Zu wenig Flüchtlingsanerkennung trotz Gender-Apartheid in Afghanistan

10.08.2023 Aus den News von Pro Asyl:

Spätestens seit der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 sind Unterdrückung und Gewalt gegen Frauen mit aller Brutalität zurückgekehrt. Zu langsam schlägt sich diese Erkenntnis auch bei der Entscheidungspraxis des BAMF nieder.

Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 sind Frauen- und Menschenrechtler*innen unter den Taliban so bedroht, dass ihnen nur die Wahl zwischen Untertauchen oder lebensgefährlicher Flucht aus dem Land bleibt. Viele leben ohne Perspektive auf unabsehbare Zeit in Verstecken, oft auch mit Kindern. Andere, die es geschafft haben nach Pakistan oder in den Iran zu fliehen, sind dort von Schikanen, willkürlichen Inhaftierungen und Abschiebungen bedroht. PRO ASYL erreichen seit zwei Jahren täglich Hilfegesuche von Menschen aus Afghanistan und den Nachbarländern, die um ihr Leben und das ihrer Kinder bangen.

Weltweit einzigartige Einschränkungen für Frauen und Mädchen

Bereits in den Jahren 1996–2001 wurden Frauen in Afghanistan von den Taliban massiv unterdrückt. Seit August 2021 entrechten die Taliban sie nun erneut in allen erdenklichen Lebensbereichen – und gehen dabei entgegen ihren vorherigen Ankündigungen ähnlich brutal wie in ihrer letzten Schreckensherrschaft vor. Die schrittweisen Fortschritte bei der Stärkung der Frauenrechte unter der Regierung der Islamischen Republik Afghanistans in den vorangegangenen 20 Jahren sind zerstört. Frauen werden fast vollständig Verdrängung aus dem öffentlichen Leben verdrängt, Millionen von Mädchen verlieren ihre Lebensperspektive auf ein selbstbestimmtes Leben.

51 Dekrete haben die Taliban inzwischen zur Entrechtung von Frauen verabschiedet.

Die Liste der Entrechtungen, innerhalb eines Zeitraums von gerade mal zwei Jahren, ist lang: Frauen dürfen nicht reisen, keinen Sport treiben, keine Parks oder öffentliche Bäder besuchen. Ihnen wurden die Möglichkeiten auf Bildung, politische Teilhabe und auf freie Ausübung eines Berufes genommen. Viele sind bedroht von Zwangsehen mit Taliban-Anhängern und von brutalen Strafen für angeblich »unislamisches Verhalten« wie Inhaftierung, sexuelle Misshandlung in Haft und Auspeitschung. In dem neuesten Dekret der Taliban von Anfang Juli 2023 wird die Schließung von Schönheitssalons angekündigt. Das klingt im westlichen Verständnis womöglich eher harmlos, im afghanischen Kontext bedeutet das, dass damit auch die letzten geschützten Orte für Frauen verschwinden. Zudem verlieren schätzungsweise 50.000 Frauen ihre Einkommensquelle – in einem Land, in dem es für Frauen fast keine legalen Verdienstmöglichkeiten mehr gibt.

Unterdrückung soll als »Gender-Apartheid« anerkannt werden

Vom 19. Juni bis 14. Juli 2023 tagte der UN-Menschenrechtsrat zur Situation der Frauen in Afghanistan. Richard Bennett, UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte in Afghanistan, und die von Dorothy Estrada-Tanck geleitete UN-Arbeitsgruppe gegen Frauendiskriminierung legten zu diesem Anlass den Expert*innenbericht »Situation of women and girls in Afghanistan« vor. Darin heißt es, dass es in den vergangenen Jahren »nirgendwo sonst auf der Welt einen so weitreichenden, systematischen und allumfassenden Angriff auf die Rechte von Frauen und Mädchen wie in Afghanistan« gegeben habe [eigene Übersetzung aus dem Engl.]. »Das diskriminierende und restriktive Umfeld, das Klima der Angst und die fehlende Rechenschaftspflicht für die vielfältigen Verstöße […] machen es Frauen und Mädchen unmöglich, ihre Rechte wahrzunehmen, halten alle Personen und Organisationen davon ab, sie zu verteidigen, und ermutigen zu weiteren Verstößen.« Daher schlagen die Expert*innen vor, die systematische Unterdrückung von Mädchen und Frauen als »eine geschlechtsspezifische Verfolgung und einen institutionalisierten Rahmen der Gender-Apartheid« einzustufen.

»Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es einen so weitreichenden, systematischen und allumfassenden Angriff auf die Rechte von Frauen und Mädchen wie in Afghanistan«  Expert*innenbericht der UN-Arbeitsgruppe gegen Frauendiskriminierung

PDF Erklärung von united Voice of Women for Peace

Auch die afghanische Exilgruppe United Voice of Women for Peace begrüßt diesen Vorschlag: »Wir […] begrüßen diesen Schritt des Menschenrechtsrates und fordern den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) auf, Druck auf die Taliban auszuüben und sie zur Rechenschaft zu ziehen.« (Statement vom 8. August 2023 hier in Deutsch und hier in Dari).

