26.03.2025 Pro Asyl beschäftigt sich in den News mit einem unauffälligen kurzen Satz im Sonderungsplatz, der große Auswirkungen hat: "eine starke Abschwächung von Verfahrensgarantien für geflüchtete Personen".
Die Fairness von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren ist zentral für den Rechtsstaat. Wenn die künftige Regierung den Amtsermittlungsgrundsatz im Asylrecht durch den Beibringungsgrundsatz ersetzt, steht sie nicht nur verfassungsrechtlich auf dünnem Eis. Sie würde damit auch für einen neuen Tiefpunkt der deutschen Rechtsstaatlichkeit sorgen.
Im Sondierungspapier der CDU/CSU und SPD findet sich der unauffällige Satz: »Aus dem ‚Amtsermittlungsgrundsatz‘ muss im Asylrecht der ‚Beibringungsgrundsatz‘ werden.« Dieser Satz birgt allerdings eine starke Abschwächung von Verfahrensgarantien für geflüchtete Personen. Unterschiede in den Verfahrensgarantien im Asylverfahren sorgen schon jetzt dafür, dass diese vulnerable Gruppe vor Gericht deutlich schlechter gestellt ist als viele andere Kläger*innen.
Ein FragdenStaat vorliegender erster Entwurf eines Koalitionspapiers der Arbeitsgruppe Innen, Recht, Migration und Integration zeigt, dass am Montag noch keine Einigung zu dem Thema zwischen den Koalitionsparteien erzielt werden konnte. Während die CDU weiterhin die Abschaffung des Amtsermittlungsgrundsatz fordert, will die SPD sich »unter Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes künftig stärker auf den vorgebrachten Parteivortrag und auf eine Rechtsmäßigkeitsprüfung konzentrieren«.
Kern der deutschen Demokratie und des damit einhergehenden Rechtsstaatsprinzips ist es, dass die Staatsgewalten sich gegenseitig kontrollieren. Deshalb ist es unabdinglich, dass die Gerichte kontrollieren, ob die Verwaltung sich an Recht und Gesetz hält.
»Aus dem ‚Amtsermittlungsgrundsatz‘ muss im Asylrecht der ‚Beibringungsgrundsatz‘ werden.« (Erster Entwurf eines Koalitionspapiers von Union & SPD)
Eine solche Kontrolle und der damit einhergehende Schutz vor falschen Entscheidungen kann nur dann erreicht werden, wenn für jede Person der gleiche Zugang zur gerichtlichen Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung besteht und die Verwaltung den Sachverhalt für jede Person gleich klärt.
Amtsermittlungsgrundsatz vs. Beibringungsgrundsatz
Das Ergebnis der Sondierungen bzw. die Forderung der CDU, im Asylrecht den Amtsermittlungs- durch den Beibringungsgrundsatz zu ersetzen, lässt viel Interpretationsspielraum. Es ist zum Beispiel noch unklar, ob damit nur Asylverfahren beim BAMF oder auch das Klageverfahren vor den Verwaltungsgerichten (siehe hierzu auch den Beitrag im Verfassungsblog) gemeint ist. Beide Verfahren beinhalten vor allem die Ermittlung der persönlichen Verfolgungsgeschichte der Geflüchteten sowie der Umstände im Herkunftsland. Auch der Vorschlag der SPD im Entwurf des Koalitionsvertrags lässt offen, welche verfahrensrechtlichen Änderungen sich diese genau vorstellen.
Im Verwaltungsrecht gilt bislang der Amtsermittlungsgrundsatz, während im Zivilrecht der Beibringungsgrundsatz Standard ist. Der Unterschied ist, dass im Zivilrecht zwei Privatpersonen streiten, die grundsätzlich dieselben Möglichkeiten zur Verfügung haben. Im Verwaltungsrecht steht aber der Bürger dem Staat gegenüber, der über mehr Macht, Wissen und Ressourcen verfügt.
Im Verwaltungsrecht gilt bislang der Amtsermittlungsgrundsatz, während im Zivilrecht der Beibringungsgrundsatz Standard ist. Der Unterschied ist, dass im Zivilrecht zwei Privatpersonen streiten, die grundsätzlich dieselben Möglichkeiten zur Verfügung haben. Im Verwaltungsrecht steht aber der Bürger dem Staat gegenüber, der über mehr Macht, Wissen und Ressourcen verfügt. Deshalb braucht es andere Verfahrensgarantien, um eine Waffengleichheit zwischen den Parteien zu gewährleisten. Diese Gemeinwohlaufgabe des Staates zeigt sich auch in der Sachverhaltsermittlung, da der Staat ganz andere Ressourcen zur Verfügung hat einen Sachverhalt aufzuklären als eine Privatperson. Aus diesem Grund liegt die Pflicht, den Sachverhalt richtig zu ermitteln, bei den Sachbearbeiter*innen im BAMF und den Richter*innen.
