02.08.2024 Wir zitieren eine Pressemitteilung von Pro Asyl und anschließend den Bericht Zehn Jahre nach dem 74. Ferman sorgt Çira TV für Aufklärung (Der ezidische Sender Çira TV sorgt dafür, dass an die Opfer des IS-Genozids in Şengal nicht nur am Jahrestag erinnert wird, sondern dass sie und ihre Geschichten Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins sind.)
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Pressemitteilung von Pro Asyl:
Vor dem zehnten Jahrestag des Völkermords an den Jesid*innen im Irak fordern PRO ASYL und Wadi e.V. ein Bleiberecht für Jesid*innen in Deutschland. Die Opfer des vom Bundestag anerkannten Völkermords brauchen Sicherheit. Im ersten Schritt muss endlich ein bundesweiter Abschiebestopp beschlossen werden.
„Aus Deutschland dürfen keine Opfer des Völkermords abgeschoben werden. Die Jesid*innen brauchen Sicherheit und ein Bleiberecht hier. Statt den Überlebenden dieses vom Bundestag anerkannten Genozids diese Sicherheit zu gewähren, droht die Abschiebung an den Ort des Völkermords. Es muss endlich ein bundesweiter Abschiebestopp beschlossen werden“, sagt Karl Kopp, Geschäftsführer von PRO ASYL.
Auch wenn aktuell keine neuen Abschiebungen bekannt sind, wird Jesid*innen gezeigt, dass sie in Deutschland keine Perspektive bekommen sollen. In Bayern zum Beispiel wird irakischen Geflüchteten, darunter auch Jesid*innen, systematisch die Duldung entzogen oder als ungültig gestempelt. Damit verlieren sie ihre Arbeitserlaubnis und auch die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung zu leben. Und auch in anderen Bundesländern werden Jesid*innen behördlich unter Druck gesetzt und ihnen werden Sanktionen wie Arbeitsverbot und Leistungskürzungen angedroht.
Flüchtlingslager im Irak sollen geräumt werden
Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Irak ist ein Abschiebestopp längst überfällig: Die Lage für Jesid*innen hat sich in den letzten Wochen verschärft. Nach dem Willen der irakischen Regierung sollen Zehntausende Jesid*innen die Flüchtlingslager im Nordirak verlassen – ohne, dass es einen sicheren Ort für sie gibt.
Konkret bedeutet das: Genau zehn Jahre nach dem Beginn des Völkermords durch den IS stehen die Jesid*innen im Irak vor einer völlig ungewissen Zukunft. Es ist unklar, ob die Lager ab August noch eine Grundversorgung erhalten, ob die Schulen in den Camps nach den Sommerferien wieder öffnen werden. Die Entscheidungen Bagdads haben schon jetzt verheerende Auswirkungen auf die Menschen.
„Grundsätzlich wäre es gut, wenn die Jesidinnen und Jesiden endlich die Lager verlassen und ein normales Leben führen könnten. Doch genau das passiert nicht: Denn die Jesidinnen und Jesiden können in ihrer Herkunftsregion Sinjar im Irak nicht sicher leben – und auch in anderen Regionen im Irak nicht. Ohne diese Camps drohen sie obdachlos, mittellos und schutzlos zu werden, zudem verlieren sie ihre Schulen und ihre Gesundheitsversorgung“, betont Shokh Mohammed von Wadi e.V.