Der Begriff »Gender-Apartheid« wurde schon zur ersten Taliban-Herrschaft Mitte der 1990er Jahre von Menschenrechtsaktivist*innen in bewusster Anlehnung an die systematische Unterdrückung von Schwarzen im früheren Südafrika eingeführt. Der Begriff selbst ist im internationalen Recht zwar nicht als Verbrechen definiert, aber gemäß Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe h des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs wird die »Verfolgung aus Gründen des Geschlechts« als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« eingestuft. Würde die Unterdrückung von Frauen in Afghanistan als ebendieses anerkannt werden, würde das die internationale Gemeinschaft zum Handeln verpflichten und rechtliche Instrumente gegen das Regime ermöglichen. Es wäre dann leichter, den Internationalen Straf- und den Internationalen Gerichtshof sowie die universelle Gerichtsbarkeit anzurufen und weitere Menschenrechtsmechanismen anzuwenden.

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»Gerade herrscht in Afghanistan Gender-Apartheid, das kann doch im Jahr 2023 nicht wahr sein!«

In der Tagung baten die Expert*innen bei der Vorstellung des Berichts die 47 Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrates, entsprechende Untersuchungen durchzuführen. Viele Staaten begrüßten diesen Ansatz. Auch wurde der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) gebeten, zu prüfen, ob die geschlechtsspezifische Verfolgung der Taliban als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden und damit vor den IStGH gebracht werden kann. Der IstGH hatte bereits im Oktober 2022 seine Ermittlungen zu Menschenrechtsverbrechen in Afghanistan seit 2003 wieder aufgenommen (nicht nur zu Verbrechen der Taliban, sondern auch zu Verbrechen der US-Truppen und der damaligen afghanischen Armee).

Afghanische Frauen müssen als Flüchtlinge anerkannt werden

Für Afghaninnen, die in die Europäische Union fliehen, sind für die Bewertung ihrer Asylanträge aus rechtlicher Perspektive zwei Fragen bedeutsam: Zum einen, ob die in Afghanistan erlebten (oder drohenden) Diskriminierungen und Rechtseinschränkungen zusammen genommen vom Schweregrad her als Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) gelten können. Solch eine »kumulative Diskriminierung« ist in Art. 9 Absatz 1 Buchstabe b der EU-Qualifikationsrichtlinie – umgesetzt in § 3a Abs. 1 Nr. 2 des Asylgesetzes – vorgesehen. Zum anderen, ob ein Verfolgungsgrund im Sinne der Flüchtlingsdefinition wegen »Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe« vorliegt. Hierzu ist im Asylgesetz (AsylG) explizit ausgeführt: »Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft« (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Beide rechtlichen Ansätze lassen sich eindeutig auf die Situation für Mädchen und Frauen in Afghanistan anwenden.

Ende Januar 2023 empfahl die Europäische Asylagentur (EUAA) europäischen Staaten, schutzsuchenden Frauen und Mädchen aus Afghanistan aufgrund der Verfolgung durch die Taliban grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft anzuerkennen. Die Empfehlungen der EUAA sind zwar nicht verbindlich, stellen aber ein starkes Signal an die Mitgliedstaaten dar, ihre nationale Asylentscheidungspraxis anzupassen. Die schwedische Asylbehörde erkennt bereits seit Dezember 2022 Frauen und Mädchen aus Afghanistan die Flüchtlingseigenschaft zu, Dänemark seit dem 30. Januar 2023, die Schweiz seit dem 10. Juli 2023.

Nur 33 % schutzsuchender Frauen und Mädchen aus Afghanistan erhielten im ersten Halbjahr 2022 in deutschen Asylverfahren die Flüchtlingseigenschaft.

Wie sieht es in Deutschland aus? 

In einem PRO ASYL vorliegenden Schriftsatz des zuständigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an das Verwaltungsgericht Berlin von Dezember 2022 hieß es noch: Die afghanische Klägerin habe »,nur´ die allgemeinen Einschränkungen, denen Frauen und Mädchen in Afghanistan unterliegen und die generell frauen- und bildungsfeindliche Einstellung der Taliban geschildert. Diese Schilderungen sind – für sich allein betrachtet – nicht ausreichend für eine Schutzgewährung«.

Diese realitätsferne Einschätzung schlug sich auch in den Anerkennungszahlen nieder. Nur 33 Prozent schutzsuchender Frauen und Mädchen aus Afghanistan erhielten im ersten Halbjahr 2022 in deutschen Asylverfahren die Flüchtlingseigenschaft. Sechs Prozent erhielten den geringeren subsidiären Schutz und 60 Prozent lediglich ein Abschiebungsverbot.

Erst seit diesem Jahr setzt offenbar beim BAMF eine Änderung der Asylentscheidungspraxis bei afghanischen Frauen und Mädchen ein. Im ersten Halbjahr dieses Jahres erhielten 3.878 Afghaninnen den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention und 142 Afghaninnen Asyl nach dem Grundgesetz. 272 Antragstellerinnen wurde der untergeordnete subsidiäre Schutz gewährt, bei 1.828 Afghaninnen wurde ein Abschiebungsverbot festgestellt. (Zudem wurden  13 Anträge abgelehnt und es gab 1.176 »sonstige Verfahrenserledigungen«). Damit erhielten 66 Prozent aller Antragstellerinnen einen Flüchtlingsstatus.

Die Entwicklung ist zu begrüßen, aber dennoch erhalten auch jetzt noch ungefähr ein Drittel aller afghanischen Asylbewerberinnen nur das Abschiebungsverbot. Das schützt sie zwar vor einer Abschiebung, aber verwehrt ihnen grundlegende Rechte, wie etwa einen leichteren Zugang zu Bildung und Arbeit oder das volle Recht auf Familiennachzug.

(aa, fw)