichende Abweichungen von asylrechtlichen Verfahrensgarantien vorsah.

Konzept der »Instrumentalisierung« legitimiert Menschenrechtsverletzungen

Die »Krisenverordnung«, die Teil der GEAS-Einigung vom 20.12.2023 ist, arbeitet genau mit diesem Konzept der »Instrumentalisierung«. Im Fall von Krisen und der »Instrumentalisierung von Migrant*innen« durch Staaten können Grenzverfahren massiv ausgeweitet werden – sowohl in Bezug auf ihre Dauer als auch auf die Gruppe von Personen, die in diese Verfahren für ihr Asylverfahren einbezogen werden müssen. Im Falle einer »Instrumentalisierung« dürfen die Mitgliedstaaten sogar alle Asylsuchenden an ihren Grenzen inhaftieren. In der Praxis könnte dies zu mehr rechtswidrigen Pushbacks führen.

Das Konzept der »Instrumentalisierung« ist somit ein Blankocheck für Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen, um Schutzsuchende von der Einreise in die EU abzuhalten. Die aktuelle polnische Praxis der Pushbacks, Inhaftierungen und mangelnden Verfahrensgarantien könnte somit verstetigt, ausgeweitet und rechtlich zementiert werden.

Dringend notwendig wäre stattdessen eine 180 Grad Wende in der polnischen Flüchtlingspolitik. Es wird sich zwar erst zeigen müssen, wo die neue polnische Regierung steht. Mit dem Konzept der Instrumentalisierung wurde auf europäischer Ebene allerdings bereits die Basis für zukünftige »Ausnahmezustände« und eine weitere Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes an den EU-Außengrenzen geschaffen.

Wahlkampf auf dem Rücken von Schutzsuchenden

Donald Tusk agiert auch als Ministerpräsident unter dem Druck der PiS-Partei. Diese hatte Migration im Sommer und Herbst 2023 zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht und damit Ängste und rassistische Ressentiments gegen Geflüchtete geschürt. So mobilisierte sie am Wahltag parallel zu einem Referendum, bei dem zwei von vier Fragen mit offenkundig falschen Informationen Stimmung gegen Schutzsuchende und die Europäische Union machten. Doch auch die ehemalige Opposition griff auf flüchtlingsfeindliche Rhetorik zurück und warnte vor »unkontrollierter Migration«. 

Ein weiteres zentrales Thema im Wahlkampf war die Visa-Schmiergeldaffäre. Offensichtlich hat die nationalpopulistische PiS-Regierung jahrelang einen Handel mit Schengen-Visa betrieben, bei dem Schmiergelder geflossen sind: So konnte man bei korrupten Vermittler*innen und polnischen Konsulatsangestellten in Asien und Afrika ein polnisches Arbeitsvisum erhalten, mit dem auch eine Weiterreise in die EU möglich wurde. Laut der ehemaligen Opposition handelt es sich womöglich um Hunderttausende unrechtmäßig vergebene Visa.

Die EU-Kommission und die Bundesregierung hatten Polen Mitte September zur Aufklärung aufgefordert. Auch in der belarussischen Hauptstadt Minsk soll es möglich gewesen sein, unrechtmäßig polnische Visa gegen Schmiergeld zu erhalten. Das ist insbesondere vor dem Hintergrund der Skandalisierung des belarussischen Visa-Handels durch die ehemalige polnische Regierung bizarr.

 (hk)