Wieder EuGH-Urteile gegen deutsche Asylpraxis: Deutschland muss die Flüchtlingsanerkennung anderer EU-Länder berücksichtigen

23.08.2024 Zwei Urteile des EuGH vom Juni 2024 analysierte Pro Asyl. Es geht dabei um sogenannte Dublin-Fälle.

Erstes Urteil: Selbstständige Prüfung mit Kooperationspflicht  ... Verpflichtung, die der Entscheidung des ersten Mitgliedstaates zu Grunde liegenden Anhaltspunkte in vollem Umfang zu berücksichtigen...

Zweites Urteil: Auslieferung eines anerkannten Flüchtlings nicht möglich ... Der EuGH stellte nun klar, dass eine Auslieferung ohne Beachtung der in dem ersten Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft nicht zulässig ist...

Positive und negative Folgen der Urteile Für die zahlreichen Asylantragssteller*innen, die schon zuvor Schutz in einem anderen Staat zuerkannt bekommen haben, bringen die EuGH-Entscheidungen Vor- und Nachteile. ...

Deutsche Behörden müssen Entscheidungspraxis ändern ...

Wir zitieren aus den News vom heutigen Tag:

Der Europäische Gerichtshof urteilte im Juni darüber, ob Deutschland an Flüchtlingsanerkennungen anderer EU-Länder gebunden ist: Eine Verpflichtung, die Anerkennung zu übernehmen, besteht nicht; einer Auslieferung steht die Anerkennung aber entgegen. Die Urteile müssen zu Änderungen der deutschen Asylverfahrens- und Entscheidungspraxis führen.

In der Theorie soll durch die Regelungen der Dublin III Verordnung in Europa ein einziger Mitgliedstaat bestimmt werden, der für die Bearbeitung eines Asylantrags zuständig ist und die Verantwortung für die antragstellende Person übernimmt. In der Praxis gibt es zahlreiche Gründe, warum ein EU-Mitgliedstaat trotz vorheriger Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch ein anderes europäisches Land nochmals asylrechtlich relevante Entscheidungen treffen muss.

So werden international Schutzberechtigte unter anderem zu einer Weiterflucht nach Deutschland und einem neuen Asylantrag gezwungen, weil in einigen europäischen Ländern die Versorgung sehr schlecht ist und die Lebensbedingungen desaströs sind. Für Griechenland beispielswiese stellten die Oberverwaltungsgerichte Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen fest, dass eine Rücküberstellung dort anerkannter Flüchtlinge von Deutschland nach Griechenland grundsätzlich nicht möglich ist. Selbst gesunde, arbeitsfähige Schutzberechtigte seien dort nicht in der Lage ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) zu befriedigen. In kürzester Zeit drohten Verelendung und menschenrechtswidrige Bedingungen, was eine Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (GRCh) darstelle.

Zwei Urteile im Juni 2024

Da Betroffene in einer solchen Konstellation nicht zur Rückkehr in das Land gezwungen werden dürfen, das ihnen internationalen Schutz zugesprochen hat, stellt sich die Frage, wie mit dieser Schutzzuerkennung in dem Mitgliedstaat umzugehen ist, in den der Betroffene weitergewandert ist: Reicht die Bindungswirkung der Entscheidung im ersten Mitgliedstaat so weit, dass sie vom zweiten Mitgliedstaat schlicht zu übernehmen ist? Oder kann der zweite Mitgliedstaat eine eigene Prüfung der Schutzberechtigung vornehmen?

Wenn kein neuer Asylantrag im zweiten Mitgliedstaat gestellt wird: Kann ein im ersten Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling trotz dieser Anerkennung durch den zweiten Mitgliedstaat in sein Herkunftsland ausgeliefert werden?

Mit der Frage nach derart bestehenden oder eben nicht bestehenden Bindungswirkungen der vorherigen Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten befasste sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) und sprach am 18. Juni 2024 zwei Urteile.

Erstes Urteil: Selbstständige Prüfung mit Kooperationspflicht 

Auf Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts beantwortete der EuGH in einer der beiden Entscheidungen (C‑753/22) die Frage, ob die Flüchtlingseigenschaft allein deshalb zuzuerkennen ist, weil diese von einem anderen Mitgliedstaat schon zuerkannt worden ist, oder ob eine neue, eigenständige Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz vorgenommen werden darf – mit der Möglichkeit der Ablehnung trotz des in dem anderen Mitgliedstaat bestehenden Schutzstatus. Vor allem mit Blick auf die teils erheblich voneinander abweichende Anerkennungspraxis in den europäischen Mitgliedstaaten ist das Urteil von großer praktischer Bedeutung.

Im konkreten Fall hatte eine syrischer Staatsangehörige 2018 in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen und danach in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) prüfte den Antrag, da eine Zurückweisung nach Griechenland wegen der dort fehlenden Versorgung mit den elementarsten Gütern nicht möglich war, lehnte die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft jedoch ab. Das BAMF gewährte lediglich subsidiären Schutz, weil es davon ausging, dass der Antragsstellerin in Syrien keine Verfolgung droht.