Sowohl das Anerkennungsverfahren vor dem BAMF als auch das verwaltungsgerichtliche Verfahren unterliegen derzeit dem Amtsermittlungsgrundsatz. § 24 des Asylgesetzes stellt dies explizit für das BAMF klar. Für die Gerichtsbarkeit ergibt sich dies aus § 86 der Verwaltungsgerichtsordnung, die – sofern kein abweichendes Sonderrecht statuiert wird – auch für das verwaltungsgerichliche Asylverfahren gilt. Das bedeutet, dass das Gericht und die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen aufklären müssen – also auch über das hinaus, was von der asylsuchenden Person selbst vorgetragen wird. Im Gegensatz dazu steht der Beibringungsgrundsatz, bei dem das Gericht die Entscheidung nur auf Tatsachen stützt, die die Beteiligten selbst vorbringen.
Für die persönliche Verfolgungsgeschichte können vom Amt und den Gerichten hauptsächlich nur die Asylsuchenden selbst als Beweismittel herangezogen werden. Deshalb unterliegen Asylsuchende schon jetzt umfassenden Mitwirkungspflichten. Dies führt dazu, dass der Ausgang des Asylverfahrens maßgeblich von den Fähigkeiten der Asylsuchenden abhängt, ihre Situation darzustellen.
Umfassende Informationen zum Herkunftsland sind nötig
Derzeit ermitteln sowohl das BAMF als auch die Gerichte selbst zur Situation im Herkunftsland der Asylsuchenden. Hierzu stehen ihnen umfangreiche Listen an Erkenntnismitteln zur Verfügung, und manche Gerichte teilen ihre Zuständigkeit nach Ländern auf, sodass Richter*innen Expert*in für einzelne Länder werden.
Diese Darlegungslast droht nun jedoch den Asylsuchenden selbst auferlegt zu werden. Sie müssten dann die politischen, sozialen und technischen Zusammenhänge im Herkunftsland eigenständig darlegen.
Migrationsrechtler Dr. Maximilian Pichl, (Hochschule RheinMain) warnte in der Frankfurter Rundschau vor den Folgen der Verschiebung dieser Beweislast – etwa im Falle einer schweren Erkrankung: Ein schwerkranker Mann, der in den Irak abgeschoben werden soll, müsste vollständig selbst nachweisen, ob die Krankheit im Irak behandelt werden könne. Selbst wenn Richterinnen und Richter aus zurückliegenden Verfahren wüssten, dass diese Krankheit im Irak wohl nicht behandelt werden könne, dürften sie dieses Wissen nach dem Wunsch von Union und SPD nicht mehr einbringen. Auf diese Weise verordnet man der Justiz von oben kontrafaktische Unkenntnis.
Damit Asylentscheidungen auf realen Bedingungen im Herkunftsland basieren und nicht auf den individuellen Darlegungsmöglichkeiten von Asylsuchenden, muss der Amtsermittlungsgrundsatz erhalten bleiben. Das BAMF und die Gerichte müssen weiterhin in der Pflicht stehen, die tatsächliche Lage in einem Land zu ermitteln, statt Asylsuchenden – teils durch teure Gutachten – Nachweise aufzubürden.
Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes erfordert Amtsermittlungsgrundsatz
Verschiedene verfassungsrechtliche Prinzipien widersprechen der Einführung eines Beibringungsgrundsatzes im Asylrecht:
- 20 Abs. 3 Grundgesetz: Vorrangwirkung und Vorbehalt des Gesetzes, faires Verfahren
Dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Absatz 3 Grundgesetz liegt zugrunde, dass die Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden ist und Eingriffe in diese Rechte vom Gericht kontrolliert werden können. Jedem Eingriff des Staates in die Rechte einer Person muss ein verfassungsmäßiges Gesetz zugrunde liegen. Beruhen Gerichtsentscheidungen auf unvollständigen oder falschen Tatsachen kann das dazu führen, dass auch die rechtliche Bewertung selbst falsch ist und nicht mit dem Gesetz übereinstimmt. Dies würde eine Vielzahl von Fehlurteilen zur Folge haben – mit teils dramatischen Folgen für die Betroffenen.
Ein faires Verfahren erfordert zudem, einheitliche und verlässliche Verfahrensgrundsätze. Dazu zählt, dass Sachverhalte innerhalb eines Verfahrens vollständig, richtig und unparteilich ermittelt werden müssen – besonders dann, wenn Behörden hoheitlich tätig werden.
- 19 Abs. 4 Grundgesetz, Rechtsschutzgarantie
Ein Beibringungsgrundsatz würde den Zugang zum Recht von persönlichen Fähigkeiten und finanziellen Mitteln von Schutzsuchenden abhängig machen. Das Verwaltungsverfahren würde so zum Recht des Stärkeren – in dem Fall dem Staat –, ausarten. Dies konterkariert gerade die Waffengleichheit, die in Art. 19 Absatz 4 Grundgesetz verfassungsrechtlich garantiert ist.