Auswärtiges Amt: Zukunftsaussichten bleiben schwierig
Das sieht das Auswärtige Amt ähnlich. Im aktuellen Lagebericht zum Irak (Stand April 2024) heißt es: Ungeachtet von Bemühungen, die Lage der Jesid*innen zu verbessern, „bleiben die Zukunftsperspektiven in Sinjar angesichts herausfordernder Lebensbedingungen, der Präsenz von nicht-staatlichen Milizen sowie einer mangelnden Umsetzung des sog. Sinjar-Abkommen schwierig. Auch das kollektive Trauma des Völkermords stellt für Mitglieder der Gemeinschaft häufig ein Rückkehrhindernis dar, zumal in die traditionellen Siedlungsgebiete und Orte des IS-Verbrechens in Sinjar. Die geplante Schließung von IDP Camps [IDP=Internally displaced persons] in der Region Kurdistan Irak zum 30. Juli 2024 und damit verbundene Umsiedlung in ‚informelle Camps‘ mit mutmaßlich schlechterer Versorgung würde die Lage der mehrheitlich in Camps lebenden Jesid*innen zusätzlich verschärfen.“
Hintergrund: Die Lage für Jesid*innen im Irak
Vor zehn Jahren, am 3. August 2014, begann die Terrororganisation IS damit, jesidische Frauen, Männer und Kinder zu verschleppen, zu versklaven, zu vergewaltigen und zu töten. Seit diesem Massaker und auch weiter nach dem Sieg über den IS 2017 leben die meisten Jesid*innen noch immer in Flüchtlingslagern, weil sie wegen der prekären Sicherheitslage in ihrer Heimatregion Sinjar (Shingal) keine Möglichkeit haben, in ihre früheren Orte und Häuser zurückzukehren.
Diese IDP-Camps (Internally Displaced Persons) für die Jesid*innen liegen in den von der kurdischen Regionalregierung verwalteten Gebieten des Irak, für ihren Unterhalt ist jedoch größtenteils die irakische Zentralregierung zuständig. Diese hat angekündigt, die Unterstützung für die Camps zum 31. Juli einzustellen. Die Regierung in Bagdad will, teils mit finanziellen Anreizen, teils mit Druck, die Jesid*innen dazu bewegen, in den Sinjar zurückzukehren.
Basma Aldikhi, Mitarbeiterin von Wadi e.V. und jesidische Aktivistin, die vom IS verschleppte und missbrauchte Frauen und Mädchen unterstützt, hat beobachtet: „Die Menschen in den Camps sind überall unerwünscht, sie haben das Gefühl, dass sie von überall vertrieben und weder von Kurdistan noch vom Irak akzeptiert werden.“
In diese völlig unsichere Situation dürfen deutsche Bundesländer keine Jesid*innen abschieben. Ihr Herkunftsgebiet Sinjar liegt im strategisch wichtigen Grenzgebiet zwischen Irak, Syrien, Türkei und Iran. Dort kämpfen verschiedene staatliche und nichtstaatliche Akteure, teils mit Waffengewalt, um die Macht. Aktuell läuft im Nordirak eine erneute Militäroffensive der türkischen Armee gegen Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Auch in andere Gebiete Iraks könnten Jesid*innen nicht ziehen, denn ohne ihre Gemeinschaft sind sie schutzlos Ausgrenzung, Diskriminierung und Angriffen ausgesetzt.
Ausführlich beschrieben ist die verfahrene Situation im Gutachten „Zehn Jahre nach dem Völkermord: Zur Lage der Jesidinnen und Jesiden im Irak“, das PRO ASYL und Wadi e.V. im April 2024 veröffentlicht haben. Das Ergebnis: Ohne relevante Sicherheitsgarantien, eine jesidische Selbstverwaltung, funktionierende Strafverfolgungsmaßnahmen und Entschädigungsprozesse sowie Klärung des Status der umstrittenen Gebiete und einer Demilitarisierung kann über eine Zukunft der Jesid*innen im Irak nicht einmal ansatzweise diskutiert werden.
Der ezidische Sender Çira TV sorgt dafür, dass an die Opfer des IS-Genozids in Şengal nicht nur am Jahrestag erinnert wird, sondern dass sie und ihre Geschichten Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins sind.
Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) Şengal mit dem Ziel, eine der ältesten Religionsgemeinschaften auszulöschen: Die Ezidinnen und Eziden. Durch systematische Massakrierung, Vergewaltigung, Folterung, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft den von ihr als Ferman bezeichneten 74. Völkermord in ihrer Geschichte. Mindestens 10.000 Menschen fielen Schätzungen nach den Massakern des IS zum Opfer. Mehr als 400.000 Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt. Bis heute werden 2.700 Frauen und Kinder vermisst. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Femizid dar.