Deutsches Gericht wendet sich an EuGH 

Nach Abweisung der gegen diesen Bescheid gerichteten Klage durch das Verwaltungsgericht legte die Klägerin eine Sprungrevision ein, sodass ihr Fall direkt zum Bundesverwaltungsgericht kam. Zur Begründung führte sie aus, das Bundesamt sei an die Entscheidung der griechischen Behörden gebunden.

Eine solche Bindungswirkung der Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten aufgrund des Unionsrecht sah das Bundesverwaltungsgericht hingegen nicht als gegeben an. Dennoch richtete es an den EuGH die Frage, ob der in Art. 3 Absatz 1 Satz 2 der Dublin III Verordnung enthaltene Grundsatz der Prüfung durch einen einzigen Mitgliedstaat bedeuten könnte, dass die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft auch in allen anderen Mitgliedstaaten ohne erneute Prüfung anzuerkennen sei.

Kein einheitlicher Asylstatus

Dies verneint der EuGH und führt dazu aus: Da kein in der ganzen Union einheitlich gültiger Asylstatus gesetzlich verankert wurde, bestehen keinerlei unionsrechtliche Pflichten, die Asylentscheidungen anderer Mitgliedstaaten automatisch zu übernehmen. Demnach kann das Schutzbegehren im zweiten Mitgliedstaat nochmals geprüft werden – mit offenem Ausgang, mitunter sogar einer Ablehnung des Asylantrags.

Die Entscheidungen der Mitgliedsstaaten sollen, soweit dies möglich ist, kohärent sein.

Aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten folgt laut EuGH jedoch die Verpflichtung, die der Entscheidung des ersten Mitgliedstaates zu Grunde liegenden Anhaltspunkte in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Entscheidungen der Mitgliedsstaaten sollen, soweit dies möglich ist, kohärent sein. Dazu ist laut EuGH ein enger Informationsaustausch unerlässlich.

Konkret muss der zweite Mitgliedstaat den ersten Mitgliedstaat mit einer Stellungnahme über den neuen Antrag informieren und um die Informationen bitten, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben. Daraufhin hat im zweiten Mitgliedstaat eine einzelfallgerechte, objektive und unparteiische Prüfung anhand genauer und aktueller Informationen zu erfolgen.

Diesen konkreten Anforderungen an die Prüfung wird das bisherige Vorgehen des BAMF jedoch nach der Erfahrung von PRO ASYL nicht gerecht. Die positive Entscheidung des ersten Mitgliedsstaates wird nur als Indiz und keinesfalls mitsamt der Begründung im vollen Umfang berücksichtigt. Somit wurden unter anderem die allein im Zeitraum zwischen Januar 2022 und März 2024 über 30.000 gestellten Asylanträge von Personen, denen in Griechenland bereits internationaler Schutz zuerkannt worden war (BT-Drucksache 20/11462 S. 21), verfahrensfehlerhaft bearbeitet.

Zweites Urteil: Auslieferung eines anerkannten Flüchtlings nicht möglich 

Auf einen Informationsaustausch infolge des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit stellt der EuGH auch im zweiten am selben Tag ergangenen Urteil ab (C‑352/22). Der Fall betrachtet die Bindungswirkungen allerdings aus einem anderen Blickwinkel.

Der Antragssteller ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Herkunft, der in Italien im Mai 2010, aufgrund einer drohenden politischen Verfolgung durch die türkischen Behörden, als Flüchtling anerkannt wurde. Seit 2019 hielt er sich in Deutschland auf. Aufgrund eines türkischen Haftbefehls wurde er zum Zweck der Auslieferung über Interpol zur Festnahme ausgeschrieben und in Deutschland festgenommen. Er soll bei einer familiären Auseinandersetzung seine Mutter getötet haben.

Auslieferung in die Türkei? 

Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm ging ursprünglich davon aus, dass der Unionsgesetzgeber Asyl- und Auslieferungsverfahren als voneinander unabhängige Verfahren bewertet, weshalb die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft für ein Auslieferungsverfahren nicht verbindlich sein könne. Das Gericht urteilte also, der Betroffene könne, trotz der in Italien zuerkannten Flüchtlingseigenschaft, in die Türkei ausgeliefert werden.

Der die Auslieferung für zulässig erklärende Beschluss wurde aber vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Hierauf setzte das OLG Hamm das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob die Flüchtlingsanerkennung in Italien im Auslieferungsverfahren Bindungswirkungen entfaltet.

Der EuGH stellte nun klar, dass eine Auslieferung ohne Beachtung der in dem ersten Mitgliedstaat zuerkannten Flüchtlingseigenschaft nicht zulässig ist. Für die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft sei unionsrechtlich ein Verfahren vorgesehen, das durch eine Auslieferung umgangen werden würde. Die Auslieferung beende faktisch die Flüchtlingseigenschaft, indem die darin verbürgten Rechte genommen würden.