Dabei meint Waffengleichheit eine verfahrensrechtliche Chancengleichheit. Da sich hier die Einzelperson gegenüber dem Staat wehrt, braucht es den Amtsermittlungsgrundsatz, um eine faire Ausgangslage zu gewährleisten. Die Behörde verfügt über dieselben Informationsbefugnisse wie das Gericht, sodass nur durch die Ermittlung durch das Gericht echte Waffengleichheit zwischen Behörde und Einzelperson gewährleistet werden kann.
Das Bundesverfassungsgericht (Rn. 21) hat bereits 1993 entschieden, dass Verfahrensordnungen nicht nur den Zugang zum Recht garantieren müssen, sondern auch dessen Effektivität. Einschränkungen dürfen Rechtssuchende nicht unverhältnismäßig belasten.
- 3 Abs. 1 Grundgesetz, Grundsatz der Gleichmäßigkeit des Verwaltungshandeln
In diesem Zusammenhang spielt der Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Absatz 1 Grundgesetz eine entscheidende Rolle. Die Gleichheit vor dem Gesetz kann nur garantiert werden, wenn die Sachverhaltsermittlung für alle Personen vor dem Verwaltungsgericht oder dem BAMF gleich ist. Eine geflüchtete Person, die noch Deutsch lernt und sich ihre Existenz gerade erst aufbaut, sollte dieselben Chancen vor dem Verwaltungsgericht haben wie eine Person, der der Mülltonnenbeschluss vorliegt und die über gute Sprachkenntnisse und finanzielle Mittel verfügt.
Das betont auch Prof. Dr. Winfried Kluth, Professor für Öffentliches Recht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in seinem Beitrag im Verfassungsblog:
»Die Amtsermittlung ist ein Schlüsselinstrument zur Sicherung der Gesetzmäßigkeit und Gleichmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Gerade im Asylrecht ist es entscheidend, dass der Zugang zum Recht nicht von persönlichen Fähigkeiten und Mitteln abhängig gemacht wird.«
EU-Recht sieht Amtsermittlungsgrundsatz für das BAMF vor
Nach Art. 10 Abs. 3 lit. b Asylverfahrensrichtlinie muss das BAMF Informationen über die Herkunftsländer von Amts wegen sammeln und auswerten. Die Asylbehörde des Mitgliedstaats muss genaue und aktuelle Informationen aus verschiedenen Quellen über die allgemeine Lage in den Herkunftsstaaten der Asylsuchenden sammeln und diese den Entscheider*innen zur Verfügung zu stellen.
Auch in der ab Juni 2026 geltenden Asylverfahrensverordnung ist diese Pflicht vorgesehen (Art. 34 Abs. 2 lit. b). Diese wird – im Gegensatz zu der Richtlinie – direkt in Deutschland anwendbar sein und kann nicht nationalrechtlich umgangen werden. Zumindest in Bezug auf die Herkunftsstaatsinformationen schreibt das EU-Recht den Amtsermittlungsgrundsatz also vor. Sowohl die Asylverfahrensrichtlinie als auch die Asylverfahrensverordnung normieren außerdem, dass Rechtsschutz effektiv sein muss.
Zudem hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) im Juni 2024 entschieden, dass es gegen Art. 4 Qualifikationsrichtlinie verstößt, die Beweislast vollständig auf schutzsuchende Personen abzuwälzen. Behörden haben – anders als Asylsuchende – umfangreicheren Zugang zu Quellen und Beweismitteln. So kann das BAMF beispielsweise zur Situation im Herkunftsstaat die dortige deutsche Botschaft um Auskunft bitten.
Faire Asylverfahren schützen: Keine Einführung des Beibringungsgrundsatzes im Asylrecht!
Um das Rechtsstaatsprinzip und die Rechtsschutzgarantie Deutschlands zu schützen, fordert PRO ASYL die zukünftige Regierung auf, die Verfahrensgarantien im Asylrecht nicht weiter zu beschneiden. Stattdessen müssten die schon bestehenden Einschränkungen aufgehoben werden.
Ein glaubwürdiger Rechtsstaat darf keine Menschen zweiter Klasse schaffen.
Es widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien, Verfahrensrechte einzuschränken, um Verfahren zu beschleunigen. Stattdessen müssen die Kapazitäten in den Behörden und an den Gerichten ausgebaut werden. Eine schlechtere Sachverhaltsaufklärung durch das BAMF würde zudem voraussichtlich zu mehr Klagen führen, so dass es fraglich ist, ob die Änderung Gerichte tatsächlich entlasten würde.
Es widerspricht rechtsstaatlichen Prinzipien, Verfahrensrechte einzuschränken, um Verfahren zu beschleunigen. Stattdessen müssen die Kapazitäten in den Behörden und an den Gerichten ausgebaut werden.
Um Waffengleichheit zu gewährleisten und gesellschaftlich akzeptierte gerechte Asylentscheidungen zu ermöglichen, darf der Staat sein Machtmonopol nicht ausnutzen und muss allen Menschen in Deutschland ein faires und zugängliches Verfahren bereitstellen. Daher muss der Staat sichergehen, dass Asylentscheidung auf einem vollständig ermittelten Sachverhalt aufbauen.