Als der IS vor zehn Jahren in Şengal einrückte, zogen sich die rund 12.000 in der Region stationierten Peschmerga der südkurdischen Regierungspartei PDK ohne Vorwarnung zurück und überließen die Bevölkerung schutzlos den Islamisten. Wer fliehen konnte, ging ins Gebirge. Dort schützte zunächst ein Dutzend Guerillakämpfer der HPG den Zugang zum Gebirge und verhinderte das Eindringen der Dschihadisten. Weitere HPG-Einheiten wurden zur Verteidigung der Ezid:innen nach Şengal geschickt und aus Rojava kamen zwei Bataillone der Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ aus Rojava Hilfe. Es wurde ein Fluchtkorridor eingerichtet, um die zu Zehntausenden auf den Şengal-Berg geflohenen Menschen zu evakuieren. Über diesen Korridor konnten schon in den ersten Tagen rund 50.000 Ezid:innen nach Rojava gelangen. So konnte ein noch größeres Massaker verhindert werden.
Doch der Genozid und Femizid an den Ezid:innen ist nach wie vor eine offene Wunde. Der im nordrhein-westfälischen Löhne ansässige ezidische Fernsehsender Çira TV sorgt dafür, dass der Opfer des IS-Genozids in Şengal nicht nur am Jahrestag gedacht wird, sondern dass sie und ihre Geschichten Bestandteil des öffentlichen Bewusstseins sind. Eine der Mitarbeiterinnen ist Ayfer Özdogan, die das Format Çira Report moderiert.
Ayfer, als Ezidin und Medienschaffende/Journalistin: welche Bedeutung hat der 10. Jahrestag des Genozids an der ezidischen Gemeinschaft in Şengal für dich persönlich?
Genozid wird im Ezidischen oder auch Kurdischen als „Ferman“ bezeichnet. Unsere Eltern und Großeltern sprachen früher von „Ferman rabû. Her kes bi derekê çû“, in etwa „Alle flüchteten, als der Ferman losbrach“. Was das genau bedeutete, konnte ich mir damals nicht richtig vorstellen. „Ferman“ bezeichnete im Osmanischen Reich einen Erlass oder ein Dekret. Im Zuge der ezidischen Verfolgungsgeschichte setzte sich der Begriff innerhalb unserer Gemeinschaft als Bezeichnung für Massaker durch. Den Genozid und Feminizid in Şengal, der am 3. August 2014 von Daesh, dem sogenannten IS verübt wurde, beklagen wir als 74. Ferman an unserem Volk. Er ist der vorerst letzte in einer jahrhundertelangen Reihe von Verordnungen zur Vernichtung unseres Volkes.
An den 3. August erinnere ich mich noch gut. Wir saßen vor dem Fernseher und verfolgten mit, wie zehntausende Menschen mit dem, was sie bei sich hatten, vor dem IS ins Gebirge flüchteten. Es war schrecklich. Die Bilder der Gräueltaten gehen mir bis heute nicht aus dem Kopf. Es macht etwas mit dir, wenn die Verfolgungsgeschichte deiner Eltern und Großeltern, von der du eigentlich geglaubt hattest, dass diese der Vergangenheit angehört, plötzlich wieder real wird. Dir wird klar: Die Verfolgung hat eigentlich nie geendet. Sie passiert immer und immer wieder. Besonders als Frau, als ezidische Frau, war und bin ich sehr betroffen. Der IS, Daesh, hat es insbesondere auf Frauen abgesehen. Sie haben Frauen als Kriegsbeute genommen, sie verschleppt, versklavt, vergewaltigt und verkauft. Nicht wenige Ezidinnen sind bis heute in ihrer Gewalt. Mich hat dieser Genozid dazu gebracht, mich intensiver mit mir selbst, meiner Herkunft, der Geschichte meiner Vorfahren und im Besonderen mit meinem Glauben auseinanderzusetzen.
Welche Rolle spielt der ezidische Fernsehsender Çira TV bei der Aufklärung über den Genozid und die Aufarbeitung der Ereignisse?
