Zivile Seenotrettung: 10 Jahre maritimer Widerstand im Mittelmeer

23.08.2024 Ein Beitrag von Maurice Stierl, zitiert aus nd vom 23.08.2024:

Maurice Stierl leitet die Forschungsgruppe »The Production of Knowledge on Migration« am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück und engagiert sich bei Alarm Phone

und daran anschließend: Seenotrettung: Am Anfang waren Unternehmer - Das erste zivile Rettungsschiff finanzierten Millionäre

Seit zehn Jahren stört die zivile Seenotrettung mit ihrer Arbeit die europäischen Staaten und ihre Grenzregime

Als die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihr Innenminister Matteo Piantedosi Anfang Juli nach Libyen reisten, um an einem »Transmediterranen Migrationsforum« in Tripolis teilzunehmen, wünschte ihnen die Nichtregierungsorganisation (NGO) Sea-Watch bezeichnenderweise »das Schlimmste«. In einem Beitrag auf X erklärte die Organisation, die »dystopische« libysch-italienische Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung erhöhe die Zahl der Toten bei der Überfahrt über das Mittelmeer weiter.

Daraufhin warf Meloni Sea-Watch ebenso bezeichnend vor, sich nicht gegen Schleuser zu engagieren, die sie für die Ertrunkenen verantwortlich machte. Sie erklärte, sie reise nach Libyen, »um den Menschenhandel, die illegale Einwanderung und das Sterben auf See zu stoppen«.

Am 25. August wird es zehn Jahre her sein: 2014 machte sich die erste nicht staatliche Rettungsorganisation im zentralen Mittelmeer auf die Suche nach in Not geratenen Booten von Migrant*innen. Seitdem ist im Mittelmeerraum ein großes Netz von Solidaritätsakteuren entstanden, das derzeit aus etwa zwei Dutzend Organisationen und Gruppen besteht.

Neben den vielen Rettungs-NGOs gibt es das Alarm Phone, eine ebenfalls vor zehn Jahren eingerichtete Notfall-Hotline, die bisher mehr als 8000 Booten in Seenot geholfen hat, im Mittelmeer, im Atlantik sowie im Ärmelkanal. Im Jahr 2017 wurde die zivile Flotte um Flugzeuge erweitert, die das Meer von oben überwachen und Rettungsschiffe zu Booten in Seenot leiten. 2019 entstand schließlich eine Koalition verschiedener Akteure, die als Koordinierungsstelle für die zivile Seenotrettung (Civil MRCC) bekannt wurde. Damit reagierte sie auf das Versagen der staatlichen Seenotleitstellen bei der Koordinierung der Rettung von Migrant*innen.

Als die NGO-Retter*innen zum ersten Mal in Erscheinung traten, gab es Bedenken, dass ihre Aktivitäten den EU-Mitgliedstaaten einen willkommenen Vorwand bieten würden, eigene Rettungsbemühungen zu reduzieren und diese stattdessen an Nichtregierungsorganisationen »auszulagern«. »Wir wollen nicht die Arbeit von Staaten machen«, war eine häufig geäußerte Sorge von Aktivist*innen in den ersten Jahren ihres Engagements.

Mittlerweile, ein Jahrzehnt später, lässt sich zweifellos feststellen, dass die EU-Staaten und insbesondere die italienische Regierung alles andere als glücklich darüber sind, dass NGOs weiterhin im Mittelmeer präsent sind. In Verleumdungskampagnen und regelrechten Kulturkämpfen werden die zivilen Organisationen verunglimpft und beschuldigt, »Taxidienste«, »Schmuggler« oder »Pull-Faktoren« für Menschen auf der Flucht zu sein. Und, zynischerweise, sogar für den Tod von Migranten verantwortlich zu sein.

Die NGOs haben der Vereinnahmung widerstanden, sich gegen Kriminalisierungsversuche gewehrt und sind weiterhin für viele EU-Staaten ein politisches Problem. Das liegt natürlich an ihrem unermüdlichen Rettungseinsatz, der zur Ausschiffung von Migranten in Europa führt – Menschen, die Meloni und andere EU-Politiker*innen viel lieber abgefangen und an ihre Herkunftsorte zurückgeschickt sähen, selbst um den Preis ihrer Inhaftierung in Folterlagern wie in Libyen.

Nicht staatliche Retter*innen legen offen, was Europa zu verbergen sucht: systematische Grenzgewalt.

Die zivile Seenotrettung bleibt auch deshalb ein Problem für die EU-Staaten, weil sie bei der Aufdeckung schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, an denen europäische Akteur*innen und ihre nordafrikanischen Verbündeten beteiligt sind, eine entscheidende Rolle spielt. Nur dank ihrer unerwünschten Präsenz sind unzählige Fälle von unterlassener Hilfeleistung für Migrant*innen in Seenot sowie gewaltsame oder gar tödliche Pushbacks und Abfangpraktiken öffentlich bekannt geworden. Nicht staatliche Retter*innen legen offen, was Europa zu verbergen sucht: systematische Grenzgewalt.

Während wir die Widerstandsfähigkeit der zivilen Seenotretter angesichts der ständigen Angriffe durch staatliche Behörden feiern sollten, müssen wir am zehnten Jahrestag ihres Engagements im Mittelmeer auch innehalten. Dass wir immer noch dringend nicht staatliche Akteure brauchen, um die schwere und oft traumatische Aufgabe der Seenotrettung zu bewältigen, ist ein Armutszeugnis für Europa. Statt sichere Alternativen zur Seemigration zu schaffen, setzt die EU weiterhin auf Abschreckung. In den vergangenen zehn Jahren hat dies zum Verlust Zehntausender Menschenleben geführt.