Mitgliedstaaten müssen sich informieren

Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gebietet in dieser Konstellation nicht nur einen Informationsaustausch. Der erste Mitgliedstaat ist vielmehr darum zu bitten, eine Prüfung und gegebenenfalls eine Entscheidung zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu treffen, heißt es im Urteil weiter. Diese Aberkennung gewährleistet eine der europäischen Grundrechtecharta entsprechende Prüfung. Vor der Auslieferung muss darüber hinaus gewährleistet sein, dass kein ernsthaftes Risiko der Folter, Todesstrafe oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht.

Auch aus dieser Entscheidung ergeben sich klare Handlungsanweisungen für den zweiten Mitgliedstaat: Dieser muss sich von dem ersten Mitgliedstaat, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hat, sämtliche Informationen, die zu dieser Entscheidung geführt haben, zukommen lassen. Außerdem hat er den ersten Mitgliedstaat über das Auslieferungsersuchen zu informieren und ihm seine diesbezügliche Stellungnahme zukommen zu lassen. Vor allem aber darf der zweite Mitgliedstaat keine Auslieferung an den Herkunftsstaat vornehmen, wenn der erste Mitgliedstaat nicht die Flüchtlingseigenschaft aberkennt.

Positive und negative Folgen der Urteile 

Für die zahlreichen Asylantragssteller*innen, die schon zuvor Schutz in einem anderen Staat zuerkannt bekommen haben, bringen die EuGH-Entscheidungen Vor- und Nachteile. Zwar stellt es nun immer einen angreifbaren Verfahrensmangel dar, sofern das BAMF es unterlässt, eine andere europäische Entscheidung durch Auswertung der dortigen Asylverfahrensakte zu berücksichtigen.

Dabei kann es sich aber auch negativ auswirken, wenn die Betroffenen in der Anhörung im zweiten Staat von der Darstellung ihrer Asylgründe im ersten Staat abweichen sollten – was schlicht wegen des langen zeitlichen Abstands passieren könnte. Auch drohen Übersetzungsfehler in diesen Fällen nicht nur in Bezug auf die Sprache des Herkunftsstaates, sondern auch in Bezug auf die Sprache des ersten Mitgliedstaats. Anwältinnen und Anwälte werden ebenfalls für eine bestmögliche Beratung vor die Herausforderung gestellt, an die Verfahrensakten aus dem europäischen Ausland zu gelangen.

Das EuGH-Urteil zu den Voraussetzungen für eine Auslieferung von in anderen Mitgliedstaaten anerkannten Flüchtlingen wirkt sich nicht nur auf diese Konstellation aus. Es muss vielmehr ebenfalls in Bezug auf jene Fälle berücksichtigt werden, in denen das BAMF nochmalige Asylanträge von in anderen Mitgliedstaaten bereits als international schutzberechtigt Anerkannte prüft, weil die Betroffenen wegen einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot der Folter) beziehungsweise Art. 4 GRCh nicht in diese Mitgliedstaaten abgeschoben werden dürfen.

Einer Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat – und erst recht deren Vollzug – steht aber Schutzanerkennung des anderen Mitgliedstaates entgegen, die laut dem zweiten EuGH-Urteil nicht faktisch aberkannt werden darf.

Deutsche Behörden müssen Entscheidungspraxis ändern

Bislang ist das BAMF der Ansicht, es könne im Falle der Ablehnung des Asylantrags eine Abschiebungsandrohung in Bezug auf den Herkunftsstaat erlassen, da aus seiner Sicht keine Schutzbedürftigkeit bestehe. Es stehe den Betroffenen frei, sich in jenen Mitgliedstaat zu begeben, der ihnen internationalen Schutz zugesprochen hat, oder in den Herkunftsstaat zurückzukehren. Notfalls könnten die Betroffenen, wenn sie keine der beiden Optionen umsetzten, auch in den Herkunftsstaat abgeschoben werden.

Einer Abschiebungsandrohung in den Herkunftsstaat – und erst recht deren Vollzug – dürfte aber die Schutzanerkennung des anderen Mitgliedstaates entgegenstehen, die laut dem zweiten EuGH-Urteil nicht faktisch aberkannt werden darf. Es bleibt dem BAMF nur die im zweiten Urteil genannte Möglichkeit, eine Aberkennung des Schutzstatus im ersten Mitgliedstaat zu erbitten. Geschieht dies nicht, dürfte der Erlass einer Androhung der Abschiebung in den Herkunftsstaat und erst recht deren Vollstreckung gegen Unionsrecht verstoßen.

Ein weiteres Verfahren, welches unter anderem explizit diese Frage aufwirft, ist momentan vor dem EuGH anhängig (C‑288/23). Bis zur Beantwortung durch den EuGH muss das BAMF die bisherige Praxis, Erlasse mit Abschiebungsandrohungen in den Herkunftsstaat auszustellen, sofort einstellen.