Çira TV ist der erste ezidische Fernsehkanal. Der Sender war erst einige Monate vor dem Genozid mit einem regulären Programm und Livesendungen in den Betrieb gegangen. Ziel war es, das Leben, den Glauben und die Kultur der Ezid:innen in allen Siedlungsgebieten abzubilden. Man wollte der ezidischen Gemeinschaft ein Gesicht geben, eine Stimme. Es war ein kleiner Sender, mit einem Team, das damals erst ganz frisch ins „TV-Geschäft“ eingestiegen war. Dieser kleine Sender, der eigentlich ein Kultursender sein sollte, war plötzlich mit einem Völkermord konfrontiert. Aus dem Nichts musste alles umorganisiert werden. Man musste über den Genozid und Feminizid berichten. Das Schicksal der Menschen zeigen und der Welt vor Augen halten. Die Gesichter und die Gräueltaten der Täter festhalten und anklagen. Çira TV war auf einen Schlag nicht mehr ein kleiner Kultursender für die ezidische Community. Er war nun der Sender geworden, der den Genozid dokumentierte und dafür sorgte, dass die ganze Welt mitbekam, was in Şengal geschehen war. Das war eine enorme Herausforderung mit vielen schlaflosen Nächten. Nicht nur logistisch musste der Sender ständig auf dem neuesten Stand sein. Die Belegschaft hatte auch die Aufgabe, psychische Unterstützung und Beistand zu leisten; sowohl für die Mitarbeitenden der Redaktionen, aber natürlich auch für die Korrespondent:innen vor Ort, die das Geschehen aus Flucht, Vertreibung und Verfolgung journalistisch verarbeiten mussten, gleichzeitig aber auch Erste Hilfe leisteten. Sie schulterten Kranke, Frauen und Kinder, verteilten Wasser – damals herrschten in Şengal 50 Grad, Schatten gab es weit und breit nicht und die Menschen mussten in der sengenden Hitze auf den Berg steigen, um sich zu retten. Es gibt da ein kurdisches Sprichtwort, das lautet „Keine Freunde, nur die Berge“. Dies gilt insbesondere für die Ezid:innen. Sie werden seit jeher verfolgt und vertrieben und man hat immer wieder versucht, sie auszulöschen. Und wir wissen, dass Geschichte bisher immer nur von den Siegern, den Kolonialisten, den Vertreibern geschrieben wurde. Deswegen ist es von unschätzbarem Wert und Wichtigkeit, dass die Ezid:innen nun ihre eigene Stimme haben. Dass sie eigene Informationskanäle haben, dass sie ihre Geschichten selbst erzählen, dass sie Perspektiven zeigen können. Und dass all dies von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Es ist wichtig, dass Çira TV existiert, auch im Hinblick auf Erinnerungskultur und Aufklärungsarbeit sowie eine vollständige juristische, politische und zivilgesellschaftliche Aufarbeitung. Wir wollen, dass alle Täter, Komplizen, Kollaborateure, Hintermänner und Ermöglicher zur Rechenschaft gezogen werden und allen Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit widerfährt. Çira TV ist ein ezidischer Sender. Er versteht sich als Stimme der Ezid:innen in aller Welt.
Wie hat sich die Berichterstattung über den Genozid und die Situation der Ezid:innen in den letzten zehn Jahren entwickelt?
Zu Beginn des Genozids gab es sehr viel Anteilnahme. Viele Journalist:innen aus aller Welt sind nach Şengal und nach Rojava gereist. Nicht nur, um die Gräueltaten zu dokumentieren und über den IS zu berichten. Dies liegt nicht allzu fern, denn viele IS-Täter stammten ursprünglich weder aus Syrien noch aus dem Irak. Sie sind aus aller Welt in die Region gereist, um im Namen des Islam ein Kalifat zu errichten und einen Völkermord zu verüben. Es wurde auch viel über die Schicksale der Menschen, die diesem barbarischen Völkermord zum Opfer fielen, berichtet. Insbesondere das Schicksal der Frauen und Kinder hat viel Platz gefunden, das Interesse war groß. Vor allem fand aber auch der unermüdliche Widerstand der Ezid:innen und Kurd:innen Platz in der Berichterstattung, insbesondere im Westen. Alle berichteten von den mutigen Kämpferinnen und Kämpfern der kurdischen und ezidischen Widerstandseinheiten. Diese Berichterstattung hat aller Welt gezeigt, dass Ezid:innen und alle anderen vom IS verfolgten Völker und Religionsgemeinschaften nicht nur macht- und schutzlose Opfer sind. Es wurde deutlich, welch enormen Widerstands- und Kampfgeist diese Menschen haben. Dass sie nicht bloß fliehen, sondern gewillt sind, ihre Heimat und Gemeinschaft zu verteidigen.