Gleichzeitig können wir zweifelsohne feststellen, dass ein Jahrzehnt der verstärkten Militarisierung der EU-Grenzen im Mittelmeer es nicht geschafft hat, die Überfahrten zu stoppen. Mehr als 2,5 Millionen Menschen haben seit 2014 die Seegrenzen Europas überquert.

Als Meloni vor zwei Jahren ihr Amt antrat, versprach sie, eine »Seeblockade« im Mittelmeer zu errichten, um die Überfahrten von Migrant*innen zu unterbinden. Sie ist gescheitert. 2023 erreichten 157 651 Menschen über die Seewege Italien – das Niveau der Jahre um 2015. In der Zwischenzeit sind trotz aller Drohungen und Blockadeversuche immer noch mehr als 20 Rettungsschiffe auf dem Meer unterwegs, um in Seenot geratene Boote zu finden.

Angesichts des Versagens der EU-Migrationspolitik in den vergangenen zehn Jahren werden auch Melonis Reisen nach Tripolis nicht viel ändern. Die Migration über das Mittelmeer wird weitergehen. Auch in absehbarer Zukunft werden die zivilen Seenotretter*innen an Europas tödlichen Grenzen weiter dringend gebraucht.

Seenotrettung: Am Anfang waren Unternehmer - Das erste zivile Rettungsschiff finanzierten Millionäre

von Mathias Monroy

»Helden zur See« betitelte eine deutsche Zeitung das Porträt des Millionärsehepaars Christopher und Regina Catrambone, das am 25. August 2014 das erste zivile Rettungsschiff ins zentrale Mittelmeer schickte. Die beiden hatten während einer Kreuzfahrt eine Schwimmweste im Wasser entdeckt, was sie nach eigenen Angaben zum Nachdenken über die steigende Zahl ertrinkender Geflüchteter brachte. Also gründeten die Catrambones die gemeinnützige Hilfsorganisation Migrant Offshore Aid Station (MOAS), kauften für acht Millionen Dollar die 40 Meter lange »Phoenix« und stachen in See.

Auf dem umgebauten Trawler stationierte die Besatzung zwei Helikopterdrohnen mit Nachtsicht- und Wärmebildkameras. Zwischenzeitlich konnten die Catrambones für die Kombüse Stephan Staats gewinnen, der als »Koch der Superreichen« für teures Geld weltweit mit Millionären auf ihren Yachten unterwegs ist.

MOAS beschreibt die Gründung auf seiner Webseite als Reaktion auf den Schiffbruch vor der italienischen Insel Lampedusa, bei dem im Oktober 2013 mindestens 368 Menschen starben. Italien startete daraufhin die Marinemission »Mare Nostrum«, die in beinahe einem Jahr 150 000 Menschen an Bord nahm. Auf Druck der Europäischen Union stellte die Regierung in Rom »Mare Nostrum« wieder ein, am 1. November 2014 übernahm Frontex mit der wesentlich mickriger ausgestatteten Mission »Triton«. Ihr Ziel war nicht mehr die Rettung von Menschen, ihr Einsatzbereich umfasste auch nur küstennahe italienische Gebiete. Dort wartete die EU-Grenzagentur, wer die Überfahrt lebend überstanden hatte, und nahm von den Asylsuchenden Fingerabdrücke für den Antrag in Italien. Diese Politik setzt Frontex bis heute fort.

Weil bei »Triton« nicht Menschenleben, sondern Migrationsabwehr im Fokus stand, gründeten vier Familien aus Brandenburg ebenfalls 2014 den Verein Sea-Watch und sammelten Geld für ein erstes, gleichnamiges Schiff, das am 20. Juni 2015 erstmals im Einsatz war. Damals wie heute kritisiert der Verein, dass die EU nicht für eine adäquate zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer sorgen will – was deshalb Hilfsorganisationen übernehmen müssen.

Organisationen wie Sea-Watch geht es aber auch um größere Politik. Der Unternehmer Harald Höppner, der den Verein initiiert hatte, betonte schon damals die »multiplen Krisen«, die Menschen in die gefährliche Flucht treiben: Kriege, Klimawandel, Armut, Hunger.

Mit der 70 Meter langen »Sea-Watch 5« hat der Verein dieses Jahr ein weitaus größeres Schiff in Betrieb genommen, betreibt außerdem das 14-Meter-Rettungsboot »Aurora« und konnte zwei Vereine von Pilot*innen dafür gewinnen, seit 2017 mit kleinen Flugzeugen nach Booten mit Geflüchteten zu suchen.

Die von europäischen Organisationen ins zentrale Mittelmeer entsandte zivile Rettungsflotte ist inzwischen auf rund 20 Schiffe angewachsen – die allerdings wegen Werftzeiten, Reparaturen oder Rotationen nicht immer gleichzeitig unterwegs sind. Finanziert werden die beispiellosen Missionen größtenteils durch Spenden.

n Deutschland konnten die Vereine mit politischem Druck 2022 für einen Bundestagsbeschluss sorgen, wonach die Bundesregierung vier Jahre lang jährlich zwei Millionen Euro für die Seenotrettung ausgibt; die Gelder werden verwaltet vom Verein »United 4 Rescue«, der auch Spenden kirchlicher Organisationen erhält.

Früh waren die Aktivist*innen auf See auch Repression ausgesetzt. Anfangs ging diese hauptsächlich von libyschen Milizen aus, die als »Küstenwache« bereits 2016 mit Waffengewalt die Brücke der »Sea-Watch« besetzten. Diese Bedrohungen setzen sich bis heute fort. Seit 2023 macht den Organisationen vor allem ein neues italienisches Gesetz zu schaffen, wonach Schiffe, wenn sie zu viel retten, festgesetzt und die Kapitän*innen mit Geldstrafen belegt werden können.