Leider stellen wir fest, dass der Opfer des 74. Ferman in den letzten Jahren fast ausschließlich am Jahrestag gedacht wird. Şengal ist weitgehend aus den Medien verschwunden und schafft es nur rund um den 3. August wieder in die Schlagzeilen. Dann geht es in der Regel um Zahlen und Fakten: 10.000 Getötete und 7.000 Verschleppte, abertausende Vermisste – darunter mehr als 2.700 Frauen und Kinder – unzählige Massengräber, von denen die meisten bis heute nicht geöffnet wurden, und bis zu 400.000 Geflüchtete. In der Berichterstattung finden sich auch Hinweise auf die damals aus Şengal geflüchteten Ezid:innen, die in Flüchtlingslagern im Irak leben, und die schlechten Zustände in den Camps. Das Opfernarrativ wird hier sehr stark bedient.
Über den IS dagegen wird häufig berichtet. Man berichtet davon, wie IS-Mitglieder Gräueltaten verübten. Immer wieder wird über einzelne IS-Täter und Rückkehrer berichtet. Man versucht zu verstehen, wie Menschen ideologisch so manipuliert wurden, dass sie einen Völkermord begehen konnten. Es wird über das Leben nach dem IS berichtet, darüber, wie man diese Menschen, die nach Syrien oder den Irak gereist sind, um einen Völkermord zu begehen – und dies auch tatsächlich taten – in die Gesellschaft reintegrieren kann. Es ist eine Art Fetischisierung des Bösen, der Täter. Eine Fixierung darauf, Empathie für etwas Unmenschliches, unvorstellbar Böses, zu schaffen.
Mir persönlich bereitet es Schwierigkeiten zu akzeptieren, dass der Überlebenskampf der Ezid:innen weitgehend in Vergessenheit gerät. Dass ihre Errungenschaften nach dem Genozid praktisch ignoriert werden. Mit kaum verfügbaren Mitteln hat die ezidische Gemeinschaft ihre Heimat verteidigt und vom IS befreit und trotz Repression seitens der irakischen Zentralregierung in Bagdad sowie der kurdischen Regionalregierung mit dem Wiederaufbau in Şengal begonnen. Sie hat sich nach den Prinzipien des demokratischen Konföderalismus organisiert, hat eine Selbstverwaltung aufgebaut, Rätestrukturen und Kommunen gebildet. Mittlerweile sind die Ezid:innen dabei, eine kooperative Wirtschaft aufzubauen, um ihre Lebensgrundlagen selbst zu schaffen und der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Sie haben auch eigene Verteidigungseinheiten aufgebaut. Insbesondere die autonome Organisierung der Frauen müsste eigentlich mehr Platz in den westlichen Medien finden. Denn die Geschichte hat vor zehn Jahren einmal mehr gezeigt, dass Ezidinnen und Eziden sich nur auf sich selbst verlassen können. Und dass sie in der Lage sein müssen, für sich selbst zu sorgen.
In der hiesigen Berichterstattung fehlen natürlich auch die ständigen militärischen Angriffe des türkischen NATO-Staates. Die Türkei führt seit der Befreiung Şengals einen Drohnenkrieg gegen die dortige Bevölkerung. Ob führende Persönlichkeiten aus Politik, Religion und Gesellschaft oder die Infrastruktur, etwa wieder- und neuaufgebaute Schulen, Krankenhäuser und Begegnungsstätten; alles wird gezielt bombardiert. Es scheint so, als wolle die Türkei den Genozid des IS fortsetzen. Als wolle sie das, was dem IS nicht vollständig gelang, vollenden. Erst kürzlich wurde in Şengal ein Auto, in dem Journalist:innen saßen, von einer türkischen Drohne angegriffen. Es handelte sich um Mitwirkende von Çira TV und des Radiosenders ÇiraFM, nämlich Medya Hussein und Murad Mîrza Ibrahim sowie ihr Fahrer Khalaf Khdir. Sie fuhren zu einem Interviewtermin mit Überlebenden und Zeugen des Ferman vom 3. August, als ihr Wagen erfasst wurde. Sie wurden schwer verletzt, mein Kollege Murad Mîrza erlag wenige Tage später in einem Krankenhaus seinen Verletzungen. Angriffe wie diese sind durch nichts zu rechtfertigen. Aber mediale Aufmerksamkeit erlangen sie nicht.
Auch bietet die westliche Berichterstattung keine Einblicke dahingehend, inwieweit die internationale Gemeinschaft eine Verantwortung hinsichtlich der Aufarbeitung des Genozids in Şengal trägt. Ein nicht unerheblicher Teil der Kriegsverbrecher stammt aus Ländern außerhalb der Nahostregion. Viele von ihnen sind nach dem Fall des Kalifats zurück in ihre Heimatländer gegangen, oder kamen getarnt als Flüchtlinge nach Europa oder in die USA und beantragten Asyl. Einige zehntausend IS-Täter werden bis heute in Auffanglagern und Haftzentren in Nord- und Ostsyrien festgehalten. Diese Camps sind überfüllt mit ausländischen Menschen, die sich immer weiter radikalisieren. Eine tickende Zeitbombe. Das Erschreckende: Die Heimatländer dieser Radikalen wollen ihre eigenen Staatsangehörigen nicht zurück. Sie diskutieren sogar darüber, ihnen die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Gleichzeitig erkennen sie die Demokratische Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien (DAANES) und etwaige in Rojava geführte Prozesse gegen IS-Mitglieder nicht an. Man entledigt sich also seiner eigenen Bürgerinnen und Bürger, um sich der Verantwortung und der juristischen und politischen Verfolgung zu entziehen. Gleichzeitig verhindert man aktiv, dass andere eben diese Auseinandersetzung führen. Diese tausenden Täterinnen und Täter sind schließlich nicht vom Himmel gefallen. Sie haben sich über Jahre in ihren Heimatländern radikalisiert, in Moscheen, Online-Netzwerken und anderen Strukturen. Diese Radikalisierung und der „Exodus“ nach Syrien und in den Irak waren und sind ein enormer logistischer und finanzieller Aufwand. Wie wurde das finanziert und inwieweit sind diese Netzwerke heute noch intakt? Sollte man (und wenn ja, wie) auch diese Mobilisierungs- und Rekrutierungsnetzwerke juristisch verfolgen und zur Verantwortung ziehen? Was würde dies für die hiesige Gesellschaft und ihr Selbstverständnis bedeuten?
Welche Herausforderungen siehst du weiterhin im Umgang mit dem Genozid an den Ezid:innen und der Unterstützung der Überlebenden?
Es sind zu viele. Viele Ezidinnen haben im Ausland, insbesondere in westlichen Ländern, Zuflucht gefunden. Ihnen wurde Asyl gewährt. Das ist gut. Aber es fehlt an Möglichkeiten der Aufarbeitung. Die Menschen sind vor Krieg und Genozid geflohen. Sie haben Angehörige verloren, mussten bei Tötungen zusehen. Viele Menschen, vor allem Frauen, waren in IS-Gefangenschaft, mussten Unvorstellbares durchleben. Diese Menschen brauchen mehr als nur Asyl, ein Dach und eine Arbeit. Sie sind traumatisiert und brauchen psychotherapeutische Hilfe. Hier in Deutschland, Europa, aber vor allem eben auch im Irak. Der zweite Punkt ist, man nimmt die Menschen in Şengal nicht ernst. Vor einigen Wochen sprach sich die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, für die Umsetzung des im Oktober 2020 geschlossenen Abkommens für Şengal aus. Dies habe für Deutschland höchste Priorität. Die Menschen in Şengal wollen dieses Abkommen nicht. Es wurde über ihre Köpfe hinweg zwischen Bagdad und Hewlêr (Erbil) unter Mitarbeit der USA und vor allem der Türkei geschlossen. Dieses Abkommen heißt für die Ezid:innen, dass in Şengal der Zustand vor dem Genozid wiederhergestellt werden soll. Jener Zustand also, der den Völkermord erst ermöglichte. Das 9.-Oktober-Abkommen würde auch bedeuten, dass den Menschen in Şengal alle gesellschaftlichen und politischen Errungenschaften aus den Händen gerissen würden. Interessant ist, dass Luise Amtsberg, die vorgibt, dass ihr das „Schicksal“ der ezidischen Gemeinschaft sehr am Herzen liegen würde, erst letzte Woche im Irak und in der Autonomen Region Kurdistan war, auch um über dieses Abkommen zu sprechen. Und wo war Luise Amtsberg nicht? In Şengal. Und mit wem hat sie nicht gesprochen? Mit Vertreter:innen der Demokratischen Autonomieverwaltung von Şengal. Es ist absurd. Für die Bundesregierung ist die Realisierung dieses Abkommens ein Weg, um sich aus der Verantwortung zu ziehen. Wenn dieses Abkommen umgesetzt wird, muss sie sich politisch nicht mehr mit den dortigen Ereignissen und Zuständen, vor allem aber auch mit der eigenen Verantwortung auseinandersetzen. Sie kann sich auf das Abkommen berufend aus der Affäre ziehen. Schon heute werden reihenweise Ezid:innen abgeschoben – in ein Şengal, das keine Hilfe von internationalen NGOs erhält und dessen politische und gesellschaftliche Repräsentant:innen nicht anerkannt werden. Es ist absurd. Einerseits wollen sie keinen Wiederaufbau nach den Vorstellungen und dem Willen der Bevölkerung Şengals, andererseits setzt man alles daran, es politisch so aussehen zu lassen, als sei alles wieder in Ordnung.
Welche Maßnahmen ergreift das ezidische Fernsehen, um das Bewusstsein für den Genozid aufrechtzuerhalten und die Erinnerung an die Opfer zu bewahren?
Der ezidische Sender Çira TV hat die Mission, die Stimme der Ezid:innen zu sein. Unsere Mitarbeitenden im Irak und in Syrien berichten regelmäßig von den Geschehnissen und den Entwicklungen in Şengal und anderen Gebieten mit einer ezidischen Gemeinschaft. Dabei geht es primär darum, die Betroffenen des Genozids, die Überlebenden und ihre Angehörigen zu Wort kommen zu lassen. Wir machen Reportagen, Interviews, Dokumentationen und Dossiers zum Genozid, über die Opfer und mit den Überlebenden. Wir erzählen ihre Geschichten. Nein, eigentlich erzählen sie ihre Geschichten selbst. Wir sind nur ein Ventil, um ihre Stimmen und Geschichten zu transportieren. Genauso wie unsere Vorfahren die 73 Genozide zuvor nicht vergessen haben, dürfen wir auch nicht zulassen, dass dieser 74. Genozid vergessen wird. Auch die Selbstverwaltung von Şengal sowie die ezidische Frauenbefreiungsbewegung kommen bei uns zu Wort. Sie sind diejenigen, die die Bevölkerung Şengals vertreten. Sie sind ihre offiziellen Gesichter, ihre politischen Stimmen. Eine wichtige Errungenschaft der ezidischen Gesellschaft in Şengal ist es, dass es ihr nach dem Ferman gelungen ist, sich politisch und sozial wiederaufzubauen und zu organisieren. Wir Ezid:innen außerhalb von Şengal müssen das würdigen. Vor allem aber müssen die Menschen überall auf der Welt das anerkennen. Und Çira TV sorgt dafür.